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Stickstoff: Das Schlaraffenland-Experiment

Seit rund hundert Jahren zapft die Menschheit den Stickstoffvorrat in der Luft technisch an. Wohl noch nie in der Erdgeschichte war so viel biologisch verfügbarer Stickstoff im Umlauf wie heute, mit drastischen Folgen nicht nur für den planetaren Stoffwechsel.
Eine agrarische Landschaft aus der Luft, mit tief stehender Sonne im Hintergrund.

Im Jahr 1909 begann nach Ansicht von manchen Wissenschaftlern das »wohl größte Geoengineering-Experiment aller Zeiten«: In einem Labor in Karlsruhe gelang es dem Chemiker Fritz Haber mit seinem Team, molekularen Stickstoff (N2) aus der Luft in Ammoniak (NH3) umzuwandeln. Carl Bosch von der BASF holte Habers Verfahren aus dem Labor in Rekordzeit in die Fabrikhalle. Nach wenigen Jahren nahm in Oppau am Rhein die erste Stickstofffabrik ihren Betrieb auf, die unter hohem Druck und hohen Temperaturen Ammoniak in industriellem Maßstab herstellte. Denn Ammoniak war und ist ein begehrter Rohstoff zur Herstellung von Düngemitteln und Sprengstoff.

Seitdem ist die Zahl der Ammoniakanlagen kontinuierlich angewachsen. Ammoniak ist nach Schwefelsäure die weltweit am meisten produzierte Chemikalie. Das Haber-Bosch-Verfahren zur Herstellung von »Brot aus Luft« versorgt Schätzungen zufolge die Hälfte der Menschheit mit lebensnotwendigem Stickstoff.

»Das Problem mit dem Haber-Bosch-Verfahren ist, dass es uns quasi zu Göttern über den Stickstoffkreislauf auf der Erde gemacht hat«, sagt der Erdsystemwissenschaftler und Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Johan Rockström. »Wir bringen mehr reaktiven Stickstoff auf der Erde in Umlauf, an Land und in den Meeren, als alle natürlichen Prozesse zusammen.«

Von der Mangelware zum Überfluss

Über weite Teile der Erdgeschichte hinweg waren reaktive Formen von Stickstoff wie Ammoniak (NH3), Nitrat (NO3-), Stickstoffdioxid (NO2) oder Aminosäuren unter Lebewesen eine gefragte Mangelware. Sie sind eine biologische Währung, und bis vor Kurzem war es in vielen Ökosystemen auf dem Planeten das Nährelement Stickstoff, das das Wachstum von Pflanzen limitierte.

»Wir bringen mehr reaktiven Stickstoff auf der Erde in Umlauf als alle natürlichen Prozesse zusammen«Johan Rockström, Leiter des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung

Doch aus Landwirtschaft, Verkehr, Industrie und Kraftwerken landet über die Luft und das Wasser viel biologisch verfügbarer Stickstoff flächendeckend in der Umwelt. Neben der Ammoniaksynthese trägt zu diesem Überfluss auch noch die Verbrennung fossiler Energieträger unter hohen Temperaturen bei, zum Beispiel in Dieselfahrzeugen, aus deren Auspuff dann Stickoxide strömen. Durch die Einträge sind schnell wachsende, konkurrenzstarke Pflanzenarten im Vorteil, sie verdrängen unter anderem in europäischen Wäldern zunehmend genügsame Arten.

Etliche Studien weisen auf einen Verlust von Biodiversität durch Stickstoffüberdüngung hin, sowohl bei Pflanzen als auch bei Insekten. In den Weltmeeren begünstigt der Eintrag von reaktivem Stickstoff in der Nähe von Küsten Algenblüten und dadurch die Ausbreitung von sauerstofffreien Todeszonen. Deren Zahl ist laut World Ocean Assessment seit 1960 von 10 auf mehr als 700 angestiegen. Schätzungen zufolge sind rund 80 Prozent der Meere an den Küsten von Eutrophierung, einem Stickstoffüberangebot, betroffen.

Wie drastisch der Eingriff in den Stickstoffkreislauf ist, verrät ein Vergleich mit dem Kohlenstoffkreislauf. Durch menschliche Aktivitäten ist der Gehalt des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) in der Luft aktuell so hoch wie seit drei Millionen Jahren nicht. Im Hinblick auf Stickstoff reicht es allerdings nicht aus, Jahrmillionen zurückzugehen. »Die Haupt-Reaktionswege des modernen Stickstoffkreislaufs haben sich vor etwa 2,5 Milliarden Jahren entwickelt. Seitdem hat vermutlich nichts einen so großen Effekt auf diesen Stoffkreislauf gehabt wie die Menschen«, sagt der Biogeochemiker Donald E. Canfield von der Süddänischen Universität in Odense.

Der Stickstoffkreislauf vor Haber und Bosch

Zwar besteht die Erdatmosphäre schon seit Jahrmilliarden zu größeren Teilen aus molekularem Stickstoff. Doch im Gegensatz zu quasi allen anderen Stickstoffverbindungen ist N2 durch eine Dreifachbindung zwischen den beiden N-Atomen chemisch extrem stabil, entsprechend unreaktiv und damit biologisch nicht ohne Weiteres verwertbar.

Blitze schaffen es, Luftstickstoff in Stickoxide umzuwandeln und so für Lebewesen verwertbar zu machen. Doch bis ins 20. Jahrhundert hinein lief der Nachschub an reaktivem Stickstoff primär über einen biologischen Prozess: Vermutlich schon vor rund 3,2 Milliarden Jahren verfügten die ersten Mikroorganismen über ein besonderes Enzym, die Nitrogenase. Vorausgesetzt, sie wird mit genügend Energie versorgt, wandelt sie N2 in Ammoniak um und macht es damit verwertbar – ganz ohne hohen Druck und hohe Temperaturen. Diese Stickstofffixierung ist zusammen mit der Fotosynthese der wohl wichtigste biologische Prozess. Der eine sichert für Lebewesen den Nachschub mit Kohlenstoff, der andere mit Stickstoff.

Doch möglicherweise sind sich die beiden lebensnotwendigen Vorgänge in der Erdgeschichte über rund zwei Milliarden Jahre hinweg in die Quere gekommen. Das vermutet der Biochemiker John Allen vom University College London. Zusammen mit einer Kollegin und einem Kollegen aus Düsseldorf hat er dazu 2019 eine Theorie veröffentlicht. Der gedankliche Ausgangspunkt: Das Enzym Nitrogenase reagiert sehr empfindlich auf molekularen Sauerstoff (O2) in seiner Umgebung und funktioniert dann nicht mehr. Der entsteht aber als Abfallstoff bei der Fotosynthese. »Durch ihre Fotosynthese schnitten sich die Mikroorganismen quasi selbst die Stickstoffnachlieferung mit Hilfe der Nitrogenase ab«, erklärt John Allen. In Laborversuchen zeigte sich: Problematisch wird es, wenn mehr als rund zwei Prozent O2 in der Umgebungsluft sind. Das entspricht dem Sauerstoffgehalt der Erdatmosphäre über etwa zwei Milliarden Jahre hinweg.

Das Dilemma löste sich erst, als vor mehr als 500 Millionen Jahren die ersten Pflanzen das Land eroberten. Sie betrieben Fotosynthese in ihren Blättern, räumlich getrennt von der Stickstofffixierung. Die übernahmen Mikroorganismen im Boden beziehungsweise an den Wurzeln der Pflanzen. Dort waren sie besser vor den steigenden Sauerstoffgehalten in der Luft geschützt. In Lebensgemeinschaften profitierten sowohl Pflanzen als auch Mikroben vom Austausch von Zucker- und Stickstoffverbindungen, der Sauerstoffgehalt in der Atmosphäre konnte weiter steigen bis auf die heutigen knapp 21 Prozent, und die Entwicklung neuer Arten beschleunigte sich.

Wie ein Farn die Erde kühlte

Diese Art von Symbiose zwischen CO2 fixierenden Pflanzen und Stickstoff fixierenden Mikroben steuert auch das Erdklima mit. So vermuten Forschende, dass sich vor rund 50 Millionen Jahren Azolla-Wasserfarne massenhaft vermehrten, die in Symbiose mit Stickstoff fixierenden Zyanobakterien der Gattung Nostoc leben.

In einem salzarmen, abgetrennten Meeresbereich in der Arktis fanden sie optimale Wachstumsbedingungen, wo anderen Pflanzen der Stickstoff fehlte – und bildeten dank ihrer bordeigenen Stickstofflieferanten einen riesigen Teppich. Über 800 000 Jahre hinweg zog ihre enorme Biomasse große Mengen CO2 aus der Luft. Das Ergebnis: Das Klima wurde kühler, die vorherige Warmzeit ging in das Eiszeitalter über, das offiziell bis heute anhält.

Wasserfarn | Diese kleinen Pflanzen, hier die Art Azolla imbricata, bedecken die Oberfläche von geeigneten Gewässern. Einst könnten sie das Klima der Erde mitbestimmt haben.

Der menschliche Eingriff in den heutigen Stickstoffkreislauf wirkt sich ebenfalls aufs Klima aus – einerseits kühlend, andererseits erwärmend. Zu einer zeitweiligen Abkühlung tragen unter anderem gesundheitsschädliche Aerosole aus Stickoxiden und Ammoniak bei. Außerdem wachsen in begrenztem Ausmaß Wälder in bestimmten Weltregionen durch die menschlichen Stickstoffeinträge besser und binden so etwas mehr CO2

Erderwärmend wirkt dagegen vor allem Lachgas (N2O). Das Treibhausgas ist 271-mal so wirksam wie Kohlendioxid. Es entsteht durch natürliche mikrobielle Prozesse in Böden und Gewässern, unter anderem bei der so genannten Denitrifikation. Dabei wandeln Mikroben Nitrat zurück in molekularen Luftstickstoff um. Dieser Vorgang trägt dazu bei, den Kreislauf zwischen unreaktivem N2 in der Atmosphäre und reaktivem Stickstoff in der Biosphäre zu schließen. Ohne Denitrifikation und ähnliche Prozesse würde sich auf der Erde möglicherweise noch viel mehr Stickstoff in reaktiver Form ansammeln. Aus menschlicher Perspektive vermindert die Denitrifikation damit zwar die planetare Überdüngung, sie trägt aber gleichzeitig zum Klimawandel bei.

Der Stickstofftrend zeigt nach oben

Global gesehen wird die mikrobiell bedingte Lachgasentstehung vor allem durch überschüssigen Stickstoffdünger aus der Landwirtschaft gefördert. Das gibt Fachleuten zufolge auch den Ausschlag für die Klimawirkung des Stickstoffüberflusses aus menschlichen Quellen. »Weil die Lachgasemissionen an die Nahrungsmittelproduktion gekoppelt sind und weil Lachgas im Schnitt 109 Jahre in der Atmosphäre verweilt, überwiegt unterm Strich langfristig der Erwärmungseffekt«, erklärt Sönke Zaehle, Direktor am Max-Planck-Institut für Biogeochemie in Jena.

Mehr Lachgas in der Atmosphäre erwärmt nicht nur das Klima, es schädigt auch die schützende Ozonschicht in der Stratosphäre und hat sich im 21. Jahrhundert zum Ozonkiller Nummer 1 entwickelt.

In Zukunft wird die Menschheit den Stickstoffvorrat in der Luft möglicherweise noch stärker anzapfen. Denn Ammoniak wird nicht nur weiterhin für die Düngerherstellung genutzt, sondern auch als viel versprechender, klimaschonender Kraftstoff gehandelt, unter anderem für den Antrieb von Schiffen. Weltweit entstehen Prototypanlagen für die Herstellung von »grünem« Ammoniak, beispielsweise in Porsgrunn, in Südnorwegen.

Dort nutzt das Unternehmen Yara Wasserkraft, um aus Wasser und Luftstickstoff Ammoniak herzustellen. Ob Ammoniak als Kraftstoff ähnlich drastische Umweltveränderungen hervorrufen wird wie seine bisherige Nutzung als Rohstoff für die Düngerherstellung, das wird entscheidend davon abhängen, wie effektiv neue Motoren Ammoniak verbrennen. Je weniger Stickoxide und Lachgas dabei entstehen, desto besser.

Außerhalb der planetaren Stickstoffleitplanke

Was bedeutet der menschliche Eingriff in den Stickstoffkreislauf für den Erhalt der menschlichen Lebensgrundlagen? Auf diese Frage hat der Erdsystemwissenschaftler Johan Rockström mit einem internationalen Forschungsteam im Jahr 2009 erstmals versucht, eine Antwort zu geben. Damals stellte das Team das Konzept der planetaren Belastungsgrenzen vor. Schon zu diesem Zeitpunkt war klar, dass die Menschheit mehr reaktiven Stickstoff zusätzlich in den Umlauf bringt, als für die Stabilität der Erde als Lebensraum gut ist.

Nach Ansicht von Johan Rockström ist es für die Menschheit keine sinnvolle Option, die überschrittene Stickstoffbelastungsgrenze zu ignorieren: »Wenn wir das Stickstoffproblem nicht angehen, dann werden wir auch bei allen anderen planetaren Grenzen scheitern.« Zu den anderen Grenzen gehören unter anderem der Klimawandel, die Verlust der Biodiversität, die Schädigung der Ozonschicht und die Luftverschmutzung.

Der menschliche Eingriff in den Stickstoffkreislauf ist folgenreich. Um die Schäden abzumildern, ist es nach Ansicht von Fachleuten entscheidend, die Stickstoffflüsse besser zu managen. Dazu gehört unter anderem der deutlich gezieltere Einsatz von Stickstoffdünger, der im weltweiten Schnitt nur etwa zur Hälfte in den gedüngten Pflanzen landet. Der Rest belastet Luft, Wasser und die übrige Umwelt.

Nach Ansicht von Forschenden wäre es erstrebenswert, die Umweltbelastung mit reaktiven Stickstoffverbindungen aus menschlichen Quellen bis zum Jahr 2030 weltweit zu halbieren. Ob es dazu kommt, ist unklar. Im März 2022 haben sich 193 Länder in der Umweltversammlung der Vereinten Nationen in Nairobi zumindest darauf geeinigt, die Belastung der Erde mit überschüssigem reaktivem Stickstoff bis 2030 »signifikant zu reduzieren«.

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