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Tagebuch: Jura aus der Sicht der Quantenphysik

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Letzte Woche hielt in Ladenburg die Heidelberger Völkerrechtlerin Juliane Kokott die diesjährige Bertha Benz-Vorlesung. Die in dem hübschen Römerstädtchen ansässige Gottlieb Daimler- und Carl Benz-Stiftung lädt alljährlich herausragende Frauen zum Vortrag. Professorin Kokott, wegen ihrer sechs Kinder in der Presse gerne als „Superfrau“ bezeichnet, ist Generalanwältin am Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg. Kalenderbedingt sprach sie über „50 Jahre Römische Verträge“, klar und brillant. Doch es wurde auch sichtbar, wie der Rechtsdschungel auf EU-Ebene heute aussieht.

Als ich in Würzburg zu studieren begann, machte ich etwas, was sich heute kaum einer mehr leisten kann: Ich besuchte Vorlesungen, die mich interessierten – quer durch die Fakultäten: Psychologie, Musikwissenschaften, Geografie, Mittelhochdeutsches, Moderne Lyrik, Mathematik, Philosophie. Bei den Juristen ging ich einige Male zu Friedrich August Freiherr von der Heydte, Staatsrechtler von Graden.

Der Rechtsprofessor betrat den Hörsaal ohne jedes „Hilfsmittel“ (damals gab es zwar noch keinen Overhead oder gar Powerpoint, aber doch schon beschriebenes Papier), sprach freihändig druckreif und rhetorisch brillant, etwa über Eigentum und Besitz. Ich hörte eine faszinierende rechtsphilosophische Abhandlung über „die tatsächliche Herrschaft einer Person über eine Sache“, im Gegensatz zum Eigentum als rechtlicher Zuordnung, erfuhr vom Verfügungs- und Nutzungsrecht und seinen Grenzen. Tatsächlich: Eigentum (Wem gehört etwas?) und Besitz (Wer hat etwas?) fallen oft zusammen. Aber Eigentum kann auch ohne Besitz und Besitz kann ohne Eigentum existieren, eigentlich ganz einfach.

Ich wechselte dann lieber zu Physik und Mathematik, studierte mit heißem Begehren Quantenphysik und Relativitätstheorie. War es die größere Präzision und Klarheit, die ich in deren Theoriegebäuden vermutete – und häufig auch fand? Die Jurisprudenz, das darf ich als Nichtjurist vielleicht sagen, regelt die Dinge des Lebens verbal. Das hat scheinbare Vor- und empfindliche Nachteile. Da es die Worte unserer Sprache sind, könnte man eigentlich hoffen, alles noch verstehen zu können – im Prinzip jedenfalls. Doch diese Bindung an das Wort ist teuer erkauft. Begriffe und Aussagen sind zumeist unscharf in ihrer Beschreibungsmacht, lassen kontextabhängig Nebenbedeutungen offen, überlagern sich mit Nachbarbegriffen, sind interpretierbar. In ihrer Vieldeutigkeit stiften Worte oft mehr Verwirrung als Klarheit. Und so tauchen immer neue Einzelfälle auf, die bis dahin nicht explizit erfasst sind. Das erzwingt dann noch wortreichere Auslegungen, Ergänzungen, Neudefinitionen – und schließlich landet man in einem Dschungel, den höchstens Spezialisten noch durchdringen.

Das liegt an dem, was sie beschreiben sollen: Menschen, die Begriffe mit ihren eigenen Bedeutungen aufladen, eingebettet in eine Gesellschaft, deren Wertekanon sich laufend ändert. Juristen, das ist wohl unvermeidlich, können mit der normativen Gesetzeskraft da nur hinterherhinken wie der Duden bei der Rechtschreibung. Als wir im Verlag kürzlich eine Arbeitsrechtlerin baten, uns die Feinheiten der neuen europäischen Antidiskriminierungsregeln zu erläutern, wie sie nun auch in Deutschland wirksam sind, da wurde mir erneut klar: Quantenphysik ist doch einfacher.

Nicht, dass deren Begriffe dem Alltagsverstand immer zugänglich wären. Sie sind es nicht, weil jede noch verbal fassbare Anschaulichkeit konsequent der Präzision mathematischer Fachbegriffe geopfert wurde. Aber in der formelhaften Exaktheit ihrer Kunstsprache lassen sich eben Phänomene fassen, die etwa auf der Sprachebene der Jurisprudenz nicht zugänglich wären. Deren Texte wiederum entziehen sich auf andere Art dem Alltagshorizont. Wie auf einer permanenten Baustelle für das Supergesetzeswerk haben sie genauso die alltägliche Sprachwelt verlassen, obwohl sich die Justiz stets rein verbal ausdrückt. Doch mir scheint, dass hier der Preis der Unverständlichkeit, anders als in der Quantenphysik, nicht immer mit höherer Präzision oder Klarheit kompensiert wird.

Doch zurück zur Völkerrechtlerin Juliane Kokott. Zwischen den Grundwerten der EU (etwa: Folterverbot) und ihren allgemeinen Prinzipien (beispielsweise: Freizügigkeit der Niederlassung, Antidiskriminierung) spielt sich das wirkliche Leben ab. In der Diskussionsrunde wird Frau Kokott ein vielleicht banaler Fall geschildert. Ein Mann hat in Italien bis 57 gearbeitet und kann damit dort bereits Rente beziehen. Nun lebt er aber in Deutschland, wo Rente erst ab 67 zu haben ist. Wie würde sie sich entscheiden? Ein Fall für das EuGH! Da sagt die Juristin sinngemäß: Augen zu und durch. Richtlinie Nummer X sei dann eben abzugleichen mit Richtlinie Y, Auslegungen und Verordnungen seien gegeneinander abzuwägen. Und dann habe das erkennende Hohe Gericht eben zu „befinden“. Klar wird: Die Pfade im Rechtsdschungel werden rasch überwuchert und sind dauernd aufs Neue zu schlagen.

Fairerweise ist einzuräumen, dass auch die Quantenphysik ihre „Unschärfen“ hat, natürlich in Werner Heisenbergs berühmter Unschärferelation. Darin wird – übrigens völlig exakt – beschrieben, dass man auch im Mikrokosmos nicht alles gleichzeitig haben kann. Wer die Energie eines Teilchens allzu genau wissen will, hat auf eine ebenso genaue Kenntnis seines Ortes zu verzichten. Unschärfe auf hohem Niveau, zweifellos; zwar Symptom einer für uns unanschaulichen physikalischen Welt – aber vielleicht gar nicht so verschieden von der Unanschaulichkeit in der Rechtswissenschaft.

Reinhard Breuer

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