Warkus' Welt: Vom Wert der Werte
Politik besteht zu einem großen Teil aus anstrengendem Klein-Klein um häufig sehr konkrete Dinge – Gewerbesteuer-Hebesätze, Fördergelder, Beschaffungen und Investitionsprojekte. Ab und zu wird es dann aber doch allgemein, und es geht darum, »wie wir miteinander leben wollen« oder wie auch immer die gängigen Floskeln lauten. Es ist nicht alles nur Handwerk, Stellschrauben und Bürokratie, auch das Große und Ganze muss seinen Auftritt haben, und wenn das passiert, dann ist eigentlich immer von einem die Rede: von Werten.
So ist es auch kein Wunder, dass zum Beispiel in den Wahlprogrammen der beiden derzeit stärksten Parteien viel von Werten und Verwandtem wie »Wertegemeinschaften« die Rede ist (interessanterweise sowohl bei der Union als auch bei den Grünen etwa gleich oft). Von Werten zu reden ist gut und schön, aber was soll man sich darunter überhaupt vorstellen?
Das Wort »Werte« wirft zwei relativ offensichtliche Schwierigkeiten auf: Erst einmal entzieht es sich schlicht dadurch, dass es dieses Wort ist und kein anderes, einer neutralen Thematisierung, denn »Wert« impliziert gerade, dass das, worüber man da redet, etwas wert sein soll. Sätze wie »Werte sind mir egal« oder »Werte bringen nichts« klingen schräg. Man könnte also, wenn man böse sein möchte, vermuten, dass jemand, der von Werten redet, einem damit etwas unterjubeln wollen könnte.
Wozu brauchen wir Werte?
Dazu passt die zweite Schwierigkeit. Wenn man von wolkigen Sonntagsreden zu konkreten Beispielen kommt, geht es bei diesen häufig um allgemein verbindliche handlungsleitende Regeln. Auch wenn es einem heute vorkommt wie die Forderung, Herren sollten doch bitte, wenn sie aus dem Haus gehen, ihren Degen nicht vergessen: Gar nicht so lange vor der Pandemie wurde noch von höchster Stelle eingefordert, dass »wir« in Deutschland »uns zur Begrüßung die Hand geben«, und zwar alle. Aber was ist da genau der Wert? Und dort, wo es klarer wird, wo bei Forderungen nach Regeln der ethische Gehalt vergraben ist, reicht es doch eigentlich, von Tugenden zu sprechen – Nächstenliebe, Wahrhaftigkeit, Tapferkeit und wie sie alle heißen, es gibt bekanntlich jede Menge davon. Bei anderen Werten scheint es, wenn es konkret wird, vor allem um Konservierung von bestimmten Gegenständen (zum Beispiel Kulturschätzen) oder von bestimmtem Knowhow (etwa der Fähigkeit, einen handschriftlichen, fehlerfreien Brief zu schreiben) zu gehen, also von Gütern. Das ist ein klassischer Punkt in der Diskussion von Werten: Wozu brauchen wir Werte, wenn wir Tugenden und Güter haben? Was kann man mit Werten begründen, was man nicht auch ohne Werte begründen kann?
In der Tat sind Werte denn auch etwas Neumodisches. Der Trend zum Wert beginnt erst nach 1900, und er ist verbunden mit Philosophen wie Max Scheler und Nicolai Hartmann, die mit ihren Wertetheorien der Ethik vor allem ein realistisches Fundament geben wollten. Realistisch im philosophischen Wortsinn, das heißt: unabhängig von der menschlichen Wahrnehmung, unveränderlich, wie es etwa auch mathematische Gebilde sind. Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wie überhaupt die ganze rechtsphilosophische Landschaft der Nachkriegszeit sind mehr oder minder stark von werterealistischen Vorstellungen geprägt, die gut in die Zeit passen, in der man nach Verbindlichkeit suchte, an Bewährtes aus der Vergangenheit (insbesondere an die griechische Antike und an Jesus) anknüpfen wollte und ein regelrechter Humanismus- und Werteboom tobte. In einem zu mehr als 70 Prozent der Zeit konservativ regierten Land ist es auch kein Wunder, dass das Anknüpfenwollen an die Vergangenheit nicht aufhört und die Konjunktur der Werte über Jahrzehnte kaum zu bremsen scheint – obwohl die ausgearbeiteten philosophischen Wertetheorien heutzutage antiquiert sind und man sich kaum noch an sie erinnert.
Im konkretesten Fall meint »Werte« also abstrakt und unveränderlich konzipierte Gebilde, auf die gestützt man sich das menschliche Denken darüber, was wünschenswert ist und was nicht, denkt. Im schlechtesten Falle ist das Wort eine bloße Hülse, mit der man signalisieren möchte, dass man auch über Gut und Böse nachgedacht hat. Es gibt jedenfalls, wie ich finde, kaum ein Wort, bei dem es nötiger ist, immer nachzufragen, was jeweils genau gemeint ist – auch wenn es nur selten jemand macht.
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