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Gegenwindschiffe

Kann ein windgetriebenes Schiff direkt gegen den Wind fahren? Ja, sogar doppelt so schnell, wie der Wind weht – theoretisch.


Kreuzen im Gegenwind: Segelschiffe können nicht auf direktem Kurs gegen den Wind segeln, aber gegen den Wind kreuzen. Moderne Rennyachten schneiden den Wind unter einem Winkel von weniger als 40 Grad. Die schnellen Teeklipper, die im 19. Jahrhundert die Tee-Ernte von China nach England zu befördern hatten, waren ihnen darin noch weit unterlegen. Nach historischen Analysen ihrer Kurse kreuzten sie den Gegenwind unter 60 Grad; sie mussten also, von den Wendekurven abgesehen, zwei Seemeilen im Zickzack fahren, um eine Seemeile gegen den Wind voranzukommen. Zwar leistet die Natur die Mehrarbeit des Windes am Schiff gegen den Widerstand des Wassers zum Nulltarif, aber längere Wege bedeuten längere Fahrzeiten und damit höhere Betriebskosten, und das häufige Umsetzen der Segel beim Kreuzen erfordert eine zahlreiche Mannschaft. Soll in Zeiten der Teuerung fossiler Brennstoffe die Windkraft zum Massengütertransport wieder wirtschaftlich werden, müssen sich die Wendemanöver vereinfachen lassen und möglichst automatisch ablaufen, damit Windschiffe mit kleiner Besatzung auskommen.

Windmühlenschiffe: Die auf ein Segel wirkende Windkraft hat keinen Anteil, der direkt gegen den Wind gerichtet ist. Zum Segeln am Wind muss deshalb das Wasser durch Kräfte auf den Rumpf des Schiffes zum Antrieb beitragen. Bei Booten mit geringem Tiefgang greifen diese Kräfte im Wesentlichen an einem starren Unterwasserflügel an, dem "Schwert".

Die Kräfte des Windes auf das Segel und des Wassers auf das Schwert lassen sich durch die Wirkung eines Windrads und einer von ihm angetriebenen Wasserschraube ersetzen, die das Schiff direkt gegen den Wind zieht. Gegenüberliegende Blätter des Windrads stehen spiegelbildlich zueinander wie beim Kreuzen in regelmäßiger Folge nacheinander die Segel eines Segelschiffs. Ähnlich ersetzen die Schaufeln der Wasserschraube das Schwert. Mit Windmühlenantrieb kann ein Schiff in jede Richtung fahren, auch direkt ins Auge des Windes.

Schon 1712 hatte ein Herr Duquet in Frankreich diese Idee. In der napoleonischen Zeit planten die Franzosen, eine schwimmende Festung mit drei Windrädern zum Antrieb von vier Schaufelrädern auszurüsten, um 60000 Soldaten mit 600 Kanonen zur Invasion nach England überzusetzen. Wie wäre wohl die Weltgeschichte weitergegangen, wenn die Idee damals Erfolg gehabt hätte?

Windräder… Welche Leistung führt der Wind mit sich, und welchen Teil kann ihm ein Windrad zu seinem Antrieb entziehen? In seinem 1926 erschienenen Büchlein über "Wind-Energie und ihre Ausnutzung durch Windmühlen", das erst kürzlich wieder nachgedruckt wurde, leitete Albert Betz, der Leiter der Aerodynamischen Versuchsanstalt in Göttingen, aus einer einfachen Strahltheorie des Propellers ab, dass ein Windrad gleich welcher Bauart höchstens 16/27 (ungefähr 59 Prozent) von dem Energiestrom des Windes ernten kann, der ohne Windrad durch die von seinen Flügeln überstrichene Fläche fließen würde.

… und Schiffe: Zum Antrieb eines Schiffes lässt sich ein solches "optimales" Windrad an eine Wasserschraube koppeln. Es kann günstigstenfalls mit doppelter Windgeschwindigkeit gegen den Wind laufen, der es antreibt, nämlich dann, wenn weder Energieverluste im Antrieb noch der Schiffswiderstand seine Leistung mindern. Aus physikalischer Sicht erscheinen Gegenwindschiffe demnach möglich.

Zur Praxis: Nach einem Bericht in der Rubrik "The Amateur Scientist" des Scientific American vom Dezember 1975 waren Peter Kauffman und Eric Lindahl in Seattle die Ersten, die ein Modell eines Gegenwindschiffs bauten und damit die Realisierbarkeit der Idee praktisch nachwiesen. Um ein Leistung verzehrendes Getriebe zu vermeiden, setzten sie Windrad und Wasserschraube auf ein und dieselbe schräg liegende Drehachse und bauten das Schiff zur Verringerung des Wasserwiderstands als leichten Katamaran. B. L. Blackford, der im "American Journal of Physics" 1978 die Betzsche Theorie auf diesen Typ Gegenwindschiff anwandte, benutzte einen kommerziellen Katamaran von 4 Metern Länge und 2 Metern Breite mit einer zweiflügeligen Luftschraube von 3,05 Metern und einer Wasserschraube von 0,90 Metern Durchmesser. In Leistungstests, über die Blackford 1980 berichtete, erreichte das Schiff auf Gegenwindkurs beachtliche 30 Prozent der Windgeschwindigkeit. Die schräg liegende Drehachse erwies sich als nachteilig, weil die Wasserschraube den Katamaran nicht nur vorwärts, sondern auch abwärts zog, wodurch das Modell zu halben Saltos nach vorn neigte.

Aus neuerer Zeit gibt es zahlreiche Berichte über funktionstüchtige Windmühlenschiffe. Die Zeitschrift "Yacht" berichtete 1980 über "Eolien", eine auf dem Mittelmeer kreuzende Windmühlen-Jolle von 5,11 Metern Länge mit einem zweiflügligen Windrad von 5 Metern Durchmesser, die ihr Drehmoment bei 5 Umdrehungen pro Sekunde über ein Getriebe auf eine Wasserschraube übertrug und bei 10 Knoten Windgeschwindigkeit eine Leistung von 4,5 PS brachte.

Wie wird die Geschichte weitergehen? In dem Buch "Windschiffe" von 1990 schwelgen die Autoren Helmut Risch und Jochen Berthold in fantastischen Spekulationen über die Zukunft großer Windschiffe für den Personen- und Güterverkehr. Viele Ideen sind verlockend und erscheinen technisch möglich. Ob sie sich durchsetzen können, ist weniger eine technische als eine wirtschaftliche Frage.

Literaturhinweise


Windschiffe. Von Helmut Risch und Jochen Berthold. VEB Verlag Technik, Berlin 31990.

Wind-Energie und ihre Ausnutzung durch Windmühlen. Von Albert Betz. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1926.

The Physics of a Push-Me-Pull-You Boat. Von B. L. Blackford in: American Journal of Physics, Bd. 46, Nr. 10, S. 1004, (1978).

The Amateur Scientist, Scientific American, Bd. 233, Nr. 12, S. 120, (1975).

Aus: Spektrum der Wissenschaft 4 / 2001, Seite 114
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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