Warkus’ Welt: Was ist Kultur?
Neulich waren wir zu Besuch bei Freunden in Saarbrücken und besichtigten dort die Völklinger Hütte, ein stillgelegtes Hochofenwerk, das zum UNESCO-Welterbe gehört. Außerdem tranken wir an einem historischen Pavillon nahe dem Saarufer ein frisch gezapftes Bier und gingen in einem Restaurant essen, das traditionell saarländische, aber auch französische Küche anbietet.
Was haben diese Tätigkeiten gemeinsam? Wer die Gegend ein bisschen kennt, weiß: Sie haben allesamt einen kulturellen Bezug. Eine bestimmte gutbürgerliche Küche, das besondere Verhältnis zum nahen Frankreich und die Geschichte als Region von Bergbau und Schwerindustrie machen das Saarland kulturell aus. Die Sache mit dem Bier am Pavillon ist eine lokale Spezialität von Saarbrücken, jedoch ebenfalls kulturell verankert. Bemerkenswert ist dabei, dass all diese Dinge die Gebiete, die sonst stark mit dem Begriff »Kultur« assoziiert werden, weitgehend auslassen, nämlich Kunst und religiöse Traditionen. Wörter wie »Industriekultur«, »Alltagskultur«, »Esskultur« dienen dazu, verschiedene Felder außerhalb der »Hochkultur« zu kennzeichnen.
Was also ist Kultur überhaupt? Leider ist so ziemlich das Einzige, worauf sich in der Wissenschaft alle einigen können, die Feststellung, dass das Wort komplex und mehrdeutig ist. Die kanadische Ethikprofessorin Patti Tamara Lenard arbeitet in ihrem Lexikonartikel zum Thema immerhin heraus, dass Kultur stets etwas ist, was für Menschen einen Wert hat, etwas, was jemand erhalten und verteidigen möchte. Doch damit ist noch nicht geklärt, was dieses Etwas ist und woraus es genau gemacht ist.
Eine brauchbare Antwort wäre, dass Kultur aus von Menschen geteilten Sinnzusammenhängen besteht, die bestimmten Phänomenen eine Bedeutung zuweisen. Dabei stehen Gegenstände, Handlungen und Überzeugungen in Wechselwirkung miteinander. Ein Beispiel: Ich komme aus einer ländlichen Gegend ohne große Industriegeschichte, und auch in meiner Familie gibt es kaum Bezug zur Schwerindustrie. Ein historisches Eisenwerk betrachte ich, salopp gesagt, ein bisschen so wie eine Skisprungschanze oder einen buddhistischen Tempel: ein beeindruckendes Bauwerk, dessen Aufbau und Funktion ich mit ein bisschen Hintergrundwissen und Nachschlagen gut nachvollziehen kann. Aber ich habe keine persönliche Bindung dazu.
Für jemanden, der aus einem Industrierevier kommt, dessen Großväter am Hochofen gearbeitet haben, der vielleicht in einer Werkssiedlung aufgewachsen ist, hat das Industriedenkmal hingegen eine andere, gegebenenfalls handlungsleitende Bedeutung: So zeigt man es vielleicht Kindern und Enkelkindern, weil es die Familiengeschichte illustriert. Womöglich gibt es sogar Geschichten, die immer wieder erzählt werden, wenn man die Anlagen sieht (»Wisst ihr noch, wie Opa …«). Oder es gibt bestimmte Normenvorstellungen, die mit der Industriekultur assoziiert und durch entsprechende Erzählungen begründet werden, etwa wenn man beansprucht, besonderen Wert auf Solidarität und Kameradschaft zu legen, wie sie früher bei der gefährlichen Arbeit existenziell wichtig war. Zudem entstehen Organisationen und Institutionen, die versuchen, die kulturellen Zusammenhänge zu erhalten oder zu beeinflussen – etwa Vereine, die ein Industriedenkmal pflegen oder Erinnerungen an das Arbeitsleben dort aufzeichnen.
Definiert man nun, dass jemand einer Kultur angehört, wenn er eine hinreichende Menge der Sinnzusammenhänge, die sie ausmachen, kennt, ihnen Bedeutung zumisst und sich durch sie im Handeln beeinflussen lässt, dann ist es offensichtlich möglich, mehreren Kulturen gleichzeitig anzugehören. Man kann zugleich Katholik, Saarländer und Kleingärtner sein. Manchmal entstehen allerdings auch Konflikte: Gleichzeitig Proletarier und Akademiker sein ist schwierig
Dass nicht alle kulturellen Prägungen miteinander vereinbar sind, führt zu der Frage, ob es auf irgendeiner Ebene kulturelle Einheiten gibt, die sich notwendigerweise voneinander abgrenzen und einander nicht beliebig überlappen können. Brauchen diese Einheiten einen besonderen politischen Schutz, was verleiht ihnen Dauer, und in welcher Beziehung sollten sie zu Gesellschaften und Staaten stehen?
Die philosophischen Antwortvorschläge auf diese Fragen sind radikal unterschiedlich. Manche gehen so weit, dass es bestimmte essenzielle Eigenschaften gibt, die alle Angehörigen einer Kultur teilen müssen, während andere diese Vorstellung vollständig ablehnen. Schwierig wird ein solcher »Essenzialismus«, wenn man davon ausgeht, dass man sich die entsprechenden Eigenschaften nicht frei und selbstbestimmt aneignen kann, sondern zum Beispiel nur dadurch, dass man in einer bestimmten Umgebung aufwächst. Überlegungen zu Schutz und Pflege von Kulturen können so schnell biologistische Züge annehmen, weil Kultur dann indirekt zu einer Frage der Fortpflanzung wird.
Umgekehrt haben sich viele Anhänger rassistischen oder sonst wie völkischen Denkens in den vergangenen Jahrzehnten darauf verlegt, nicht mehr offen von Rassen und Völkern zu reden, sondern nur noch von »Kulturen«. Unter diesem Deckmantel wird jedoch nach wie vor die Vorstellung vertreten, dass es vererbliche Unterschiede im Wert verschiedener Menschengruppen gäbe und dass es deswegen wichtig wäre, dass diese sich untereinander nicht vermischen. Vielen erscheint daher jeder Bezug auf »Kulturen« im Plural ganz allgemein suspekt. Noch schwieriger wird es, wenn der Begriff der Identität ins Spiel kommt. Aber darum soll es ein andermal gehen.
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