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Warkus' Welt: Wenn »die Wissenschaft« zum Handeln auffordert

Dass Forscherinnen und Forscher sich alle einig sind, ist eher die Ausnahme als die Regel. Wir sollten uns deshalb hüten, von »der Wissenschaft« als Ganzes zu reden, sagt unser Kolumnist Matthias Warkus.
Reagenzgläser

Die Spatzen pfeifen es von den Dächern: Die Wissenschaft fordert härtere Maßnahmen, um die dritte Covid-Welle besser zu bekämpfen, solange die Bevölkerung noch nicht umfassend geimpft ist. Die Politik stellt sich dagegen und hofft in weiten Teilen (und voraussichtlich vergebens), dass es irgendwie anders ausgeht, als die Wissenschaft für den Fall prognostiziert, dass sich nichts ändert.

Dem Ruf nach härteren Maßnahmen kann ich zustimmen. Andererseits bereitet mir der oben beschriebene Satz aber auch Bauchschmerzen. In ihm taucht »die Wissenschaft« als ein einheitlicher Akteur auf, der selbstbewusst klare und nachdrückliche Forderungen stellt. Das ist ein Problem.

Aber warum? Ist es denn nicht so, dass es einen massiven wissenschaftlichen Konsens dazu gibt, was aktuell politisch geboten wäre? Wird nicht auch in anderen Zusammenhängen (etwa wenn es um den Klimaschutz geht) schon seit Jahren genau dasselbe beschrieben: »Die Wissenschaft«, die berechtigt fordert, während die politischen Entscheidungsträger beschwichtigen und verzögern?

Gibt es vernünftige Rassisten? Hat nicht nur der Ärger unseres Vorgesetzten eine Ursache, sondern auch alles andere auf der Welt? Und was ist eigentlich Veränderung? Der Philosoph Matthias Warkus stellt in seiner Kolumne »Warkus’ Welt« philosophische Überlegungen zu alltäglichen Fragen an.

Als Philosoph kann man mit dieser Redeweise begründet Schwierigkeiten haben, weil die Philosophie sich schon immer zentral damit auseinandergesetzt hat, was Wissenschaft eigentlich ist, und hier gleich mehrere grobe Vereinfachungen zum Thema aufeinandergestapelt werden. Zuerst einmal wird Wissenschaft Pi mal Daumen mit Naturwissenschaft gleichgesetzt. Nicht Linguisten oder Archäologinnen stellen hier Forderungen – es geht letztlich immer um Disziplinen, die man halbwegs mit Fotos von Reagenzgläsern und anderen Glasgeräten bebildern kann. Dann wird unterschlagen, dass wissenschaftliche Praxis immer von Konflikt und möglichem Irrtum geprägt ist und eigentlich prinzipiell nicht mit einer Stimme sprechen und als »die Wissenschaft« auftreten kann. Und drittens erscheint diese einheitlich auftretende Wissenschaft als Partei mit bestimmten Interessen.

Es gibt nicht nur die Naturwissenschaften

Nun gibt es aber jede Menge Wissenschaften, die keine Naturwissenschaften sind. Interessanterweise haben massive Konsense innerhalb nichtnaturwissenschaftlicher Disziplinen tendenziell deutlich weniger Nachrichtenwert als in den Biowissenschaften. Zum Beispiel sind sich Wirtschaftswissenschaftler über wenig so einig wie darüber, dass Löhne durch verstärkte Einwanderung nicht sinken, und in der germanistischen Sprachwissenschaft herrscht nahezu komplette Einigkeit darüber, dass die deutsche Sprache weder verfällt noch bedroht ist, aber beide Standpunkte werden vergleichsweise selten in den Medien artikuliert.

Der massive Konsens, der aktuell »der Wissenschaft« zugeschrieben wird, ist die Ausnahme

Umgekehrt gibt es in allen Wissenschaften – ob sie im Labor stattfinden oder nicht – bekanntlich Meinungsverschiedenheiten darüber, wie dieses oder jenes Phänomen zu deuten ist. Es existieren unterschiedliche Theorieströmungen und konkurrierende Erklärungsmodelle; der massive Konsens, der aktuell »der Wissenschaft« zugeschrieben wird, ist auch dort die Ausnahme.

Und zuletzt ist es überhaupt extrem selten, dass »die Wissenschaft« Forderungen an die Politik stellt (die über die eigene Finanzierung und institutionelle Ausstattung hinausgehen). Die Formulierung allein macht vielen schon Probleme, weil sie den Eindruck entstehen lässt, es ginge hier um Eigennutz. Umgekehrt ist es genauso problematisch zu unterstellen, der Wissenschaftsbetrieb wäre ein völlig neutraler und desinteressierter Anwalt höherer Werte (»der Menschheit«, »des Lebens«), denn es gibt genügend historische Beispiele für unmenschlich und illegal agierende Wissenschaftsinstitutionen.

All dies zeigt: Eine Situation mit verschiedenen, zunehmend lauter werdenden Appellen verschiedenster Akteure unterschiedlicher wissenschaftlicher Institutionen an die Politik, in eine bestimmte Richtung zu handeln, ist nicht die Regel, sondern eine krasse Ausnahme. In der Regel funktioniert »die Wissenschaft« nicht so, dass man ihr ein solches forderndes Auftreten überhaupt zu Recht unterstellen könnte, und man hat jedes Recht, skeptisch zu sein, wenn es heißt, sie fordere dies oder jenes. Aber manche Zeiten sind eben außergewöhnliche Zeiten und was in der Regel gilt, muss nicht immer gelten. Gerade ihr Ausnahmecharakter verleiht den Appellen aus der Wissenschaft derzeit ihre Dringlichkeit.

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