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Lexikon der Ernährung: Ernährungspolitik

Ernährungspolitik

Gottfried Ulbricht, Potsdam-Rehbrücke

Ernährungspolitik ist die Erarbeitung und Realisierung von Ernährungsstrategien und Ernährungsprogrammen auf unterschiedlichen Ebenen: weltweit (Welternährungspolitik), innerhalb einzelner Staaten bzw. Staatengruppen (z. B. Ernährungspolitik der EU bzw. einzelner Länder) und zum Teil auch regional spezifiziert (z. B. in Abhängigkeit von standortspezifischen Situationen der Nahrungsbereitstellung oder dem gehäuften Auftreten ernährungsabhängiger Erkrankungen). E. umschließt alle Maßnahmen und Vorgänge der Nahrungserzeugung (Gewinnung der Lebensmittelrohstoffe und Herstellung hochwertiger, verzehrfähiger Nahrungsmittel), der Lebensmittelverteilung (Zirkulation, Distribution) und des Lebensmittelverbrauchs bis hin zur Verhütung bzw. Bekämpfung ernährungsabhängiger Erkrankungen und zur Herausbildung spezifischer Ernährungsbedürfnisse. Im weiteren Sinne sind hier auch die vor- und nachgelagerten Prozesse der Nahrungsmittelproduktion und -verwertung mit zu erfassen, wie die Herstellung von Produktionsmitteln (Dünger, Produktionstechnik) für die Erzeugung von Lebensmitteln und deren Rohstoffen sowie die Verwertung (z. B. Recycling) der Endprodukte aus den verschiedenen Prozessstufen. E. schließt damit ein weites, heterogen zusammengesetztes Feld von Einzelvorgängen ein, die sowohl eine materielle (naturale) als auch eine finanzielle (wertmäßige) Seite haben und die gut koordiniert werden müssen, um die Ziele und Aufgaben im Rahmen der gesamten Gesellschaftspolitik erfüllen zu können.

Ziel der E. ist, ein volkswirtschaftlich effizientes Zusammenwirken aller Einzelteile der Nahrungs- und Ernährungskette zu erreichen. Dazu gehört insbesondere eine bedarfsgerechte Bereitstellung von Lebensmitteln, wobei Lebensmittelbedarf und -bereitstellung quantitativ, qualitativ, termin- und sortimentsgerecht so aufeinander abzustimmen sind, dass im Idealfall weder Mangel noch Verschwendung entstehen. Die Bestimmung und Beurteilung von Mangel und Verschwendung erfolgt dabei nicht nur unter ökonomischen Aspekten, sondern zugleich auch unter den Gesichtspunkten angemessener, dem Zivilisationsstand entsprechender Bedürfnisse der Bevölkerung und einer nachhaltigen Funktionsfähigkeit des natürlichen Lebensraumes. Dabei zeigen die unterschiedlichen Definitionen sowohl von Mangel als auch von Verschwendung ein breites Spektrum von verschiedenen Auffassungen, die sich oft vorrangig am Verfügbaren bzw. ökonomisch Vertretbaren orientieren.

Die Ziele der E. sind weitgehend identisch mit den Zielen der Volksgesundheit sowie einer rationellen Ernährung, die weit über rein ökonomische Erwägungen im produzierenden Bereich hinausgehen und die Notwendigkeit der Erhaltung bzw. Verbesserung der Volksgesundheit mit ihren enormen ökonomischen Konsequenzen einschließen.

E. zielt damit vor allem darauf ab, funktionsfähige, effiziente, den jeweiligen Bedingungen angepasste Versorgungssysteme mit Nahrungsgütern (Lebensmittel und Rohstoffe) zu schaffen bzw. zu erhalten, die auf den Bedarf und die Bedürfnisse der Bevölkerung unter Einschluss der Gesundheitsbedürfnisse ausgerichtet sind. In den industriell entwickelten Ländern sind dies komerziell orientierte Versorgungssysteme mit einer zentralen Bedeutung des Nahrungsgütermarktes als Ort des Güteraustausches und der Warenverteilung. Das Gegenstück zu den Vertriebssystemen über Märkte sind die Selbstversorgungssysteme (Subsistenzwirtschaften), wie sie in Entwicklungsländern vorhanden sind. Sie sind dadurch charakterisiert, dass die in bäuerlichen Kleinbetrieben erzeugten Nahrungsgüter im eigenen Haushalt verbraucht werden (Erzeuger = Verbraucher).

Die meisten Versorgungssysteme stellen Mischformen aus mehr oder weniger großen Markt- und Selbstversorgeranteilen dar.

Detailziele deutscher und europäischer E. sind in Tab. 1 zusammengestellt. Letztere ist dabei vorrangig auf eine gemeinsame Europäische Agrarpolitik (nach Art.  39 der Römischen Verträge) ausgerichtet. Die Agrarpolitik war über viele Jahre die politische Klammer von gemeinschaftlichem Bestand. Für die gemeinsame Agrarmarkt- und Preispolitik in der EU gelten drei Grundprinzipien:

gemeinsame Agrarpreise im Inneren der Gemeinschaft mit uneingeschränktem Warenverkehr,einheitlicher Außenhandelsschutz,gemeinsame Agrarfinanzierung.

Zur Realisierung dieser Grundprinzipien werden vor allem Zölle zum Schutz des gemeinsamen Marktes gegenüber Drittländern erhoben und Interventionen (Preisstützungen) innerhalb der Gemeinschaft durchgeführt, um gemeinsam festgelegte Preise für die Produkte der gemeinsamen Marktorganisationen (z. B. Getreide, Fleisch, Milch, Eier, Obst, Gemüse sowie Wein) zu gewährleisten. Die erforderlichen Mittel werden aus dem „Europäischen Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft“ bereitgestellt. Mit z. T. einschneidenden Reformen erfolgt in angemessenen Abständen eine Anpassung der EU-Regelungen an die aktuellen Erfordernisse des Agrarmarktes. So wurden z. B. mit den großen Reformen der 80er-Jahre Milchquoten eingeführt, durch die eine Drosselung der Überproduktion an Milch erreicht werden konnte.

Aufgaben der Ernährungspolitik

Eine wichtige Aufgabe der E. ist die Koordinierung von Angebot und Nachfrage auf dem Lebensmittelmarkt z. B. mittels marktsteuernder Regelmechanismen. Im Mittelpunkt des Marktgeschehens stehen Ware-Geld-Beziehungen, denn die Befriedigung von Ernährungsbedürfnissen erfolgt bei marktwirtschaftlichen Versorgungssystemen immer über den Kauf von Lebensmitteln. Hier spielen die Preise der Lebensmittel und das Einkommen als Angebots- und Nachfrageregulativ eine entscheidende Rolle. Die Aufrechterhaltung dieser Balance zwischen Lebensmittelbereitstellung und -verbrauch ist wiederum auch eine Voraussetzung für stabile Nahrungsgüterpreise und eine stabile Entwicklung der Haushaltseinkommen. Der marktwirtschaftliche Steuerungsmechanismus über das Geld, der zugleich eine enge Verbindung zu anderen um das Einkommen der Verbraucher konkurrierenden Versorgungsbereichen wie Industriewaren, Kultur, Wohnen und Tourismus aufweist, ist von grundlegender politischer Bedeutung und großer betriebswirtschaftlicher Relevanz.

Die Entwicklung der Marktwirtschaft auf dem Nahrungsgütersektor hat inzwischen dazu geführt, dass neue Betriebskonzepte entwickelt wurden. Auf Gewinn orientierte Produktionskonzepte, ausgerichtet auf Kostendegression und Absatzsteigerung, werden inzwischen von nachfrageorientierten Konzepten des Marketings verdrängt. Während früher das Angebot des Produzenten verbrauchsbestimmend war, sind jetzt die Bedürfnisse des Käufers produktionsbestimmend.

Marktergänzende agrar- und gesundheitspolitische Interventionsmaßnahmen werden zur Durchsetzung spezieller Ziele regulierend eingesetzt. So werden z. B. Preis- und Produktionsgarantien (z. B. durch Festlegung von Produktionsquoten) auf verschiedenen Produktionsebenen gewährt, um das Einkommen der Landwirte zu sichern. Auf der Verbrauchsebene gibt es Zuschüsse zur Kantinenversorgung in Schulen und Mensen ebenso wie zur Schulmilch, die vor allem dazu dienen, eine gesundheitsfördernde Ernährung von Kindern und Jugendlichen zu unterstützen.

Eine weitere wichtige Aufgabe der E. besteht darin, den Verbraucher vor gesundheitlichen Gefahren, Täuschungen und wirtschaftlichen Nachteilen zu schützen (Verbraucherschutz, Ernährungssicherheit). Dafür ist ein Rechtsgefüge geschaffen worden, das die gesamte Kette der Lebensmittelherstellung von der Urproduktion (Land- und Fischwirtschaft) bis zum Lebensmittelverzehr erfasst (Lebensmittelrecht, Futtermittelrecht). Das Kernstück des Lebensmittelrechts ist in Deutschland das Gesetz über den Verkehr mit Lebensmitteln, Tabakerzeugnissen, kosmetischen Mitteln und Bedarfsgegenständen (Lebensmittel- und Bedarfsgegenständegesetz, LMBG), in Österreich das Bundesgesetz über den Verkehr mit Lebensmitteln und Gebrauchsgegenständen (Lebensmittelgesetz 1975, LMG 1975) und in der Schweiz das Bundesgesetz über Lebensmittel und Gebrauchsgegenstände (Lebensmittelgesetz, LMG), jeweils mit einer Reihe von Ver- und Geboten sowie Ausführungsverordnungen, die den sich entwickelnden gesellschaftlichen Normen und den von der Gesellschaft akzeptierten individuellen Bedürfnissen angepasst werden müssen. Die Rechtsregelungen einzelner Länder erfahren eine Harmonisierung innerhalb der EU.

Wirksamer Verbraucherschutz wird durch amtliche Lebensmittelüberwachung, Lebensmittelmonitoring, betriebsinternes Qualitätsmanagement und Einhaltung von Hygienevorschriften und Verbrauchsfristen beim Endverbraucher unterstützt.

Neben dem Verbraucherschutz besteht eine weitere Aufgabe der Ernährungspolitik in einer objektiven Verbraucheraufklärung und Verbraucherberatung durch speziell dafür geschaffene Einrichtungen (z. B. die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung [BZgA], die Arbeitsgemeinschaft der Verbraucherverbände [AgV] und die Verbraucherzentralen der Länder [VZ], die Deutsche Gesellschaft für Ernährung [DGE], den Auswertungs- und Informationsdienst für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten [AID] und die Ernährungsberatungszentren und Beratungsstellen der Landwirtschafts- und Ernährungsbehörden der Länder), durch Krankenkassen, Medien, wissenschaftliche Einrichtungen usw. Diese Aufklärung ist erforderlich, um den Verbraucher zu befähigen, gesundheitsbewusste, ökonomisch und ökologisch effiziente Kaufentscheidungen treffen zu können. Bereits im Kindesalter praktizierte schulische und familiäre Ernährungserziehung kann hier sehr unterstützend wirken.

Im Zentrum der Verbraucheraufklärung steht häufig die gesundheitserhaltende bzw. -verbessernde Ernährung, um eine Reduzierung ernährungsabhängiger Krankheiten zu erreichen bzw. ihr weiteres Voranschreiten zu vermeiden. Die Bekämpfung solcher Krankheiten wie Adipositas, Herz- und Kreislauferkrankungen, Krebs und Stoffwechselkrankheiten ist hier von herausragender Bedeutung. Die Ernährung hat sowohl bei präventiven als auch therapeutischen Maßnahmen einen hohen Stellenwert.

Einordnung der Ernährungspolitik

Die E. erfasst mit diesen unterschiedlichen, oft eng miteinander verflochtenen Detailaufgaben einige, manchmal sogar wesentliche Teile anderer Bereiche, wie der Agrar-, Wirtschafts-, Sozial-, Gesundheits-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik einschl. ihrer rechtlichen Regelungen. Sie grenzt sich aber auch deutlich von diesen Bereichen ab, indem sie deren andere Teile nicht erfasst bzw. gar nicht berührt. So sind die gesamte Arzneimittelproblematik und insbesondere auch das Arzneimittelrecht eigenständige Sektoren und nicht Gegenstand der E., obwohl Arzneimittel auch Träger von nahrungsmittelidentischen Inhaltsstoffen wie Vitaminen und Mineralstoffen sein können.

Sämtliche Maßnahmen der E. müssen auf gesicherten wissenschaftlichen Erkenntnissen fußen. Die E. ist deshalb gefordert, enge Kontakte zu Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen zu pflegen, sich umfassend beraten zu lassen und wissenschaftliche Projekte zu aktuellen Problemen in Auftrag zu geben. Die Lösung der anstehenden Aufgaben gelingt umso besser, je enger E. und Ernährungswissenschaft zusammenarbeiten.

Maßnahmen und Programme
der Ernährungspolitik

Praktische E. hat sowohl die aktuellen als auch zukünftigen (kurz-, mittel- und langfristigen) Aufgaben und Probleme der Nahrungsmittelversorgung und der Ernährung der Bevölkerung zu bewältigen. Sie hat insbesondere zur Lösung von Widersprüchen beizutragen, die z. B. in Form von Hunger und Überernährung in den verschiedenen Teilen der Erde und auch innerhalb einzelner Staaten zu verschiedenen Zeiten in unterschiedlicher Intensität existieren. Die gegenwärtige Ernährungssituation in den entwickelten Industrieländern Europas und anderer Erdteile macht die Bekämpfung von Überernährung erforderlich, d. h. die Reduzierung der Energie- und Fettaufnahme auf ein der körperlichen Aktivität angepasstes Ausmaß. Dies erfordert auch eine Reduzierung des in Europa potenziell vorhandenen Nahrungsüberschusses. Im Bereich der Urproduktion geschieht dies vor allem durch Produktionsextensivierung, Flächenstilllegung und Produktionsbegrenzung durch vorgegebene Produktionsquoten.

In anderen Regionen der Erde herrscht Mangelernährung vor. Meist sind dies Regionen mit großer Bevölkerungszunahme und geringer Nahrungserzeugungsleistung. Hier sind sowohl produktionssteigernde als auch bevölkerungspolitische, bevölkerungswachstumsbegrenzende Maßnahmen erforderlich, um die Balance zwischen Nahrungsbedarf und Nahrungsbereitstellung weltweit herzustellen und den Hunger auf der Erde zu beseitigen. In bevölkerungsreichen Gebieten wie China sind deshalb im Rahmen der Bevölkerungspolitik erfolgreich Geburtenregulierungsprogramme praktiziert worden.

Hungerperioden durch Naturkatastrophen, Kriege oder allgemeine Armut stellen besondere Herausforderungen für die E. dar. Zur Bewältigung solcher Situationen wurden spezielle Programme entwickelt (z. B. Hilfs-, Selbsthilfe- und Rationierungsprogramme), die nach Anpassung an den jeweiligen Standort und die speziellen Erfordernisse angewendet werden und oft kurzfristig zur Beseitigung akuter Notsituationen beitragen, wie die Hilfsaktionen für die Bevölkerung der Sahelzone während der Dürreperioden der 80er und 90er-Jahre.

Indem standortspezifische ökonomische, soziale und kulturelle Rahmenbedingungen die Möglichkeiten der Lebensmittelproduktion und die Bedürfnisse der Bevölkerung prägen, haben sich standortspezifische Ernährungsweisen mit regionalen Besonderheiten in Form von charakteristischen Versorgungsvarianten, Kostformen und Verzehrsgepflogenheiten herausgebildet, die weltweit zu einer interessanten Vielfalt der Ernährung geführt haben. Darunter befinden sich Musterbeispiele für gesunde Ernährung aus der mediterranen Zone, die durch Tourismus, Bevölkerungsmigration und Medieninformationen verbreitet werden. Praktische E. hat dies zu beachten und der Ernährungsvielfalt ausreichend Realisierungschancen zu bieten. Sie hat gleichzeitig dafür zu sorgen, dass im Netzwerk fremdländischer und einheimischer Ernährungsweisen und Nahrungsmittel die Herkunft der Produkte nachvollziehbar ist. Herkunftskennzeichnung ist für den Verbraucher oft ein kaufentscheidendes Produktmerkmal, das auch in der Werbung eingesetzt wird. Zur Kennzeichnung der regionalen Herkunft und Besonderheit von Lebensmitteln werden häufig Logos verwendet, die zugleich für eine hohe Qualität der Produkte bürgen und eine besondere Werbewirksamkeit entfalten sollen.

Zur Verhütung ernährungsbedingter Krankheiten und ihrer Folgen ist eine effektivere, verbrauchernähere Ernährungsaufklärung und -beratung zu organisieren und durchzuführen. Die derzeitige Ernährungsberatungspraxis in Deutschland muss hierbei sowohl quantitativ als auch qualitativ neue Wege erschließen. Dazu gehören neben der pädagogisch geschickten Vermittlung ernährungswissenschaftlicher Erkenntnisse durch Wort und Schrift insbesondere auch die Begleitung durch praktische Demonstrationen der Speisenherstellung und die Präsentation nachahmenswerter Vorbilder.

Spontane Maßnahmen der E. waren in der Vergangenheit erforderlich und werden auch zukünftig notwendig sein, um Lebensmittelskandale zu bewältigen, wie dies bei BSE oder Verabreichung unerlaubter Wachstumsstimulatoren an Masttiere sowie hygienischen Nachlässigkeiten bei der Lebensmittelbe- und -verarbeitung der Fall ist. Hier sind sowohl sofort als auch langfristig wirkende Maßnahmen zu ergreifen, indem widerrechtlich im Verkehr befindliche Produkte eingezogen werden und der Vertrieb ähnlicher Erzeugnisse z. B. durch die Androhung von Sanktionen für die Zukunft weitestgehend verhindert wird.

Arbeitsweise der Ernährungspolitik

Die Bewältigung der praktischen Aufgaben der Ernährungspolitik setzt eine umfassende Kenntnis des vorhandenen Lebensmittelsortimentes, der Lebensmittelversorgung, der Ernährungssituation, des ernährungsabhängigen Gesundheitszustandes, des Ernährungsverhaltens, der Bevölkerungsstruktur und -entwicklung sowie der Bedürfnis-, Bedarfs- und Bereitstellungstrends voraus. Zu deren Einschätzung sind umfangreiche Analysen erforderlich, die neben statistischen Erhebungen (Datensammlungen und -dokumentationen) über Versorgungs- und Verbrauchssituationen auch Zustände, Kapazitäten und Leistungen der verschiedenen Zweige der Nahrungskette sowie umfangreiche wissenschaftliche Untersuchungen zur Interpretation von Prozessabläufen und deren Hintergründe einschließen. Dabei kommt es insbesondere darauf an, die Dynamik von Nahrung und Ernährung, von Lebensmittelversorgung und Verbraucherverhalten mit ihren Ursachen und Konsequenzen zu analysieren, um daraus Schlussfolgerungen für Ernährungsstrategien und -programme für die kurz-, mittel- und langfristige Zukunft ableiten zu können. Die Kenntnis dieser Dynamik ist eine wesentliche Voraussetzung für ernährungspolitische Entscheidungen und die Erarbeitung realitätsnaher Visionen und Szenarien zukünftiger Ernährung im Umfeld der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung. E. ist damit eine Aufgabe, bei der fundierte zweigspezifische Erkenntnisse interdisziplinär zu Ernährungsprogrammen aufbereitet und zu praxisrelevanten Verbesserungen der Ernährung geführt werden müssen.

Die Methoden, die zur Erarbeitung von Ernährungsprogrammen eingesetzt werden, sind weitgehend analog zu denen der Gesellschaftspolitik (Tab. 2). Die Gewinnung neuer ernährungspolitisch relevanter Erkenntnisse geschieht wegen der Komplexität des gesamten Ernährungsgeschehens häufig in Modelluntersuchungen. Da Modelle nur Abbilder der wesentlichen (nicht aller) Strukturen der Realität liefern, sind derartige Erkenntnisse oft lückenhaft und darauf aufbauende ernährungspolitische Entscheidungen mit Unsicherheiten behaftet. Ernährungspolitische Konzepte und beschlossene Ernährungsprogramme werden deshalb immer nur mit einem hohen Wahrscheinlichkeitsgrad, nicht aber mit totaler Sicherheit und realisiert werden können. Sie bedürfen einer regelmäßigen Überprüfung und Anpassung an die sich ständig verändernde Realität.

Institutionen der Ernährungspolitik

Die Ausübung von E. ist häufig staatlich institutionalisiert und / oder in Verbänden organisiert. In Deutschland sind für hoheitliche Angelegenheiten auf Bundesebene vorrangig das Bundesministerium für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft (bis Januar 2001: Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten) sowie das Bundesministerium für Gesundheit zuständig. Häufig sind nachgeordnete Einrichtungen mit der Wahrnehmung spezieller Aufgaben beauftragt, z. B. die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung für die Verbreitung von Gesundheitswissen, die Bundesforschungsanstalten bzw. andere Ressortforschungseinrichtungen für die Unterstützung gesetzgeberischer Aufgaben der Exekutive und das Bundesforschungsinstitut für gesundheitlichen Verbraucherschutz und Veterinärmedizin für die Sicherung und Verbesserung des gesundheitlichen Verbraucherschutzes sowie des Tierschutzes. Eine Reihe ernährungspolitischer Aufgaben wird auf Länderebene in den zuständigen Landesministerien bearbeitet (z. B. Ministerien für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Gesundheit und Bildung), zum Teil aber auch von Verbänden, Vereinen u. ä. wahrgenommen.

Im europäischen Rahmen ist die Kommission der Europäischen Union die hoheitliche Institution für ernährungspolitische Entscheidungen. Sie verfügt sowohl über Rechte als auch über finanzielle Mittel, um Markt- und Strukturprogramme in den Ländern der EU durchzuführen. Im Weltmaßstab sind sowohl die Welternährungsorganisation (FAO) mit Sitz in Rom als auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mit Sitz in Genf institutionalisierte Einrichtungen mit großer ernährungspolitischer Relevanz.

Ergebnisse und Evaluierung der Ernährungspolitik

Die E. ist ebenso wie die Politik insgesamt gezwungen, ihre Existenz durch Erfolge zu rechtfertigen. Dazu sind Evaluierungen auf der Basis möglichst objektiver Beurteilungsmaßstäbe und Messungen ihrer Ergebnisse erforderlich. Diese sind weitgehend identisch mit den Maßstäben zur Beurteilung des Lebensstandards der Bevölkerung, denn der Erfolg der E. und die Höhe des Lebensstandards korrelieren deutlich miteinander. Solche Maßstäbe sind z. B.

der Grad der Erfüllung der Ernährungsbedürfnisse, insbesondere der wissenschaftlich begründeten Ernährungsempfehlungen;die Entwicklungstendenz von ernährungsbedingten Erkrankungen;der Anteil des Einkommens, der für Lebensmittel ausgegeben wird;der Aufwand an Arbeitszeit für die Lebensmittelherstellung und die Speisenzubereitung.

Die von internationalen Organisationen (FAO, WHO) gegenwärtig verwendeten Maßstäbe und durchgeführten Messungen des Lebensstandards der Bevölkerung stellen lediglich ein Beurteilungsfundament dar, das einerseits durch zuverlässigere Erhebungsdaten, andererseits durch ein erweitertes Abbildungsspektrum präzisiert werden muss. Deshalb ist eine ständige Weiterentwicklung sowohl der Kriterien als auch der Maßstäbe und Messungen für eine Ernährungsberichterstattung durch intensive interdisziplinäre Forschungs- und Erhebungsarbeit notwendig.

Die Beurteilung der Ergebnisse der E. hängt sehr eng mit den gesamtpolitischen Zielstellungen zusammen. So gelten z. B. in den hoch industrialisierten Ländern mit hoher Mobilität der Bevölkerung andere Kriterien als in Ländern mit ausgedehnter Subsistenzwirtschaft. Deshalb haben in den hoch industrialisierten Ländern z. B. der Stand und die Entwicklung der Außer-Haus-Verpflegung (Angebot, Qualität, Inanspruchnahme durch den Konsumenten) ebenso wie der Markt an vorgefertigten Lebensmitteln einen deutlich höheren ernährungspolitischen Stellenwert als in den Entwicklungsländern.

Die Praxis und Theorie der E. der Gegenwart und Zukunft ist in die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen wie weltweite Globalisierung, Entstehung einer Wissenschaftsgesellschaft, wachsendes ökologisches Bewusstsein und Ausweitung von Informations- und Kommunikationstechnologien eingebunden. Das bedeutet, dass die Ernährungspotenziale weltweit umfassender und ressourcenschonender genutzt und dass trotz wachsender Weltbevölkerung Nahrungsmittel in ausreichendem Umfang und guter Qualität bereitgestellt werden können. Die Fortschritte der Wissenschaft (z. B. Anwendung der Gentechnik und Herstellung „maßgeschneiderter Lebensmittel“ müssen deshalb von der Ernährungspolitik aufgegriffen und umgesetzt werden.

Ernährunspolitik: Tab. 1. Detailziele deutscher und europäischer Ernährungspolitik.

Detailziele deutscher Ernährungspolitik
 

Einordnung deutscher ernährungspolitischer Zielstellungen in die europäische ErnährungspolitikFortbestand der einheimischen deutschen Landwirtschaft als unverzichtbarer Nahrungsgüterlieferant und Landschaftspfleger (Zur Existenzerhaltung werden die Landwirte von den Folgen des europäischen Strukturwandels durch markterlösergänzende staatliche Unterstützung entlastet.)weltoffener Handel auch auf dem NahrungsgütersektorErhaltung der Vielfalt des Lebensmittelbinnenmarktes (Verkaufsketten, Bauernmärkte, Ökomärkte, Direktvermarktung) bei weitgehender Vermeidung von Marktverzerrungen, z. B. durch Preisdumpingumfassende Befriedigung möglichst aller Ernährungsbedürfnisse und des daraus erwachsenden, stark differenzierten Lebensmittelbedarfs sowie der Lebensmittelnachfrage bei gleichzeitiger Erhaltung nationaler, ethnischer und religiöser BesonderheitenErweiterung des individuellen Ernährungsspektrums insbesondere unter den Aspekten der Zunahme der Außer-Haus-Versorgung und der Erweiterung von Nahrungsangebot, Zubereitungsarten und VerzehrsformenReduzierung des Aufwandes zur Speisenzubereitung im Haushalt mit dem Ziel, mehr Freizeit in andere Bedürfnisbereiche verlagern zu können

Ernährungspolitische Ziele der Europäischen Union

 

gesteigerte Produktivität der Landwirtschaft durch Förderung des technischen FortschrittsRationalisierung der landwirtschaftlichen Erzeugung und bestmöglicher Einsatz der Produktionsfaktoren, insbesondere der Arbeitskräftehierdurch Gewährleitung einer angemessenen Lebenshaltung der landwirtschaftlichen Bevölkerung, insbesondere durch Erhöhung des Pro-Kopf-Einkommens der in der Landwirtschaft tätigen PersonenStabilisierung der MärkteSicherstellung der Versorgung Belieferung der Verbraucher zu angemessenen Preisen

Ernährungspolitik: Tab. 2. Typischer Arbeitsablauf bei der Planung von Ernährungsprogrammen.

 

1. Erkennen und Charakterisieren der (ernährungs)politischen Problemfelder

2. wissenschaftliche Analyse der zweigspezifischen Probleme

3. Erarbeitung von Vorschlägen zur Verbesserung der gegenwärtigen Situation

4. Entscheidungsvorbereitung für einzuleitende Maßnahmen

5. Entscheidung über einen abzuarbeitenden Maßnahmenkatalog und Beschluss über durchzuführende Maßnahmen durch autorisierte Institutionen

6. Umsetzung der beschlossenen Maßnahmen

7. Kontrolle über die Realisierung von beschlossenen Maßnahmen

8. Ermittlung der Effekte und Konsequenzen der durchgeführten Maßnahmen

9. Programmüberarbeitung durch Korrekturmaßnahmen

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