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Konfliktgeschichte: Als China das erste Mal nach Taiwan griff

Jahrhundertelang lebten auf Taiwan indigene Gruppen unbehelligt von den großen Nachbarmächten. Das änderte sich im 17. Jahrhundert mit Ankunft der Europäer und einem Bürgerkrieg in China – mit Folgen bis heute.
Kolossale Statue von Zheng Chenggong auf der chinesischen Insel Gulangyu.
Auf einer dem chinesischen Festland vorgelagerten Insel steht diese moderne kolossale Statue des Heerführers Zheng Chenggong. Die fast 16 Meter hohe Figur auf der Insel Gulangyu blickt auf das gegenüberliegende Taiwan.

Das Entsetzen musste groß gewesen sein, als die niederländische Besatzung des Forts Zeelandia am 30. April 1661 aufs offene Meer blickte. Am Horizont zeichneten sich nach und nach die Segel hunderter chinesischer Dschunken ab. Schätzungsweise 25 000 Mann beförderte die Armada. Über deren Ziel machten sich die Niederländer keine Illusionen: Die Chinesen wollten sie von der Küste Taiwans vertreiben.

Erst ein Jahr zuvor hatte der Gouverneur Zeelandias, Fredrick Coyett (1615/20–1687), seine Vorgesetzten in Batavia, dem heutigen Jakarta, um Unterstützung gebeten. Doch die Kapitäne, die daraufhin nach Taiwan gekommen waren, erkannten keine Gefahr und zogen wieder von dannen. Als die Chinesen dann tatsächlich angriffen, war die Besatzung Zeelandias auf sich gestellt. Hoffnungslos unterlegen, machte sie sich an die Verteidigung ihres Forts, dessen Überreste heute zu den bekanntesten Sehenswürdigkeiten der 800 000 Einwohner zählenden Stadt Tainan zählen.

Zehn Monate lang tobten die Kämpfe im Südwesten Taiwans. Die Kaufleute und Kolonisten der Niederländischen Ostindien-Kompanie auf der einen Seite, die Streitkräfte von Heerführer Zheng Chenggong (1624–1662) auf der anderen. Es war einer der wichtigsten Wendepunkte in der Geschichte Taiwans. Jahrhundertelang hatten sich die chinesischen Behörden kaum für die rund 180 Kilometer vor ihrer Küste gelegene Insel interessiert. Nun änderte sich das endgültig – mit Auswirkungen bis heute. Denn für die Kommunistische Partei Chinas und ihren Generalsekretär Xi Jinping gilt das selbstständig regierte Taiwan, das nie zur Volksrepublik gehörte, als abtrünniger Landesteil. Um ihren Anspruch zu untermauern, argumentieren die Parteiführer auch historisch – und erklären Zheng Chenggong zum »nationalen Helden«, der mutig gegen die Fremden zu Felde zog und sie von der Insel vertrieb.

Auf der Spur von Taiwans Geschichte im Fort Zeelandia

Nicht zuletzt auf Grund des öffentlichen Interesses rückte die Epoche in den Blick der historischen und archäologischen Forschung. Aber auch, weil 2024 mit dem 400. Geburtstag von Zheng Chenggong ein bedeutender Jahrestag ansteht. Den Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen kommt dabei eine ergiebige Quellenlage zugute. Einerseits hinterließen die Niederländer ausführliche Berichte, sagt die auf die taiwanische Geschichte des 17. Jahrhunderts spezialisierte Historikerin Chien Hung-Yi von der National Cheng-Kung University in Tainan. Andererseits macht der weiche Sandboden in Tainan dem an derselben Universität lehrenden Archäologen Liu Yi-Chang die Arbeit leichter, wie er an einer Grabungsstelle zeigt. Bauleute nutzten im Lauf der Jahrhunderte jeweils den Schutt voriger Gebäude, um den Untergrund zu stabilisieren. Dem Archäologen präsentiert sich die Besiedlungsgeschichte Tainans deshalb wie eine säuberlich geschichtete Torte: vom Beton eines modernen Parkplatzes bis hinunter zu den Ziegelresten von Gebäuden der niederländischen Zeit in gut zwei Meter Tiefe.

Davor war diese Stelle unbesiedelt gewesen, erklärt Liu. Die austronesischen Völker, die seit Jahrtausenden auf Taiwan gelebt hatten, bevorzugten Siedlungsplätze im Landesinneren. Die chinesischen Kaiser wiederum interessierten sich nicht für die weit im Meer liegende Insel. Denn Gefahr drohte China meist nicht von der See, sondern entlang der schier endlosen Landesgrenzen, die die Herrscher teilweise mit Mauern zu schützen versuchten. Auch boten die auf Taiwan lebenden Menschen aus chinesischer Sicht kaum lukrative Handelsmöglichkeiten, sagt Historikerin Chien. Nur chinesische Fischer besuchten hin und wieder die Insel, ab und zu noch Schmuggler und Piraten.

Für die europäischen Händler hingegen war Taiwan wertvoll. Als Erste beschrieben portugiesische Seefahrer die Insel, an der sie auf dem Weg nach Japan vorbeifuhren. Die hohen Berge und üppigen Wälder, in denen es vor Wild wimmelte, beeindruckten sie so sehr, dass sie ihr den Namen »Ilha Formosa« gaben, »schöne Insel«. Doch erst spanische und später niederländische Seefahrer, die ihrerseits die Spanier vertrieben, errichteten auf Taiwan einen dauerhaften Handelsposten.

Nicht zu nah an China!

Die Niederländer ließen sich im Jahr 1622 zunächst auf den zwischen Taiwan und dem Festland liegenden Penghu-Inseln nieder. Den chinesischen Behörden war eine fremde Präsenz so nahe der Küste jedoch nicht geheuer. Sie entsandten eine Flotte und wiesen die Europäer an, ihren Stützpunkt nach Taiwan zu verlegen, berichtet Historikerin Chien Hung-Yi.

Tatsächlich folgten die Niederländer der Aufforderung und gründeten zwei Jahre später, 1624, Fort Zeelandia. Rasch woben sie die neue Niederlassung in ihr Handelsnetz ein, wie schriftliche Quellen und archäologische Funde bezeugen. So erzählt es Archäologe Liu auf seiner Grabungsstätte. Von den austronesischen Stämmen der Insel kauften die Niederländer Rehfelle, die sie dann teils in Japan gegen Silber tauschten. Damit wiederum erwarben sie in China Seide und Porzellan unterschiedlicher Qualität. Das einfache Geschirr nutzten die Europäer in Taiwan oder tauschten es mit den Indigenen. Hochwertiges Porzellan und Seide verschifften sie nach Europa. Von dort, erklärt Liu, führten sie Bier aus Amsterdam und Lebensmittel ein.

Rund 40 Jahre florierte das Handelssystem – bis es durch einen Krieg auf dem chinesischen Festland ins Wanken geriet. Schon 1644 war dort die Herrschaft der Ming-Dynastie zusammengebrochen, die Qing-Dynastie übernahm daraufhin die Macht. Doch die neuen Herren sahen sich weiterhin loyalen Ming-Anhängern gegenüber, besonders im Süden Chinas.

Fort Zeelandia | Die niederländische Ostindien-Kompanie hatte ab 1624 die Festung im Südwesten Taiwans errichten lassen. Der zeitgenössische Kupferstich wurde später koloriert.

Einer der Ming-Getreuen war der Anführer Zheng Chenggong, der mehr oder minder autonom an der Südostküste Chinas herrschte. Als die Generäle der Qing ihn jedoch zunehmend einkreisten, ersann er einen verwegenen Plan: Er wollte auf die Insel Taiwan ausweichen. Sein Wagnis zahlte sich aus. Mit seinem Heer schlug er 1661 zunächst die niederländische Flotte. Anschließend vertrieb er die Niederländer von allen ungeschützten Stellungen an Land und belagerte Zeelandia. Als seine Soldaten nach zehn Monaten einen strategisch wichtigen Teil des Forts eingenommen und zwei gefangene Holländer in Sichtweite des Forts gekreuzigt hatten, stimmten die Europäer im Frühjahr 1662 Verhandlungen zu und zogen schließlich ab. Neuer Herr über Zeelandia war Zheng Chenggong.

Zahlreiche Chinesen zogen auf die Insel

Mit ihm wurde Taiwan zum letzten Rückzugsort der Ming-Loyalisten. Entsprechend stark wuchs die chinesische Bevölkerung: Während zu Beginn der niederländischen Herrschaft nur etwa 1000 bis 1500 Chinesen auf Taiwan lebten, stieg ihre Zahl nun auf bis zu 100 000. Unterdessen stilisierten sich Zheng Chenggong und seine Nachfahren immer mehr zu eigenständigen Herrschern – etwa indem sie ihren Regierungssitz als »Dong Tu« bezeichneten, als »östliche Hauptstadt«.

Nach eigenem Gutdünken schalten und walten konnten sie, weil eine Invasion Taiwans kein einfaches Unterfangen war. Dennoch beauftragten die Qing-Herrscher zweimal ihren Admiral Shi Lang, das Zheng-Regime von der Insel zu vertreiben. Doch beide Male scheiterten die Truppen an schlechtem Wetter. Entnervt vertagten die Qing den Angriff. Erst als Zhengs Nachfahren einige Jahre später begannen, sich militärisch auf dem Festland einzumischen, reichte es der herrschenden Dynastie. Erneut entsandte sie Shi Lang. Diesmal mit Erfolg: Im Sommer 1683 eroberten seine Soldaten Taiwan für die Qing.

Doch was sollte der Kaiser nun mit der Insel anfangen, die bislang nie Teil des chinesischen Reichs gewesen war? Unterschiedliche Vorstellungen prallten am Hof aufeinander. Einige Berater schlugen vor, Taiwan aufzugeben und sich selbst zu überlassen. Andere überlegten, sie an die Niederländer zu verkaufen. Tatsächlich kam es sogar zu Verhandlungen, doch die Europäer lehnten ab. Auch Admiral Shi Lang beteiligte sich. Er hatte auf Taiwan inzwischen große Ländereien erworben, sagt Historikerin Chien. Bei Hof allerdings argumentierte er mit den Sicherheitsinteressen des Reichs: Die Insel liege zu nahe am Festland, feindliche Truppen könnten China bedrohen. Der Kaiser folgte seinem Rat.

China gliederte Taiwan in sein Reich ein

Zum ersten Mal überhaupt war Taiwan nun Teil des chinesischen Kaiserreichs – und Ziel zunehmender chinesischer Kolonisation und Einwanderung. Heute stellen die Angehörigen der 16 indigenen Völker Taiwans nur noch rund 2,5 Prozent der 23,5 Millionen Taiwaner, sagt Liu Shih-Lung vom National Museum of Prehistory in Taitung. Die große Mehrheit der Bevölkerung ist chinesischer Herkunft. Auch Sprache, Kultur und Küche sind chinesisch geprägt.

Aus der Luft | Das niederländische Fort Zeelandia ist heutzutage eine bekannte Sehenswürdigkeit in der Stadt Tainan auf Taiwan.

Doch das 17. Jahrhundert einfach als Beginn einer kompletten Sinisierung zu verstehen, greife zu kurz, betont Archäologe Liu Yi-Chang. Vielmehr würden sowohl die Indigenen mit ihrem austronesischen kulturellen Erbe als auch die Europäer, die Taiwan ins weltweite Handelsnetz integrierten, und die chinesischen Einwanderer die Insel bis heute prägen. Seine Forschungen stellt Liu Yi-Chang deshalb unter das Motto »becoming Taiwanese«, also »wie Taiwan taiwanisch wurde«.

Die weitere Geschichte der Insel verlief teils unabhängig und teils in Abhängigkeit zum Festland. Rund 200 Jahre lang blieb Taiwan Teil des chinesischen Reichs, 1885 erhob man es sogar zur eigenen Provinz. Doch schon zehn Jahre später übernahmen auf Taiwan die Japaner die Macht, nachdem sie den Japanisch-Chinesischen Krieg für sich entschieden hatten. An wichtigen Entwicklungen der chinesischen Geschichte, etwa der Revolution von 1911, mit der das Kaiserreich endete und die Republik begann, waren die Taiwaner nicht beteiligt. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Insel wieder China zugesprochen – ohne dass die Bevölkerung dazu befragt wurde.

In China jedoch flammte kurz darauf erneut ein Bürgerkrieg auf, zwischen der Partei Kuomintang (KMT) unter dem Militär Chiang Kai-Shek (1887–1975) und der Kommunistischen Partei Chinas unter Mao Zedong (1893–1976). Und ganz ähnlich wie schon im 17. Jahrhundert zog sich die im Krieg unterlegene Seite auf Taiwan zurück. In diesem Fall die KMT, die bis zur Demokratisierung der Insel in den 1990er Jahren das Land autoritär regierte.

Taiwans Status ist nach wie vor umstritten. Wie einst die Qing-Herrscher, so betonen es die Fachleute von der Universität in Tainan, erheben heute die im Bürgerkrieg siegreichen Kommunisten Anspruch auf Taiwan – in den vergangenen Jahren mit immer mehr Nachdruck. Regelmäßig schickte die Staatsführung zuletzt Schiffe und Flugzeuge über die Medianlinie inmitten der Straße von Taiwan, die zuvor von beiden Seiten als inoffizielle Grenze akzeptiert wurde. Was das heißt, lässt sich selbst bei einem Besuch des ehemaligen niederländischen Forts Zeelandia erleben. In der Nähe liegt ein Luftwaffenstützpunkt. Immer wieder steigen von dort Düsenjäger in den Himmel auf, donnern auf dem Weg Richtung Meer über das alte Fort. Ihr Ziel: durch demonstrative Präsenz verhindern, dass die Nachfolger von Zheng Chenggong und Shi Lang erneut einmarschieren.

Tobias Sauer hielt sich mit einem Stipendium der Internationalen Journalisten-Programme e V. Ende 2022 in Taiwan auf. Als Dolmetscherin war vor Ort Chen Yi-Hua tätig.

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