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Lexikon der Neurowissenschaft: Neurogenetik

Neurogenetik w [von griech. neuron = Nerv, genesis = Entstehung], E neurogenetics, neurowissenschaftliches Fachgebiet und Teilgebiet der allgemeinen Genetik, welches zum Ziel hat, die Gene und die Mechanismen ihrer Wechselwirkungen herauszuarbeiten, die für die Entwicklung, Funktionen und Leistungen des Nervensystems (auch für Verhaltensregulation und kognitive Fähigkeiten) von herausragender Bedeutung sind. Daneben beschäftigt sich die Neurogenetik auch mit der Vererbung von Erkrankungen des Nervensystems ( siehe Zusatzinfo ). Trotz der Komplexität, mit der sich das Nervensystem auf histologischer Ebene darstellt, ist heute erkennbar, daß dessen Organisationsform auf molekularer Ebene eine ungeahnte Vereinfachung erfährt. Durch die Abwandlung von Mitgliedern einiger weniger Molekülfamilien sind in der Evolution der Nervensysteme und Gehirne immer wieder die gleichen Prinzipien zur Anwendung gekommen. Die Neurogenetik kann deshalb auch einen Einblick in die Grundlagen der Evolution von Nervensystemen vermitteln. Als biologische Modellsysteme werden aufgrund der ausgefeilten genetischen Manipulationsmöglichkeiten bevorzugt die Modellorganismen Drosophila melanogaster, Caenorhabditis elegans, Zebrafisch und Maus (Mus musculus) verwendet. – Bei der Herangehensweise neurogenetischen Arbeitens unterscheidet man zwischen "forward genetics" und "reverse genetics". Im Falle von "forward genetics" dienen als Ausgangspunkt einzelne Genmutationen bei Tieren, die jeweils einen neurologischen Befund oder einen Verhaltensdefekt zur Folge haben. Es wird dann versucht, die Kausalkette(n) von der Mutation bis zum Verhaltensdefekt aufzuklären. In diesem Fall kann eine umfangreiche Mutagenese und die Charakterisierung von Mutanten am Beginn des Arbeitens stehen. Aussichtsreich ist auch der Ansatz, diejenigen Gene molekular zu charakterisieren, von denen aufgrund vorliegender Mutationen bereits bekannt ist, daß sie eine wichtige Rolle in der Entwicklung des Nervensystems spielen. Im Falle von "reverse genetics" ist zunächst keine Mutation in einem im Nervensystem exprimierten Gen bekannt, oder die Analyse mit Defektallelen ist erschwert durch die Existenz multipler Genkopien (vor allem bei Wirbeltieren). Dann wird versucht, mit Hilfe von "gain-of-function"-Mutationen, die oft durch ein verändertes (ektopisches) Expressionsmuster zustandekommen, etwas über die Funktion eines Gens herauszufinden. Gesteuerte Fehlexpressionen von Genen (Genexpression) sind bei Drosophila mit dem pUAST/GAL4-System (enhancer trap-System) möglich.

Frühere phylogenetische und morphologische Studien führten ursprünglich zu dem Schluß, daß die Zentralnervensysteme (ZNS) der Proto- und Deuterostomier unabhängig voneinander in der Evolution entstanden seien – eine Annahme, die allein schon aufgrund der sehr unterschiedlichen Anlagen (dorsal bei Deuterostomiern, ventral bei Protostomiern) und Anatomie der jeweiligen Nervensysteme lange außer Frage stand. Neuere molekularbiologische Studien zur Expression und Funktion homologer Gene in den entsprechenden Phyla stellen allerdings dieses Dogma mehr und mehr in Frage. Diese Studien zeigen, daß trotz der unterschiedlichen Anlagen der jeweiligen Zentralnervensysteme die dafür verantwortlichen Gene homolog zueinander und darüber hinaus funktionell austauschbar sind. D.h. das Gen, das in der Fruchtfliege Drosophila melanogaster funktionell für die ventrale Anlage des ZNS verantwortlich ist, kann in einem genetisch entsprechend veränderten Wirbeltier ein dorsales Wirbeltier-ZNS anlegen – und umgekehrt. Diese Befunde haben zur Hypothese geführt, daß sowohl das dorsal gelegene Wirbeltier-ZNS als auch das ventral gelegene Wirbellosen-ZNS aus einem gemeinsamen Vorläufer-ZNS hervorgegangen sind, wobei es im Verlauf der Evolution bei einem der Tierstämme zu einer dorsoventralen Inversion gekommen sein muß. Diese Hypothese wird unterstützt durch weitere molekularbiologische Studien zur Expression und Funktion von homologen Genen, die an der Gehirnentwicklung beteiligt sind. Beispiel hierfür sind die Gene der otd/Otx-Klasse (orthodenticle) und der Hox-Klasse. Sowohl Otx bei Wirbeltieren wie z.B. der Maus als auch otd bei Wirbellosen wie z.B. der Fruchtfliege sind im anterioren Bereich des Nervensystems, also in den vordersten Gehirnteilen, exprimiert und auch für dessen Bildung verantwortlich. Darüber hinaus sind diese homologen Gene funktionell austauschbar, d.h., daß das Wirbeltier-Otx-Gen das Wirbellosen-otd-Gen funktionell ersetzen und entsprechend die Bildung eines Fliegengehirns steuern kann und umgekehrt. Vergleichbare Resultate wurden bei der Untersuchung der Expression und Funktion der Hox-Gene gefunden. Sowohl bei Wirbeltieren als auch bei Wirbellosen konnte gezeigt werden, daß homologe Hox-Gene an vergleichbaren Aspekten der Regionalisierung der hinteren Bereiche des jeweiligen Gehirns beteiligt sind. Diese evolutionäre Konservierung von Struktur, Expression und soweit bisher gezeigt auch der Funktion dieser otd/Otx-, Hox- und anderer Gene deuten darauf hin, daß das Wirbellosen- und das Wirbeltier-Gehirn bzw. -ZNS in der Evolution aus einem gemeinsamen Vorläufer hervorgegangen sind ( siehe Abb. ). Hox.

Neurogenetik

In der medizinischen Genetik bezeichnet die Neurogenetik die Ausrichtung, die sich mit den genetischen Grundlagen und Diagnoseverfahren von Erkrankungen des Nervensystems (z.B. neuropsychiatrische Krankheiten) sowie der humangenetischen Beratung und Betreuung entsprechender Patienten bzw. Familien beschäftigt. Die genetisch bedingten Krankheiten des Nervensystems sind vielfältig und beruhen meist entweder auf allgemeinen erblichen Stoffwechselstörungen oder auf genetisch bedingten Defekten von neurospezifischen Enzymen, Rezeptoren und anderen Proteinen. Erbkrankheiten, Fehlbildungen des Nervensystems.



Neurogenetik

Schematische Darstellung der otd/Otx- und Hox-Genexpression im embryonalen ZNS von Drosophila (oben) und Maus (unten, nur HoxB). Das embryonale ZNS von Drosophila gliedert sich in das Gehirn, bestehend aus protocerebralem (b1), deutocerebralem (b2), tritocerebralem (b3), mandibularem (s1), maxillarem (s2) und labialem (s3) Neuromer, sowie das segmentierte Bauchmark. Das embryonale ZNS der Maus gliedert sich in das Gehirn, bestehend aus Telencephalon (T), Diencephalon (D), Mesencephalon (M) und Rhombencephalon (acht Rhombomere), sowie das Rückenmark. Das relative Expressionsmuster entlang der anterior-posterioren Neuralachse sowohl der otd/Otx-Gene als auch der Hox-Gene ist in der Fliege und der Maus annähernd identisch.

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