Alpengletscher: Das große Schmelzen
Birgit Sattler ist oft an Gletschern und weiß: Sie verändern sich. »Aber heuer ist es ganz extrem«, sagt sie. »Schockierend.« Am Jamtalferner in den Tiroler Alpen forscht sie gerade an Abdeckungen fürs Eis, damit es besser den Sommer übersteht. Dort, wo die schützende Decke fehlt, schmilzt es rapide, ändert sich das Bild binnen weniger Wochen erheblich, berichtet die Wissenschaftlerin der Universität Innsbruck. »Da sieht man eine Stelle, wo man neulich noch gearbeitet hat, und plötzlich ist sie weg.« Sprachlos mache sie das, aber nicht nur. »Man spürt eine Hilflosigkeit, dass das nicht mehr aufzuhalten ist, wie eine Naturgewalt.«
Die Alpengletscher leiden unter dem Klimawandel. In diesem Jahr, in dem es sehr warm war und wenig geschneit hat, ganz besonders. Erste Messungen, etwa vom Hintereisferner im hinteren Ötztal, lassen erahnen, wie gravierend der Rückgang ist. Bis Anfang September hatte das Eis dort bereits fünf Prozent seiner verbliebenen Masse verloren – und die Schmelzsaison dauert an, je nach Wetter bis in den Oktober.
»2022 ist der schlechteste Sommer, den wir je hatten«, sagt der Glaziologe Daniel Farinotti von der ETH Zürich. Der bisherige Negativrekord von 2003 werde sicher übertroffen. Um wie viel, werde in wenigen Wochen feststehen, wenn Daten für alle Gletscher vorliegen. Ob das Jahr 2022 eine Ausnahme ist oder das »neue Normal«, wird sich zeigen. Langfristig, darin sind sich Fachleute einig, werden die Eismassen der Alpen weiter schrumpfen – mit erheblichen Folgen für die betreffenden Hochgebirgsregionen, aber auch für die Städte und Dörfer an den Ausläufern der Alpen.
Der lange Niedergang der Gletscher
Der Rückgang der Eismassen begann bereits vor Jahrzehnten. So hat sich das Volumen der Schweizer Gletscher zwischen 1931 und 2016 halbiert, berichtete kürzlich ein Team um Erik Schytt Mannerfelt im Fachmagazin »The Cryosphere«. Die Forscher werteten tausende Fotografien und Feldbucheinträge aus, um die Gletscheroberflächen zu verschiedenen Zeiten zu rekonstruieren. Daraus wiederum kalkulierten sie die Verluste in der Vergangenheit.
Die gegenwärtigen Veränderungen lassen sich leichter und präziser erfassen. Da ist einerseits die herkömmliche Methode, um eine Massenbilanz zu erstellen: Man bohrt Stangen ins Eis und misst regelmäßig, wie viel davon herausschaut. Zudem vermisst man mit Hilfe von Laser und GPS-Signalen die Oberfläche genau, um Veränderungen zu bestimmen. Die Daten zu interpretieren, sei nicht einfach, warnt Farinotti: »Verliert die Gletscheroberfläche an Höhe, ist zunächst unsicher, ob das von der Schmelze herrührt oder weil lockerer Schnee zu Eis verdichtet wird.« Es brauche mehrere Messungen, um Klarheit zu erlangen. »Erst nach fünf Jahren lässt sich der Anteil der Schmelze zuverlässig identifizieren.«
In dieser Saison haben zwei Dinge großen Anteil, sagt der Wissenschaftler: wenig Niederschlag im Winter – ein schlechter Start für die Gletscher – sowie hohe Temperaturen im Sommer. Für das Eis sind aber noch weitere Faktoren bedeutsam, beispielsweise Staub und Ruß. Die Partikel stammen unter anderem aus der Sahara sowie aus Verbrennungsprozessen in Motoren, Öfen oder brennenden Wäldern, der Wind trägt sie über weite Strecken -auch auf Gletscher. Sie machen die Oberfläche dunkler, so dass der Gletscher die einfallende Sonnenstrahlung schlechter reflektiert als reiner Schnee. Er schmilzt umso schneller. Auf diese Weise haben Staub und Ruß vom frühen 20. bis frühen 21. Jahrhundert die Schmelze der Alpengletscher um 15 bis 19 Prozent beschleunigt. Das geht aus einer Studie von Jeannette Gabbi und ihrem Team hervor, die 2015 in »The Cryosphere« erschien.
Ruß und Algen schmelzen den Schnee
Der Effekt von Staub und Ruß dürfte künftig größer werden, schätzt Ali Hoshyaripour. Der Troposphärenforscher vom Karlsruher Institut für Technologie begründet das mit zwei Faktoren. »Durch zunehmende Trockenheit im Sommer gibt es mehr Flächen, von denen Staub aufgenommen und fortgeweht werden kann, insbesondere im Mittelmeerraum.« Zum anderen dürften Vegetationsbrände zunehmen und so mehr Rußpartikel freisetzen.
Das hat jedoch auch einen entgegengesetzten Effekt. Die Partikel trüben zugleich die Atmosphäre, es erreicht weniger Strahlungsenergie den Boden, was den Eismassen zugutekommt. »Insgesamt kann man aber erwarten, dass die Ablagerung der Partikel den größeren Effekt hat und die Schmelze antreibt«, sagt Hoshyaripour. Das zeigten unter anderem Untersuchungen in den Rocky Mountains.
Nicht allein unbelebte Partikel beeinflussen die Gletscherschmelze, sondern auch Eisalgen, bekannt geworden durch das Phänomen »Blutschnee«. Es handelt sich um Einzeller, die sich mit Pigmenten vor der UV-Strahlung schützen und das Eis rot erscheinen lassen. »Ihr Stoffwechsel basiert auf der Fotosynthese«, sagt Birgit Sattler, die die Mikroben seit Jahren erforscht. Nährstoffe erhielten sie »aus abgestorbenen Zellen anderer Organismen, die auf dem Gletscher zersetzt werden, sowie über angewehten Gesteinsstaub, der teilweise Phosphorverbindungen enthält, die sie nutzen können«.
Höhere Temperaturen begünstigten das Algenwachstum deutlich, sagt die Biologin. Auch ein Mehr an Schmelzwasser, das zusätzlich Nährstoffe heranführt, spiele eine Rolle. Das führt dazu, dass die Algen sich stark vermehren und die Gletscher färben – mit ähnlicher Wirkung wie die Staubpartikel. Auf Grönland wird das Phänomen schon länger erforscht. Es zeigte sich, dass die Algen das Rückstrahlvermögen um bis zu 13 Prozent verringern können. »In den Alpen sind die Forschungen noch sehr jung«, sagt Sattler. »Unsere Untersuchungen legen aber nahe, dass der Effekt hier sicher die gleiche Größenordnung erreicht.« Sie vermutet, dass das Algenwachstum mit dem Klimawandel zunimmt – und damit die Verdunklung des Eises und schließlich dessen Schmelzverluste.
Eis ohne Zukunft
Nimmt man alle Faktoren zusammen, ergibt das ein deprimierendes Bild für die Zukunft. »Aus Modellsimulationen wird klar, dass es weiter Verluste bei den Gletschern geben wird«, sagt der ETH-Glaziologe Daniel Farinotti. »Selbst wenn das 1,5-Grad-Ziel erreicht wird, verlören die Alpengletscher bis zum Ende des Jahrhunderts rund 60 Prozent ihres Gesamtvolumens.« Bei stärkerer Erwärmung werde die Schmelze umso heftiger sein. »Für die Gletscher der Alpen zählt wirklich jedes halbe Grad, um das wir die Erwärmung bremsen«, sagt der Forscher.
Fünf davon befinden sich in Deutschland, ihr Schicksal scheint unabwendbar. »In den 2030er Jahren werden vermutlich alle verschwunden sein«, sagt Christoph Mayer von der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Der Höllentalferner im Westen des Wettersteingebirges werde wohl am längsten bestehen. »Er wird maßgeblich von Lawinen gespeist und befindet sich teilweise in einem steilen Tal und damit im Schatten.«
Die fünf deutschen Gletscher sind allerdings – anders als die größeren und höher gelegenen Eismassen in den Nachbarländern – ohnehin nur zeitweilige Erscheinungen in der Erdgeschichte. Seit dem Ende der letzten Eiszeit vor 18 000 Jahren sind die Gletscher im heutigen Bayern wohl mehrfach verschwunden und zurückgekehrt, sagt Mayer. »Eventuell waren sie im Klimaoptimum des Mittelalters nicht vorhanden und bildeten sich erst in der Kleinen Eiszeit ab dem 15. Jahrhundert.« Ihre Entstehungszeit einzugrenzen, könnte ausgerechnet dank ihres Rückzugs gelingen. »Vielleicht finden wir Holz, das mittels Dendrochronologie oder C14-Methode datiert werden kann, dann lässt sich sagen, wann die Vegetation vom Eis verdrängt wurde.«
Die Gletscherarchäologie könnte in den Jahren des Schmelzens bedeutsame Funde machen, man denke nur an »Ötzi«. Doch es muss schnell gehen. »Es wird meist organisches Material frei gelegt«, sagt Mayer. »Das zersetzt sich rasch und muss zügig erfasst werden.« Die Bayerische Akademie der Wissenschaften will deshalb diese Forschung stärker ausbauen, um bei Funden schnell vor Ort zu sein und viel daraus zu lernen. Neben den – möglichen – Erfolgen für die Archäologie bringt der Gletscherschwund erhebliche Probleme. »Gletscher kühlen ihre Umgebung«, sagt Mayer. »Fehlen sie, wird es wärmer, was Flora und Fauna beeinflusst.« Auch der Wasserhaushalt des Gebirges ändert sich, wie in diesem Sommer bereits zu beobachten war: Der Lech führte kaum Wasser, stellenweise wanderten Menschen auf der Flusssohle. »Der Fluss war leer, weil es oberhalb nur kleine Gletscher gibt«, erläutert der Forscher. Ganz anders der Inn. »Der war voll, weil große Gletscher in seinem Einzugsgebiet liegen und im Sommer viel Schmelzwasser geliefert haben.«
Zukunft ohne Eis
Wie beim Inn sorgen Gletscher vielerorts für ausreichend Wasser. »Sie liefern es gerade dann, wenn es besonders gebraucht wird: im Sommer«, sagt Farinotti. Für die Landwirtschaft, zur Kühlung von Kraftwerken, für Wasserkraftwerke. »Die inneren Täler des Wallis und das Rhonetal sind besonders anfällig. Noch erhalten sie genug Gletscherwasser, künftig wird es dort trockener sein.«
Das Tauen betrifft nicht nur die Gletscher, sondern den gesamten Untergrund im Hochgebirge. Das kann laut Farinotti die Standsicherheit beeinflussen und das Risiko für Felsstürze erhöhen. »Die Landschaft wird sich stark verändern, sie wird zunehmend den Dolomiten ähneln«, sagt er. »Wo die Gletscher weichen, werden bis 2100 wohl hunderte Seen zum Vorschein kommen.« Sie könnten neue Ziele sein für den Tourismus, der sich ebenso anpassen muss.
Bislang versucht die Branche, die einen erheblichen Teil der alpinen Wirtschaft abdeckt, das Vorhandene irgendwie zu retten: Mit großen Planen wird das Eis vor der Sommersonne geschützt, um die Standsicherheit von Skiliften, den Zugang zu Pisten oder Attraktionen wie der Eisgrotte am Rhonegletscher zu gewährleisten.
Könnte man das nicht ausweiten auf andere Bereiche? Farinotti winkt ab. Die Gesamtfläche der Gletscher sei um ein Vielfaches größer. »Das ist technisch unmöglich, ästhetisch abscheulich, umwelttechnisch bedenklich und extrem kostspielig.« Ähnlich äußern sich auch Mayer und Sattler. An neuralgischen Punkten sind die Planen hilfreich, und dort wird weiterhin an Verbesserungen geforscht, wie es die Innsbrucker tun. Mehr geht nicht.
»Immerhin ist die Verwundbarkeit der Alpen mittlerweile in der Gesellschaft angekommen, es wird viel darüber diskutiert«, sagt Sattler. Der Eissturz an der Marmolata im Juli, bei dem elf Menschen starben, sei so ein Anlass gewesen. »Das ist nicht weit weg, sondern in unserem unmittelbaren Lebensraum.« Die Forscherin will das Thema weiter in die Bevölkerung bringen. Sie unterstützt unter anderem Citizen-Science-Projekte, bei denen es um Probennahme von Mikroplastik geht. »Und ich arbeite mit Schulen zusammen«, sagt sie. »Denn die Kinder sind die Entscheidungsträger von morgen.«
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