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Immunsystem: Ein Mantel, der Viren gefährlicher macht

Viren und Proteine in unserem Körper beeinflussen sich offenbar stärker als gedacht. Manche machen Viren gefährlicher. Andere werden durch deren Gegenwart selbst gefährlich.
Virus

»Was passiert, wenn man einen Tennisball in einen Behälter mit Milch und Cornflakes taucht?« Als Antwort zeigt Kariem Ezzat von der Universität Stockholm dem Publikum seines Vortrags ein kurzes Video. Darin macht er genau das – und fischt den an einer Schnur befestigten Ball anschließend wieder heraus. Wie erwartet hängt jede Menge klebriges Material daran. Noch rätseln die meisten Zuhörer, was dieses Experiment mit Viren und der Entstehung von Krankheiten zu tun haben soll. »Im Prinzip sind Viren nichts anderes als Nanopartikel. Und die verhalten sich wie der Tennisball«, erklärt Ezzat.

Gibt man Nanopartikel in eine biologische Flüssigkeit wie zum Beispiel Blut, so bekleiden sie sich mit den Proteinen, die darin enthalten sind. Nichts anderes machen Viren. Das Team um Ezzat hat herausgefunden, dass der Mantel eines Virus immer etwas anders aussieht, wenn es in unterschiedliche Körperflüssigkeiten taucht. Und das bleibt nicht folgenlos: Die anhaftenden Proteine verändern die Eigenschaften und Möglichkeiten des Virus, können es gefährlicher machen – oder abschwächen. Umgekehrt verändern Viren aber auch die angeklebten Proteine: Sie fungieren als Katalysator und beschleunigen eine Vernetzung der Moleküle. Und die so entstandenen vernetzten Proteinaggregate können dann zu einem ernsten Problem werden – zum Beispiel im Gehirn von Alzheimerpatienten.

© Kariem Ezzat, Karolinska Institutet
Tennisball bekommt eine Corona

Ein Tennisball als Virusmodell: Gibt man einen Tennisball in einen Behälter mit Milch und Cornflakes, so bleibt einiges daran kleben. Ähnlich verhält es sich mit Viren in einer biologischen Flüssigkeit wie zum Beispiel Blut.

Veröffentlicht am: 08.05.2018

Laufzeit: 0:32

Sprache: englisch

Zunächst untersuchte die Forschergruppe das Respiratorische Synzytial-Virus, kurz RSV. Es ist verantwortlich für Atemwegserkrankungen, die für Säuglinge und Kleinkinder mitunter lebensbedrohlich werden können. Laut dem Robert Koch-Institut sind weltweit etwa 49 von 1000 Kindern im ersten Lebensjahr betroffen, sechs davon erkranken schwer. Bei Erwachsenen äußert sich eine RSV-Infektion maximal in Form einer harmlosen Erkältung. Fast alle Menschen haben sich im Lauf ihres Lebens bereits mehrfach mit RSV infiziert, meist ohne es zu wissen. Ihre Immunzellen haben Antikörper gebildet, die teilweise, wenn auch nicht komplett vor einer erneuten Infektion schützen.

Die Bekleidung macht den Unterschied

Und ebendiese Antikörper bleiben, wie Tests der Gruppe um Ezzat zeigen, an den Erkältungsviren kleben, wenn man sie in Plasma von Erwachsenen taucht, also in den zellfreien, flüssigen Teil des Bluts. Die Antikörper-Bekleidung hat zudem Folgen: Die Forscher mischten die umhüllten Viren in menschlichen Zellkulturen und beobachteten – nichts. Die Viren schafften es kaum, eine Zelle zu infizieren: Die an ihnen haftenden Antikörper hatten sie quasi ausgeschaltet.

Die Forscher überprüften das Ergebnis nun mit Blutplasma von Säuglingen. Anders als Erwachsene haben Babys noch keine Antikörper gegen RSV: Zwar können die Antikörper, die die Mutter während der Schwangerschaft auf ihr Baby übertragen hat, dieses in den ersten Wochen seines Lebens vor einer RSV-Infektion bewahren, den vollständigen Nestschutz gibt es jedoch nicht.

Im Prinzip gelten alle Säuglinge unter sechs Monaten daher als RSV-Risikogruppe. Erst mit ein bis zwei Jahren beginnt das Immunsystem von Kleinkindern, eigene Antikörper gegen das Virus herzustellen. Säuglingsblut kann den Erkältungsviren tatsächlich nichts anhaben: Ezzats Team versuchte, Zellkulturen mit in Babyplasma gebadeten Viren zu infizieren – und bestätigte, dass die Viren trotz Plasmabad so infektiös waren wie üblich.

In puncto Antikörper-Umhüllung gilt also: Es gibt Unterschiede im Potenzial von Körperflüssigkeiten. Das zeigte ein weiteres Experiment von Ezzat und Kollegen, bei dem Viren in aus Lungengewebe gewonnener Flüssigkeit badeten. Auch darin finden sich, zumindest bei Erwachsenen, Antikörper gegen RSV. Entgegen den Erwartungen des Teams waren die Viruspartikel, die mit der Lungenflüssigkeit in Berührung gekommen waren, allerdings keineswegs harmloser, sondern infektiöser als zuvor.

Mit Hilfe verschiedener chemischer und biologischer Methoden dröselten Ezzat und sein Team auf, welche Proteine aus der Lungenflüssigkeit an den Viren hängen geblieben waren. Offenbar nicht die RSV-Antikörper. Genauer gesagt bindet keines der zehn häufigsten Proteine der Flüssigkeit an sie, vielmehr vor allem einige seltenere Proteine, die dann den Viren das Andocken an eine Zielzelle erleichtern.

Dieser Schritt ist für die Erreger entscheidend. Denn Viren überleben in der Regel nicht ohne die Hilfe eines Wirts – zum Beispiel eines menschlichen; sie haben keinen eigenen Stoffwechsel, sondern benutzen die Maschinerie der Wirtszelle, um sich zu vervielfältigen. Man wusste bereits: Um eine Zelle möglichst effizient zu entern, koppeln manche Viren bestimmte Proteine des Wirts an ihre Hülle. Dazu eignen sich etwa Zelladhäsionsmoleküle oder Rezeptoren der Wirtszelle.

Ein Mantel aus Wirtsproteinen ist aber nicht immer eine gute Tarnung, manchmal bringt er auch Nachteile mit sich. So konnten Erkältungsviren, die zuvor in Lungenflüssigkeit gebadet hatten, zwar menschliche Immunzellen, die das Team um Ezzat in Kulturschalen untersuchte, besser angreifen. Gleichzeitig alarmierten diese aber die Körperabwehr stärker über die Virusattacke. Das stellten die Forscher fest, indem sie die Immunzellen auf bestimmte Markermoleküle untersuchten. Dabei handelt es sich um Proteine, die die Zelle im Fall einer Bedrohung, etwa einer Virusattacke, an ihre Oberfläche schafft und damit weitere Komponenten des Immunsystems aktiviert.

Ezzat freut sich jedoch über die Beobachtung: »Wir haben erstmals entdeckt, dass die Proteinhülle eines Virus die Reaktion einer infizierten Immunzelle beeinflusst. Vielleicht gibt es unter anderem deshalb noch keine wirksame Impfung gegen Viren wie RSV. Wir wollen das Wissen nutzen, um bessere Impfstoffe zu entwerfen.« Das wäre wünschenswert: Bislang werden besonders gefährdete Kinder wie Frühgeborene mit gegen das Virus gerichteten Antikörpern passiv immunisiert – was kostspielig ist und während der Erkältungssaison monatlich wiederholt werden muss. Eine aktive Impfung, bei der das Immunsystem des Geimpften dazu gebracht wird, selbst Antikörper herzustellen, gibt es bislang nicht.

Viren als Alzheimerrisiko

Möglicherweise steckt aber hinter den Beobachtungen des Forscherteams um Ezzat noch etwas Größeres. Bei ihren Untersuchungen der Virusmäntel entdeckten die Forscher nämlich, dass die Oberfläche von Viren offenbar als eine Art Katalysator für verbindungsfreudige Proteine wirkt. Für Nanopartikel ist dieses Phänomen bereits bekannt: Aufgelagerte Proteine kommen sich daran räumlich nahe und können sich besser vernetzen. In der Natur neigen zahlreiche Proteine dazu, längliche Fasern auszubilden. Oft handelt es sich dabei streng genommen um Peptide, also Kurzversionen oder Bruchstücke von Proteinen. Das berühmteste Beispiel dafür ist wohl das Alzheimerpeptid Beta-Amyloid, das aus nur 42 Aminosäuren besteht. Ablagerungen aus diesem Peptid findet man in Form von so genannten Plaques im Gehirn von Alzheimerpatienten. Die faserigen Strukturen, die auch als Fibrillen bezeichnet werden – genauer gesagt bestimmte Zwischenformen davon –, sind giftig für die Nervenzellen und stören ihre Kommunikation. Zwar ist die genaue Ursache der Alzheimerkrankheit noch immer nicht geklärt. Die Anhäufung von Beta-Amyloid-Fibrillen ist aber eines der Hauptmerkmale der Demenzerkrankung.

Die zentrale Frage, die Ezzat und sein Team sich stellten, lautete: Können Viren, ähnlich wie Nanopartikel, die Ausbildung von Fibrillen beschleunigen? Um das herauszufinden, gaben die Forscher – zunächst im Reagenzglas – Herpesviren zu dem Alzheimerpeptid. Normalerweise dauert es viele Stunden, bis es sich zu Fibrillen zusammenlagert. Doch in Gegenwart der Viren ging es bedeutend schneller. Das Forscherteam beobachtete unter einem Mikroskop, wie sich dort, wo das Peptid sich an die Viren heftete, lange Fasern ausbildeten.

Die Proteincorona | Gibt man ein Virus (gelb) in eine biologische Flüssigkeit (zum Beispiel Blutplasma), so bindet es darin befindliche Proteine (rot und blau dargestellt) an ihre Oberfläche. Dies kann ihnen das Andocken an die Rezeptoren (grün) auf einer Zielzelle (englisch: target cell) erleichtern. Außerdem dient die Virusoberfläche manchen Proteinen als Katalysator: Sie vernetzen sich schneller und bilden Fibrillen (amyloid fibrils).

Motiviert von dieser Beobachtung wollte das Team nun herausfinden, ob Viren wohl auch in einem lebenden Organismus die Vernetzung von Peptiden – und somit womöglich die Entstehung von Alzheimer – beschleunigen könnten. Darum spritzen die Forscher Labormäusen Herpesviren direkt ins Gehirn. Und tatsächlich: Die Tiere entwickelten schneller Alzheimerplaques als nicht infizierte Mäuse.

Was war eigentlich zuerst da: das Virus oder die Fibrillen?

Das könnte auch außerhalb von Laborexperimenten eine Rolle spielen. In den Proteinablagerungen im Gehirn von Alzheimerpatienten findet man oft das Erbgut von Bakterien und Viren, zum Beispiel von Herpes simplex Typ 1. Das ist jenes Virus, das uns unangenehme Bläschen an den Lippen bescheren kann. Mehr als 80 Prozent der Bevölkerung weltweit tragen es mit sich herum – und merken oft nichts davon. In manchen Fällen kann das Herpesvirus jedoch in unser Nervensystem gelangen und eine Entzündung des Gehirns auslösen. Das äußert sich bei den Betroffenen ähnlich wie die Alzheimerkrankheit. Bei Patienten, die sowohl Herpesviren als auch Beta-Amyloid-Plaques im Gehirn haben, drängt sich daher die Frage auf, was eigentlich zuerst da war: das Virus oder die Fibrillen?

Ezzat meint: »Darauf gibt es keine eindeutige Antwort. Wir glauben, dass sich die Fibrillen bei Alzheimererkrankten auf zwei Arten ausbilden. Zum einen durch eine spontane Aggregation des Peptids, was wahrscheinlich genetisch bedingt ist. Zum anderen wird die Fibrillenbildung aber auch durch das Virus vorangetrieben.«

Wie Studien zeigen, kann eine Herpes-Infektion nicht nur bei Mäusen – wie das Team um Ezzat beobachtete –, sondern auch bei Menschen das Alzheimerrisiko erhöhen. Deshalb glaubt der Forscher, dass es ebenso wichtig ist, den katalytischen Effekt der Viren in den Griff zu bekommen, wie die Alzheimerplaques selbst anzugreifen. In Zukunft wollen er und seine Kollegen daher Antikörper designen, die beides können.

Wer hilft eigentlich wem?

Die Ergebnisse von Ezzat eröffnen nicht nur Ansatzpunkte für neue Impfstoffe und Alzheimermedikamente, sie werfen auch viele weitere neue Fragen auf. Auf Ezzats Vortrag im Rahmen eines Sonderforschungsbereichs, der sich der Erforschung von Peptiden in Körperflüssigkeiten widmet, folgt eine rege Diskussion und eine neue Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe des Virologen Jan Münch vom Universitätsklinikum Ulm. Als Münch zum ersten Mal von der Arbeit der schwedischen Forschergruppe hörte, ahnte er sofort, dass sie von großer Bedeutung für verschiedene Krankheitsbilder sein könnte. Er lud Ezzat ein, seine Ergebnisse in Ulm vorzustellen. Das war im Mai 2018, also etwa ein Jahr, bevor das Team um Ezzat diese schließlich in der Fachzeitschrift »Nature Communications« veröffentlichte.

Kariem Ezzat | Der Forscher hofft, dass das Wissen um die Proteincorona hilft, verschiedene Krankheiten zu besiegen.

Gastgeber Münch will beispielsweise herausfinden, ob auch andere Viren wie etwa das Humane Immundefizienz-Virus (HIV) als Katalysator für die Vernetzung von Peptiden wirken. Denn nicht nur Herpesviren, auch das Aids verursachende HI-Virus kann ins Gehirn wandern und dort großen Schaden anrichten: Es befällt und zerstört Nervenzellen. Das führt zu alzheimerartigen Symptomen – man spricht von Neuro-Aids. Trotz bedeutender Fortschritte in der Behandlung leiden heute 30 bis 50 Prozent der HIV-positiven Menschen unter kognitiven Einschränkungen wie Gedächtnis- oder Konzentrationsstörungen. Diese Symptome lassen sich schwer von der eigentlichen Alzheimerkrankheit unterscheiden. Zumal sich vor allem im Gehirn älterer und mit antiretroviralen Medikamenten behandelter Patienten auch Beta-Amyloid-Fibrillen finden. Ob das HI-Virus die Ausbildung dieser Aggregate beschleunigt, will Münch künftig mit Hilfe seines Teams herausfinden.

Bereits vor einigen Jahren entdeckte der Ulmer Virologe eine andere Art von Teamwork zwischen dem Immundefizienz-Virus und Peptidfibrillen. Das Virus nutzt natürlicherweise im Sperma vorkommende Fibrillen, um besser an seine Wirtszellen – bestimmte Zellen des Immunsystems – andocken zu können. Wie funktioniert das? Normalerweise ist die Oberfläche, also die Membran von Viren, negativ geladen. Genau wie die der Zellen, an die es andocken will. Folglich besteht eine elektrostatische Abstoßung zwischen Zelle und Virus. Die im Sperma herumschwimmenden Fibrillen hingegen sind positiv geladen: Sie können die Abstoßung überbrücken. Das erklärt, weshalb sich HIV vor allem dann überträgt, wenn Sperma und kein Kondom im Spiel ist.

Wahrscheinlich ist das Zusammenspiel von Viren und den Proteinen in ihrer Umgebung also viel komplexer und wichtiger als bisher angenommen. Darum will Münch nun auch die Mäntel anderer Viren in verschiedenen Flüssigkeiten untersuchen. »Sollten die Ergebnisse der Kollegen aus Stockholm auf andere Viren übertragbar sein, so würden verschiedene Körperflüssigkeiten die Infektiosität von Viren verändern. Das könnte ihre Übertragung und die Bekämpfung durch unser Immunsystem beeinflussen.«

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