Warkus' Welt: Mehr Star Trek wagen

»Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen« – dieses Zitat wird wahlweise dem ehemaligen österreichischen Bundeskanzler Franz Vranitzky oder Helmut Schmidt zugeschrieben. Dass es sich so hartnäckig großer Beliebtheit erfreut, zeugt von einem bedeutenden Streitpunkt im Verhältnis der liberalen Industriegesellschaften zu sich selbst. Einerseits wird ständig dazu aufgerufen, man müsse positive Zukunftsvisionen und Utopien entwickeln. Eine einfache Internetsuche nach der Phrase »Wie wollen wir in Zukunft …?« fördert massenhaft entsprechende Studien, Befragungen, Veranstaltungen, Publikationen zutage. Andererseits – und dafür steht das bekannte Zitat – reagieren viele allergisch auf alles Visionäre. Ist nüchterner Pragmatismus nicht die bessere Haltung? Ist es nicht vor allem wichtig, dorthin zu schauen, wohin der nächste Schritt geht? Ansonsten riskiert man, ins nächstbeste Loch zu fallen – wie der sternguckende Thales von Milet in einem zweieinhalbtausend Jahre alten Witz.
Dass ich explizit von »den liberalen Industriegesellschaften« spreche, ist in Abgrenzung zu autoritären Gesellschaften gedacht: Sie haben keine Probleme mit Visionen. Der staatlich gelenkte Kulturbetrieb im alten Ostblock brachte Unmengen glänzend utopischer Kunst und Literatur hervor. Dies hatte mit dem Selbstverständnis der realsozialistischen Staaten zu tun, die sich als von einer Avantgarde geführt begriffen, die die Gesetze der Geschichte korrekt analysiert hatte und sich daher sicher war, eine strahlende Zukunft verwirklichen zu können – wenn nur die breite Masse kräftig genug mitzog. In meinem Bücherregal habe ich alte Sciencefiction-Romane aus der Sowjetunion und der DDR, die so linientreu sind, dass man hier und da fast Fußnoten ergänzen könnte, um die Quellen für die geäußerten Gedanken bei Marx und Engels zu belegen.
Die Utopien des Westens
»Der Westen« hatte natürlich auch so seine Visionen, wenn wir etwa an das »Weltraumzeitalter« denken: an John F. Kennedys 1962 gegebenes Versprechen, binnen weniger Jahre auf dem Mond zu landen. Oder an die Welle optimistischer Sciencefiction, an futuristische Baustile, an eine bestimmte Ikonografie von Illustrationen von Raumfahrzeugen und -stationen seit den 1950er Jahren, die noch in meiner Kindheit in den 1990ern überall herumschwirrten. Der Unterschied besteht darin, dass es kaum (oder zumindest deutlich weniger) staatlich gelenkte Kulturproduktion gab, kein geordnetes Einschwören ganzer Generationen auf bestimmte Visionen, wie es etwa der Kosmonautenkult im Realsozialismus beabsichtigte. Dass sich etwa mit der Welt von »Star Trek« eine popkulturelle Vision einer utopischen Zukunft etablierte, war nicht das Ergebnis politischer Steuerung. Und ebenso wenig die »Gegenkultur« ab den 1960er Jahren, die weniger Technologie als psychologisch inspirierte alternative Formen des Denkens und Zusammenlebens großschrieb.
Die aktuelle krisenhafte globale Situation sowie die politischen Verwerfungen in vielen westlichen Ländern gehen mit einer verbreiteten negativen Zukunftswahrnehmung einher. Darauf kann man reagieren, indem man mehr »positive Visionen« und Utopien einfordert – oder aber, indem man im Gegenteil umso mehr auf Nüchternheit und Pragmatismus pocht. Beides ist auch in Deutschland zu beobachten. Die Forderung nach neuen, optimistischen Zukunftsbildern ist verbreitet, und sie hat zu politischen Initiativen geführt, die von vielen eher belächelt werden. So ist bekanntlich die Raumfahrt in den Namen des Bundesforschungsministeriums aufgenommen worden, und schon seit geraumer Zeit geistern Flugtaxis, Magnetbahnen, Kernfusionskraftwerke oder die bayerische Raumfahrtstrategie »Bavaria One« durch die Medien. Man kann den Eindruck gewinnen, dass in den konservativen Parteien der traditionelle, seit Jahrzehnten etablierte Vorrat klischeehafter Versatzstücke einer technisch-utopischen Zukunft reaktiviert werden soll, um einen positiveren Ausblick für die breite Bevölkerung zu schaffen. Genauso gut kann man aber an die eher mit Grünen und Linken assoziierten Konzepte einer emissionsfreien, elektrifizierten Zukunft denken oder – eine weitere Alternative – an libertäre Digitalisierungsvisionen aus dem Silicon Valley: Kryptowährungen, digitale Stadtstaaten, künstliche Superintelligenz.
Der Wunsch nach reduzierter Komplexität
Im Konflikt um »Zukunftsvisionen« und »Konzepte« erkenne ich vor allem eine Irritation. Gesellschaften sind beunruhigt von den unterschiedlichen Herangehensweisen an das, was auf uns zukommen könnte. Man wünscht sich Leitlinien, eine Reduktion der Komplexität. Manchmal erscheinen Visionen jedoch als völlig durchsichtiges Mittel zur Mobilisierung. Beispielsweise im Nahostkonflikt, wo es auf der einen Seite die Vorstellungen der Trump-Regierung gab, den Gaza-Streifen von seinen Bewohnern zu räumen und als glitzernde utopische Enklave neu aufzubauen – und auf der anderen Seite etwa den radikalen Ökologen Andreas Malm, der einen Sieg der Palästinenser über Israel als Vorbedingung dafür ansieht, die globale fossile Industrie davon abzuhalten, den Planeten zu zerstören.
Ich persönlich bin ein glühender Anhänger verschiedener klassischer technischer Fortschrittsbilder. Wie schön wäre es, wenn die Idee, die Menschheit ins All hinauszuschicken, wieder so verbreitet wäre, dass sie nicht mehr vor allem als Privathobby rechtsdrehender Milliardäre und autoritärer Politiker auftaucht! Aber ich glaube auch, dass es praktisch unmöglich ist, in liberalen, demokratischen Gesellschaften sinnvoll nach Zukunftsvisionen zu rufen, die die Massen hinter sich vereinen sollen. Es gibt keine Instanz, die sie autoritär verordnen kann, und selbst eher kleinteilige wissenschaftlich-technische Fortschritte (denken wir an die Corona-Impfung oder Elektroautos) werden zu Objekten der Politisierung. Heute, im Jahr 2025, erscheint schon die Konservierung und Stabilisierung des Erreichten, für die es durchaus großen Konsens gibt – 98 Prozent der Deutschen stehen laut »Deutschland-Monitor 2024« hinter der Idee der Demokratie –, als utopisch genug.
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