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Warkus' Welt: Wenns weh tut

Unser Kolumnist klagt seit einiger Zeit hin und wieder über Zahnschmerzen. Doch was genau ist eigentlich Schmerz? Philosophisch betrachtet hat er eine doppelte Natur.
Behandlung beim Zahnarzt

An einem meiner Zähne ist neulich ein nadelspitzengroßes Stückchen abgesplittert und hat eine empfindliche Stelle zurückgelassen. Meine (sehr gute) Zahnärztin meinte, das würde sich voraussichtlich ohne Behandlung wieder von selbst geben. Seitdem passiert mir hin und wieder etwas, was Sie sicher auch kennen: Wenn ich genügend Pech habe und genau mit der betroffenen Stelle zum Beispiel auf ein Salzkorn beiße, krümme ich mich mit einem erstaunlich heftigen Zahnschmerz zusammen, der aber glücklicherweise nach einiger Zeit wieder aufhört. Durchaus ein Anlass, darüber nachzudenken, was philosophisch interessant an Schmerzen ist.

Ich kann über meinen Zahnschmerz präzise sagen, wo er sich befindet, und sogar ungefähr angeben, welche Ausdehnung er hat. Das ist zwar nicht bei jedem Schmerz so, doch zumindest grob lässt er sich in der Regel lokalisieren. Ich kann darüber hinaus davon sprechen, dass der Schmerz sich ab und zu meldet, so wie ein und dieselbe Glühbirne ab und zu aufleuchtet – es ist immer derselbe Schmerz, den ich empfinde, nur mit Pausen. Mit hinreichendem medizinisch-biologischem Wissen könnte man vermutlich auch ziemlich genau beschreiben, welche Rezeptoren, Neurone und Hirnareale beteiligt sind, wenn mein Zahn mir wieder Schwierigkeiten bereitet.

Natürlich ist mein Schmerz aber kein reales Objekt, das in meinem Zahn steckt. Er ist »nur« eine Empfindung. Wenn ich aufhöre, ihn zu empfinden, ist er nicht nur an einem anderen Ort, sondern ganz weg, und vor allem kann man ihn mir nicht streitig machen: Wenn mir etwas weh tut und ich nicht lüge, kann man mir vielleicht vorwerfen, dass ich mein Leid übertreibe, aber nicht, ich würde mich irren oder mir alles bloß ausdenken. Der Satz »In Wirklichkeit tut dir der Zahn gar nicht weh« wäre absurd. Selbst wenn meine Zahnärztin feststellen könnte, dass die Rezeptoren und Neurone nicht das tun, was sie normalerweise tun sollten, wenn ich Schmerzen in diesem Zahn habe: Wenn es weh tut, dann tut es eben weh.

Schmerz und Leid spielen auch in der Philosophie eine große Rolle

Schmerzen haben also eine doppelte Natur: Sie haben zugleich Eigenschaften rein subjektiver Geisteszustände und objektiver Gegenstände. Da sich die Philosophie traditionell – und seit dem 20. Jahrhundert mehr als je zuvor – sehr dafür interessiert, was Geisteszustände sind, und dafür, was objektive Gegenstände sind sowieso, wundert es nicht, dass schon viel über Schmerz philosophiert wurde. Hinzu kommt, dass viele ethische Überlegungen sich um Schmerz und Leid beziehungsweise seine Vermeidung drehen.

Es gibt eine ganze Reihe von konkurrierenden philosophischen Theorieansätzen zur Beschreibung von Schmerz. Man kann ihn als etwas begreifen, was eine tatsächliche, drohende oder scheinbare Gewebeschädigung repräsentiert. Man kann ihn als Sinneswahrnehmung wie jede andere sehen. Man kann ihn allerdings auch als ein komplexes kognitives und affektives Geschehen betrachten, bei dem Wahrnehmungen involviert, aber eben nicht alles sind. All diese unterschiedlichen Ansätze haben dabei verschiedene Prämissen und Folgen, was die Theorie geistiger Phänomene überhaupt betrifft.

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Die International Association for the Study of Pain (IASP), eine medizinisch-interdisziplinäre Fachgesellschaft, definiert Schmerz interessanterweise als »eine unangenehme Sinnes- und Gefühlserfahrung, die mit echter oder potenzieller Gewebeschädigung verbunden ist oder dem ähnelt, was damit verbunden ist«. Damit bringt sie alle Aspekte großzügig unter einen Hut. Was man auf jeden Fall festhalten kann und was auch die IASP in einer der anschließenden Erläuterungen zur Definition deutlich macht: Schmerz ist eben nicht einfach identisch mit der Reizung irgendwelcher Nervenfasern, selbst wenn in der Philosophie über Jahrzehnte die schon medizinisch nicht ganz richtige Vorstellung herumgereicht wurde, jeder Schmerz ginge mit Aktivität von C-Fasern einher.

Der Schmerzbegriff ist neben dem Krankheitsbegriff eines der Paradebeispiele für die Verflechtungen von Medizin und Philosophie und eignet sich daher hervorragend als Einstieg in das Nachdenken über Fragen des wissenschaftlichen Blicks auf den Menschen überhaupt. Immerhin etwas, wofür mein Zahnweh dann womöglich gut war.

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