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Sonnensystem: Frühes Leben dank Monstergezeiten?

Bereits wenige Millionen Jahre nach dem gigantischen Einschlag eines marsgroßen Protoplaneten auf der frühen Erde kühlte unser Heimatplanet ab, und es bildete sich flüssiges Wasser an der Erdoberfläche. Dieses Wasser hätte allerdings schon bald gefrieren müssen, denn die junge Sonne strahlte nur mit 70 Prozent ihrer heutigen Leuchtkraft. Neueste Forschungsergebnisse zeigen, dass der Mond eine bisher unterschätzte Rolle bei der Bildung flüssigen Wassers und für die Entstehung des Lebens gespielt haben könnte.
Künstlerische Darstellung des erdgroßen Exoplaneten LP 791-18 d
Die junge Erde kurz nach ihrer Entstehung (Illustration).

Es muss ein unwirklicher Anblick gewesen sein. Wie ein Riesenplanet prangte er am Himmel: glühend, zerkratert von andauernden Asteroideneinschlägen und in ständiger Bewegung. Innerhalb von nur wenigen hundert Jahren hatte sich aus den Trümmern des Einschlags eines marsgroßen Protoplaneten auf der frühen, gerade mal 69 Millionen Jahre alten Erde dieser neue Körper im Orbit um unseren geschmolzenen Heimatplaneten gebildet: der Erdmond.

Seine Entstehung – das zeigen moderne Computersimulationen – fand in einer Entfernung von etwa vier Erdradien vom Erdmittelpunkt statt. Verglichen mit seiner heutigen Entfernung von rund 60 Erdradien war er der Erde mit einem Abstand von etwa 19 000 Kilometern also extrem nahe. Sein scheinbarer Durchmesser am Himmel betrug damals ungefähr 7,8 Grad und war damit knapp 15-mal so groß wie heute. Seine Umlaufperiode, die heutzutage 27,3 Tage beträgt und mit dem verknüpft ist, was wir heute einen Monat nennen, betrug seinerzeit gerade einmal zehn Stunden.

Natürlich drängt sich die Frage danach auf, durch welchen Prozess der Mond innerhalb von 4,5 Milliarden Jahren so weit nach draußen driften konnte. Die Antwort darauf ist unmittelbar verbunden mit einer der spannendsten Fragen im Zusammenhang mit der Entstehung des Lebens auf der Erde.

Gezeiten

Betrachten wir vor unserem geistigen Auge zunächst ein vereinfachtes Modell des Erde-Mond-Systems und lassen wir den Einfluss der Sonne der Einfachheit halber außen vor. Zwischen Mond und Erde wirkt die Gravitationskraft. Ihre Wirkung nimmt mit dem Quadrat des Abstands ab. Der Mond zieht also an der ihm zugewandten Seite der Erde mehr als an der von ihm abgewandten Hemisphäre. Dies führt zu einem Auftürmen der beweglichen Wassermassen auf der Erde in Richtung des Mondes. Und da die Erde sich deutlich schneller dreht, als der Mond ihr auf seinem Weg im Orbit folgt, wandert dieser Flutberg sozusagen um die rotierende Erde. Er zeigt einfach immer in Richtung des Mondes, während die Erde sich unter ihm hindurch dreht.

Darüber hinaus rotiert die Erde nicht nur innerhalb eines Tages um ihren eigenen Schwerpunkt, sondern sie umrundet auch den gemeinsamen Schwerpunkt des Erde-Mond-Systems innerhalb eines Monats. Dies führt zu einer Fliehkraft, die in jedem Punkt der Erde zwar gleich groß ist, aber auf der vom Mond abgewandten Erdseite von der dort schwächeren Gravitationskraft des Mondes auch weniger kompensiert wird, wodurch sich ein zweiter, vom Mond abgewandter Flutberg auf der Erde bildet. Im offenen Ozean sind diese beiden Flutberge ungefähr 60 Zentimeter hoch.

Wir wissen zwar nicht mit Bestimmtheit, wie früh in der Erdgeschichte es große, offene Wasservorkommen wie die Ozeane gab. Aber falls die Erde etwa 100 Millionen Jahre nach ihrer Entstehung über Ozeane verfügte, dann hätte die Gravitationskraft des nahen Erdmonds wahre Monstergezeiten erzeugt, denn die Höhe der Tiden ist proportional mit dem Abstand zwischen Erde und Mond zur dritten Potenz skaliert. Die damaligen Wellenberge wären also 0,6 Meter × (60 / 4)³ ≈ 2000 Meter hoch gewesen. Ob es solche zwei Kilometer hohen Riesenwellen jemals gab, bleibt wegen fehlender geologischer Nachweise vorerst Spekulation, hilft aber für das Verständnis der enormen Gezeitenkraft, die damals geherrscht hat.

Solare Luminosität und Oberflächentemperatur der Erde

Das linke Diagramm zeigt die theoretische Evolution des Energieausstoßes der Sonne, basierend auf Modellrechnungen für die Evolution sonnenähnlicher Sterne. Dabei ist die Zeit entlang der unteren x-Achse gemessen von der Geburt der Sonne an, während die obere x-Achse die negative (also in die Vergangenheit gerichtete) Zeit von heute aus angibt (die Skalen sind logarithmisch).

Solare Luminosität und Oberflächentemperatur der Erde

Dabei steht »Ga« im Englischen für »giga years ago« (deutsch: Milliarden Jahre in der Vergangenheit). Die Werte für die solare Luminosität sind auf den heutigen Wert normiert. Das rechte Diagramm veranschaulicht unsere Berechnungen für den zeitlichen Verlauf der Oberflächentemperatur auf der Erde, der aus der Evolution der Sonne folgt.

Die blaue Linie zeigt das Ergebnis für die Anwendung des Stefan-Boltzmann-Gesetzes auf die Erde unter vereinfachten Annahmen für den atmosphärischen Treibhauseffekt. Trotz dieser Korrektur finden wir, dass die Erde für die ersten etwa 1,8 Milliarden Jahre nach der Entstehung der Sonne im globalen Mittel gefroren gewesen sein sollte, was gemeinhin als das Paradoxon der schwachen jungen Sonne bekannt ist (blaue Fläche). Die rote Fläche markiert den Beitrag der Gezeitenheizung in der frühen Erde durch den nahen Mond. Die Heizung durch den Einschlag, welcher den Mond hervorbrachte, ist hier nicht berücksichtigt. Der Effekt dauerte weniger als 100 Millionen Jahre.

Unter den beiden oben erläuterten, vom Mond erzeugten – und im Übrigen unter zwei weiteren von der Sonne verursachten – Flutbergen rollt die Erde seit jeher täglich hindurch. Das Ganze erzeugt Reibung, die Erde wird minimal durch die Gezeiten erwärmt, und diese Wärme wird ins Weltall abgestrahlt. Wärme ist eine Form von Energie. Das Erde-Mond-System verliert effektiv permanent mechanische Energie. Dieser Energieverlust macht sich bemerkbar durch die Verlangsamung der Erdrotation. Da der Gesamtdrehimpuls des Erde-Mond-Systems aber eine physikalische Erhaltungsgröße ist, vergrößert sich im gleichen Maße, wie die Erde Rotationsdrehimpuls verliert, der Orbitaldrehimpuls des Mondes. Er wird also auf einen höheren Orbit gehoben. Und damit ist auch das Anwachsen des Mondorbits von anfänglich 4 auf heute etwa 60 Erdradien erklärt. Im Übrigen zeigen Laserexperimente mit Reflektoren auf der Mondoberfläche, welche die Astronauten der Apollo-Missionen seinerzeit aufgestellt haben, dass sich der Mond heute um knapp vier Zentimeter pro Jahr von der Erde entfernt.

Die mathematische Ausformulierung des Gezeitenphänomens erlaubt uns die Berechnung der gesamten per Gezeitenheizung abgestrahlten Wärme in der Erde seit Entstehung des Mondes. Diesen Wert haben wir zu 3 × 1031 Joule bestimmt. Zum Vergleich: Das entspricht der Energie, welche die Sonne in sieben Stunden als Wärme abstrahlt. 99,3 Prozent der gesamten anfänglichen Rotationsenergie des Erde-Mond-Systems wurden auf diese Weise bereits abgestrahlt.

Ein Großteil der Gezeitenheizung wurde gleich in den ersten 100 Millionen Jahren freigesetzt, in der Größenordnung von zehn Watt pro Quadratmeter. Heutzutage beträgt der gesamte Energiefluss aus dem Inneren der Erde weniger als 0,1 Watt pro Quadratmeter, hauptsächlich gespeist durch radioaktive Zerfälle im Erdinneren und Restwärme aus der Akkretion der Erde. Die anfänglich ungefähr 100-mal stärkere Gezeitenheizung hat die Erdoberfläche um bis zu +5 Grad Celsius erwärmt. Aber hatte das einen nennenswerten Effekt auf die Erdgeschichte?

Paradoxon der schwachen jungen Sonne

Wir sind weit davon entfernt, überhaupt genau zu wissen, wann das Leben auf der Erde entstanden ist. Da der Übergang von unbelebter zu belebter Materie als kontinuierlich verstanden werden kann, ist es wahrscheinlich ohnehin sinnlos, ein exaktes Datum in der Erdgeschichte dafür zu benennen. Die frühesten Hinweise auf Leben findet man unter anderem in fossilen mikrobiellen Matten, also Ablagerungen von biologischem Material, die sich heute in den Sedimentschichten mit einem Alter von bis zu 3,5 Milliarden Jahren zeigen. Andere, eher indirekte Hinweise können als Kennzeichen des Lebens vor bis zu 3,8 Milliarden Jahren interpretiert werden.

All diese und weitere Hinweise auf noch früheres Leben auf der Erde sind immer auch mit indirekten (chemischen) oder direkten (geologischen) Hinweisen auf das Vorkommen flüssigen Wassers verknüpft. Für die Entstehung mikrobieller Matten etwa ist flüssiges Wasser essenziell. So zeigt beispielsweise die Analyse von Sauerstoffisotopen in 4,4 Milliarden Jahre alten Zirkonkristallen, dass zu dieser Zeit flüssiges Wasser verfügbar gewesen sein muss. Das war nur etwa 100 Millionen Jahre nach der Entstehung des Mondes, durch welche die komplette Erdoberfläche aufgeschmolzen war. Jegliches flüssige Wasser dürfte in der anfangs sehr dichten Kohlendioxidatmosphäre der Erde unter hohem Druck von bis zu 500 bar gestanden haben und sogar über 100 Grad Celsius heiß gewesen sein. Das Phasendiagramm von Wasser erlaubt bei diesem Druck den flüssigen Zustand sogar bis 350 Grad Celsius.

Energiebalance auf der Erde

Unser modernes Verständnis von der grundlegenden Physik zur Temperatur (T) an der Erdoberfläche geht auf das Stefan-Boltzmann-Gesetz zurück. In unserem Zusammenhang lässt es sich schreiben als

$$ T = \left(\frac{F_{\mathrm{em}}} {σ_{\mathrm{SB}}}\right)^{1/4}, $$

wobei Fem der von der Erde emittierte Energiefluss und σSB = 5,67 × 10–8 W/(m2K4) die Stefan-Boltzmann-Konstante ist. In der heutigen Erde ist Fem bei Weitem dominiert von der Reemission absorbierten Sonnenlichts und lässt sich berechnen als

$$ F_{\mathrm{em}} = \frac{L_\odot (t)}{4π(1 \mathrm{AU})^2} \frac{(1 – α)ε}{f} {\left(1+\frac{3}{4} τ \right)}. $$

Dabei ist L die Luminosität der Sonne, AU ist die Astronomische Einheit von 150 Millionen Kilometern, α ist die Albedo (oder Reflektivität) der Erdoberfläche, deren heutiger Wert durch Messungen zu 0,3 bestimmt ist. Weiterhin ist f = 4 ein Faktor für die Verteilung der Sonneneinstrahlung auf die Erde, deren Oberfläche viermal so groß ist wie ihr Querschnitt. Die Emissivität der Erde ist durch Beobachtungen bestimmt auf ε= 0,95. Schließlich bleibt die über alle Wellenlängen gemittelte graue Opazität der Erdatmosphäre als letzter freier Parameter.

Setzen wir all diese Werte in die obere Gleichung für Fem ein, so können wir die global gemittelte Oberflächentemperatur der modernen Erde von +14°C reproduzieren, wenn wir τ = 0,925 setzen.

In der wellenlängenunabhängigen Konstante τ beinhaltet unser Modell somit immerhin indirekt auch den eigentlich wellenlängenabhängigen Treibhauseffekt der Erde, welcher hauptsächlich durch Kohlendioxid (CO2), Wasserdampf (H2O) und Methan (CH4) verursacht wird. Mit der Wahl von τ = 0,925 ist unser Modell sozusagen an der modernen Erde geeicht. Allerdings reicht die Zweckmäßigkeit dieser Eichung nur so weit in die Erdgeschichte zurück, wie die Atmosphäre eine ähnliche Zusammensetzung hatte wie heute und einen Treibhauseffekt von ungefähr +32°C hervorbrachte.

Nach geologisch gesehen recht kurzer Zeit von 10 bis 100 Millionen Jahren sollte das atmosphärische Kohlendioxid durch Bildung von Karbonatgesteinen größtenteils in die Erdkruste eingegangen sein. Der Verlust des enormen Treibhauseffekts sollte zu einer raschen Abkühlung der Erdoberfläche geführt haben. Wie weit genau die Abkühlung gereicht haben sollte, lässt sich mit einfachen physikalischen Modellen abschätzen.

Zur Abschätzung des globalen Mittelwerts der Erdtemperatur ist es zunächst notwendig, sich die Evolution der Sonne anzuschauen. Auch wenn wir keine historischen Messdaten aus der Frühgeschichte der Sonne haben, so zeigen Beobachtungen von jungen, sonnenähnlichen Sternen sowie moderne Computermodelle, dass die Rate des anfänglichen Energieausstoßes in der Sonne, ihre so genannte Luminosität, nur etwa 70 Prozent ihres heutigen Wertes von 3,8 × 1026 Watt pro Sekunde betrug. Daraus ergibt sich eine gemittelte Oberflächentemperatur auf der Erde von ungefähr –10 Grad Celsius während der ersten 100 bis 200 Millionen Jahre nach der Entstehung der Sonne (siehe »Solare Luminosität und Oberflächentemperatur der Erde«). Die Erde sollte also schon bald nach dem Einschlag, der zur Entstehung des Mondes führte, komplett zugefroren sein. Dieser Widerspruch zu den geologischen Hinweisen auf flüssiges Wasser auf der frühen Erde ist in den 1970er Jahren bekannt geworden als Faint Young Sun Paradox (deutsch: Paradoxon der schwachen frühen Sonne).

Bisherige Erklärungen, die dieses Paradoxon aufzulösen versuchten, waren auf einen enormen Treibhauseffekt fokussiert, etwa durch eine dichte Kohlendioxidatmosphäre mit einem Partialdruck von bis zu 0,3 bar. Das entspricht etwa dem 1000-Fachen des heutigen Wertes und dürfte sich nicht über mehr als einige hundert Millionen Jahre in der Erdatmosphäre gehalten haben. Alternativ wurde auch schon Methan als Treibhausgas auf der frühen Erde in Betracht gezogen. Es wird heutzutage zum weitaus größten Teil durch Leben erzeugt. Diese Erklärung allerdings würde voraussetzen, dass das Leben selbst dafür benötigt worden wäre, um die Bedingungen zu schaffen, in denen es entstehen kann. Das führt den Beitrag von Methan zur Lösung des Paradoxons ad absurdum.

Am plausibelsten scheint im Angesicht unserer neuen Resultate die Kombination aus einem starken, womöglich kohlendioxidgetriebenen Treibhauseffekt und der durch den nahen Erdmond verursachten Gezeitenwärme. Diese Lösung passt insofern besonders gut zum Paradoxon der schwachen jungen Sonne, als die Gezeitenheizung dann besonders stark war, nämlich während der ersten 100 bis 300 Millionen Jahre nach dem mondbildenden Einschlag, als die Sonne noch besonders schwach leuchtete. Praktisch im gleichen Maße, wie die Gezeitenwärme abnahm, nahm die Erderwärmung durch die heller werdende Sonne zu. Die Gezeitenheizung mildert auch die extremen Anforderungen an den Treibhauseffekt und macht die Kombination mehrerer Effekte deutlich plausibler. Somit dürfte unser Mond einen entscheidenden Beitrag zur Bildung flüssigen Wassers und zur Entstehung des Lebens auf der Erde geleistet haben.

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  • Quellen

Duda, J.-P. et al.: A rare glimpse of Paleoarchean life: Geobiology of an exceptionally preserved microbial mat facies from 3.4 Ga Strelley Pool Formation, Western Australia. PLoS One 11, 2018, DOI:10.5194/bg-15–1535–2018

Heller, R. et al.: Habitability of the early Earth: Liquid water under a faint young Sun facilitated by strong tidal heating due to a closer Moon. Paläontologische Zeitschrift 95, 2007, https://arxiv.org/abs/2007.03423

Sagan, C., Mullen, G.: Earth and Mars: Evolution of Atmospheres and Surface Temperatures. Science 177, 1972, DOI:10.1126/science.177.4043.52

Shapiro, A. V.: Solar-cycle irradiance variations over the last four billion years. Astronomy & Astrophysics 636, id. A83, 2020, https://arxiv.org/abs/2002.08806

Zahnle, K. et al.: Emergence of a Habitable Planet. Space Science Reviews 129, 2007, DOI:10.1007/s11214–007–9225-z

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