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News: Sprünge in der Geschichte

Alljährlich strömen am Pfingstdienstag Scharen von Menschen nach Echternach, einer kleinen, mittelalterlichen Ortschaft im Osten Luxemburgs. Grund der Reise ist die weithin bekannte Springprozession, bei der die Menschen von einem aufs andere Bein hüpfend von der Abtei durch das Städtchen zum Grab des Abteigründers Willibrord ziehen. Diese alte Tradition hat ihren Ursprung womöglich in einer neurologischen Erkrankung, die unfreiwillige Zuckungen auslöst.
Die Wurzeln der Springprozession Echternachs sollen bis in das späte achte Jahrhundert zurückreichen. Damals wurden Überlieferungen zufolge Menschen mit Tremor und Lähmung wundersamerweise am Grab von Willibrord geheilt. Als sich diese Nachricht verbreitete, pilgerten die Menschen von weither zu der Ruhestätte, wo sie tanzend um Schutz vor oder Heilung von neurologischen Störungen baten. Bald darauf wurde Willibrord zum Schutzpatron von Patienten mit neurologischen Erkrankungen.

Als dann im 14. Jahrhundert in Mitteleuropa die Pest wütete, tanzten Christen wie Heiden gleichermaßen in der Hoffnung, verschont zu werden. Die Tänze, getragen von religiösem Eifer, heidnischer Tradition oder Aberglaube, lösten wahre Epidemien von Massenhysterie aus. Später interpretierten Neurologen dies als Ausbrüche von hysterischer Chorea, einer neurologischen Störung, die ohne Ursache unfreiwillige tanzartige Zuckungen auslöst. Chorea stammt aus dem Griechischen und bedeutet 'Tanz'.

Diese Bewegungen wurden als Veitstanz bekannt, wobei der Begriff später auch synonym für Sydenhams Chorea verwandt wurde, einer in der Kindheit auftretenden Krankheit, die mit rheumatischem Fieber verknüpft ist. Heutzutage ist die Erbkrankheit Huntingtons Chorea der häufigste Auslöser solcher Bewegungsstörungen. Auch bei Parkinson-Patienten, die mit Levodopa behandelt werden, treten gelegentlich ähnliche Symptome als Nebenwirkung auf.

Anfang des 20. Jahrhunderts reiste der Neurologe Henri Meige zur Springprozession von Echternach – als Zuschauer, aber mit wissenschaftlichen Hintergedanken. Er konnte jedoch keine Anzeichen von Chorea bei den Teilnehmern entdecken. Das führte er auf zwei Gründe zurück: Zum einen wurden Menschen mit epileptischen oder hysterischen Anfällen sofort von den Sicherheitskräften entfernt. Zum anderen konnten Kranke ihre Verwandten schicken oder sogar einen professionellen Tänzer anheuern, um ihren Platz einzunehmen.

Meige beschäftigte sich auch mit den Veitstanz-Epidemien des Mittelalters. Seiner Ansicht nach beeinflußten das Singen, Tanzen und Lachen während der Epidemien die Gehirnfunktion, woraus dann der Veitstanz im Mittelalter entstanden sein könnte. Manche Menschen hielt er für anfälliger als andere.

Paul Krack von der Universität Kiel – der in seiner Kindheit in Luxemburg selbst an dieser Prozession teilnahm – stellt in einem historischen Überblick den Zusammenhang zwischen neurologischen Störungen und der alljährlichen Springprozession in Echternach dar (Neurology vom 10. Dezember 1999). Er ist von den Schlußfolgerungen Meiges zum Ursprung der mittelalterlichen Veitstanzepidemien überzeugt. "Gefühle, Verhalten und der Bewegungsapparat sind im Gehirn sehr eng verknüpft", meint er. "Das kann man an Parkinson-Patienten sehen. Im kleineren Maßstab sieht man das auch an der freudigen Erregung, die ein Mensch beim Tanzen, Singen und Lachen auf einer Party empfindet."

Die Menschen heute folgen der Prozession aus Spaß oder um für einen behinderten Verwandten zu beten, erklärt Krack. Für Christopher Goetz vom Rush Medical College in Chicago zeigt sich hier aber immer noch der enge Zusammenhang zwischen der Gesellschaft und der frühen Medizin und auch zwischen christlichen und heidnischen Traditionen.

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