Warkus' Welt: Ist Sprache angeboren?

Erinnern Sie sich daran, wie Sie sprechen gelernt haben? Vermutlich nicht. An das frühe Kleinkindalter, in dem man üblicherweise zu sprechen beginnt, hat man in der Regel keine Erinnerungen. Aber wissen Sie vielleicht noch, wer Ihnen das Sprechen beigebracht hat? Wahrscheinlich würden Sie sich da nicht auf einen oder einige wenige Menschen festlegen können, sondern sagen: irgendwie all die anderen Menschen um mich herum. Jedenfalls kamen Sie unfähig zu sprechen auf die Welt – doch irgendwann haben Sie sprechen gelernt. Und zwar nicht in der Abgeschiedenheit und völlig aus sich selbst heraus (wie man etwa lernen kann, zu pfeifen oder mit dem Finger zu schnipsen), aber auch, ohne dass jemand Sie planvoll dazu hingeführt hat.
Menschen lernen das Sprechen, so könnte man meinen, ganz ähnlich wie kleine Katzen das Mäusefangen: Bestimmte Grundfähigkeiten scheinen ihnen angeboren, aber es braucht Interaktion mit der Umgebung. Einer der einflussreichsten Texte, die zum Thema des Sprechenlernens je geschrieben wurden, stammt aus den »Bekenntnissen« des heiligen Augustinus:
Der Kirchenvater spricht hier – im Jahr 401 n. Chr. – über sein Sprechenlernen, als könnte er sich präzise daran erinnern. Es findet in seiner Vorstellung vor allem statt, indem er am Beispiel der Erwachsenen lernt, welche Wörter welche Dinge bezeichnen. Und sein Ziel dabei war in erster Linie, als Kleinkind seiner Umwelt kundzutun, was er sich wünschte.
Kritik an Augustinus
Augustinus' Spracherwerbsgeschichte wurde prominent von Ludwig Wittgenstein aufgegriffen. In seinen »Philosophischen Untersuchungen« (entstanden 1936 bis 1946) stellte der österreichische Philosoph fest, dass hier eine sehr reduzierte Vorstellung von Sprache thematisiert wird: Dabei stehen Wörter für Gegenstände, und Sätze sind letztlich eine Verbindung von Bezügen auf Dinge.
Die Idee, dass Wörter ihre Bedeutung von Gegenständen bekommen, auf die sie referieren, hat eine große Tradition und ist in der Philosophie bis heute beliebt. Sie lässt sich allerdings auch sehr leicht angreifen. Welche Gegenstände werden etwa in den Sätzen »Das Monster unter meinem Bett macht mir Angst«, »Alle sind doof« oder »Ich fühle mich so allein« in Beziehung gesetzt? Wittgenstein nimmt die Augustinus-Vorstellung davon, was Sprache ist, ebenfalls konsequent auseinander.
Wie lernen wir aber nun Sprache, wenn es nicht einfach nur darum geht, durch Versuch und Irrtum Gegenstände und Laute miteinander zu assoziieren? Da das Ganze bei den allermeisten Menschen so unproblematisch und ohne qualifizierte Anleitung vor sich geht, liegt die Vorstellung nahe, dass die Fundamente der Sprachfähigkeit bereits in uns vorliegen, wenn wir geboren werden, und dann nur noch aus uns herausgekitzelt werden müssen. Diese Hypothese ist eine der sicherlich umstrittensten sprachwissenschaftlichen (und letztlich auch philosophischen) Hypothesen des 20. Jahrhunderts. Sie ist eng mit dem Namen eines der meistzitierten Wissenschaftler aller Zeiten verbunden, Noam Chomsky (* 1928), und wird daher Chomsky-Hypothese genannt.
Genügen allgemeine kognitive Kompetenzen zum Spracherwerb?
Doch woher haben wir die Fähigkeit zu erkennen, dass bestimmte Gegenstände oder das Zeigen auf sie oft mit bestimmten Lauten einhergehen? Streng genommen fällt diese Fähigkeit ja nicht vom Himmel. (Das ist der große Unterschied zwischen dem heutigen wissenschaftlichen Konsens und Augustinus, der einfach davon ausgeht, dass Gott ihm eben seinen Geist gegeben hat.) Umgekehrt muss es vielleicht gar nicht sein, dass bestimmte Sprachstrukturen genetisch in uns stecken; vielleicht benötigt das Erlernen von Sprache in all ihrer Komplexität lediglich allgemeine kognitive Kompetenzen. Aber wo ist überhaupt der Unterschied zwischen sprachlicher und allgemeiner kognitiver Kompetenz? Denken wir nicht irgendwie immer sprachlich?
Wenn Sie nachvollziehen können, warum diese Fragen kompliziert sind und man sich über die Chomsky-Hypothese so gut streiten kann, dann stecken Sie mitten in den großen Debatten der modernen Sprachphilosophie und Linguistik. Ich bin nicht nah genug am Thema, um den aktuellen »Spielstand« verlässlich wiederzugeben. Faszinierend finde ich den Gedanken, dass man Erkenntnisse über den menschlichen Geist gewinnen könnte, indem man jene Eigenschaften identifiziert, die alle Sprachen gemeinsam haben. Im Zweifel hätte dann etwa die Entdeckung einer raren Sprache mit einer ungewöhnlichen Grammatik direkte Auswirkungen auf die Philosophie.
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