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Warkus‘ Welt: Die Philosophie des Bullshits

Wer wissentlich etwas Falsches behauptet, lügt. Aber was, wenn einem die Wahrheit schlicht egal ist? Der US-Philosoph Harry Frankfurt prägte für solche Aussagen einen populären Begriff, der ihm Anfang des 21. Jahrhunderts etwas für philosophische Essays eher Unübliches bescherte: einen Bestseller. Eine Kolumne.
Seitenansicht eines braunen Bullen, der auf eine Wiese kotet. Im Hintergrund sieht man eine Stadt.
Der Begriff »Bullshit« hat sich für Aussagen etabliert, bei denen es den Sprechern nicht auf die Kenntnis oder die Verbreitung der Wahrheit ankommt.
Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Die Frage, was gesichertes Wissen und bloße Meinung voneinander unterscheidet, ist eine der ältesten der Philosophie. Klassischerweise geht man davon aus, dass Wahrheit und Begründetheit eine Rolle spielen: Ich weiß etwas, wenn ich davon überzeugt bin, es begründen kann und es zudem wahr ist. Wenn ich gegenüber anderen eine Behauptung mache, dann erhebe ich damit den Anspruch, dass sie wahr ist. Ist das nicht der Fall, habe ich mich geirrt. Oder ich tue nur so, als würde ich die Wahrheit sagen: Behaupte ich etwas, obwohl ich begründet davon überzeugt bin, dass es nicht stimmt, habe ich gelogen. Diese Unterscheidung zwischen die Wahrheit sagen, sich irren und lügen funktioniert natürlich bloß bei Äußerungen, die Behauptungen aufstellen – also nicht bei Aufforderungen oder Fragen. Und außerdem nur dann, wenn sich diese Behauptungen überhaupt auf ihren Wahrheitsgehalt hin beurteilen lassen, also wahrheitsfähig sind.

In allen Fällen muss der Sprechende außerdem überhaupt an der Wahrheit interessiert sein. Wer die Wahrheit bewusst und absichtlich sagen will, muss sie kennen; wer sich irrt, muss zumindest überzeugt sein, die Wahrheit zu sagen; wer lügt, weiß, dass die Wahrheit dem, was er sagt, widerspricht. Was ist nun aber, wenn jemand spricht, dem die Wahrheit einfach egal ist?

Der 2023 verstorbene amerikanische Philosoph Harry Frankfurt hat in einem Aufsatz aus dem Jahr 1986 den etwas unfeinen Ausdruck »bullshit« für Äußerungen mit diesem Hintergrund etabliert. Wer Bullshit redet, verfolgt eine bestimmte Absicht, zum Beispiel, jemanden zu überreden, in seinem Sinn zu handeln, eine bestimmte Stimmung zu erzeugen, kompetent zu erscheinen oder auch einfach nur, an einer Diskussion teilzunehmen. Kenntnis und Verbreitung der Wahrheit spielen dabei jedoch keine Rolle.

Von Bullshit und gefühlten Wahrheiten

Bullshit ist sicherlich so alt wie die Menschheit, aber wahrscheinlich werden Sie bei dieser Aufzählung von Gründen dafür, Bullshit zu reden, an Phänomene der jüngeren Geschichte gedacht haben. Harry Frankfurts ursprünglicher Aufsatz »On Bullshit« wurde 2005 als Büchlein neu veröffentlicht und ein riesiger Verkaufsschlager, was für eine Abhandlung aus der analytischen Philosophie doch eher ungewöhnlich ist. Das hing, ganz knapp gesagt, mit der Regierung von George W. Bush zusammen, deren Verhältnis zur Wahrheit als locker bis willkürlich galt und von der aus dem Jahr 2004 unter anderem der Ausspruch überliefert ist, man sehe sich nicht mehr als an die Realität gebunden, weil man kurzerhand eigene Realitäten erschaffe. Das Buch traf einen Zeitgeist: Im selben Jahr prägte der US-Kabarettist Stephen Colbert den satirischen Ausdruck »truthiness« für das, was im Deutschen in etwa dem Begriff der »gefühlten Wahrheit« entspricht.

An Bullshit im Sinne von Harry Frankfurt erinnern natürlich nicht nur die Worte diverser ehemaliger US-Präsidenten oder auch deutscher Spitzenpolitiker, sondern vor allem auch die Inhalte in Online-Medien. Eine Hauptmotivation zum Bullshit-Reden, die Frankfurts Aufsatz nennt, ist das Bedürfnis, sich an Diskussionen unabhängig von Kenntnis beteiligen zu wollen. In Internet-Kommentarspalten – vor allem unter der Berichterstattung zu Themen, bei denen Technik, Wissenschaft und Politik sich berühren, wie bei größeren Infrastruktur-Bauprojekten – ist dies meines Erachtens hervorragend zu sehen.

Ich bin mir nicht sicher, ob Harry Frankfurts Bedenken berechtigt sind, die Verbreitung von Bullshit könnte allgemein das Interesse an der Wahrheit schmälern. Doch ein Problem ist sicherlich, dass es die kommunikativen Rahmenbedingungen heutzutage ermöglichen, dass sich Bullshit in ungeheuren Mengen verbreitet, selbst wenn gar nicht so viele an seiner Erzeugung teilnehmen. Zudem haben sich durch kollaborative Medien wie soziale Netzwerke und Webforen neue Möglichkeiten ergeben, Bullshit in der Gemeinschaft zu produzieren, beispielsweise beim kollektiven Weiterspinnen von Verschwörungstheorien in der Reichsbürger-Szene oder bei der QAnon-Bewegung.

Die Trennwand zwischen Wirklichkeit und Fiktion ist nicht dünner geworden. Aber die Lautstärke und die Möglichkeiten derjenigen, denen der Lustgewinn oder das Gemeinschaftsgefühl beim Äußern von gefährlichem Unsinn wichtiger ist als die Tatsache, dass es sich dabei um Unsinn handelt, haben sicherlich zugenommen.

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