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Mathematische Knobelei: Der Groschen

Früher war alles besser und der Groschen noch zehn Pfennige wert. Ja, man konnte sich dafür sogar etwas Richtiges kaufen. Süßigkeiten zum Beispiel oder Sammelbilder. Vorausgesetzt, man passte unterwegs gut auf sein kleines Vermögen auf.
Matheprüfungen können ganz prima sein. Eigentlich mag ich die ja nicht so gerne, aber dieses Mal schon. Nämlich bei uns in der Klasse haben fast alle die Grippe, und deshalb waren wir gestern nur zu fünft: Albert, Gregor, Ronald, Eugen und ich. Unsere Lehrerin hat ganz komisch geguckt, als sie mit den Arbeitsheften reingekommen ist. Dann hat sie geseufzt, mit den Schultern gezuckt und die Hefte ausgeteilt. Es waren lauter schwierige Fragen wie in jeder Matheprüfung, und ich habe vieles nicht gewusst. Aber als wir heute die Arbeiten zurückbekommen haben, war meine die viertbeste. Albert war natürlich Erster. Er hatte alles richtig und war so schnell fertig, dass er der Lehrerin sogar noch ein Gedicht ins Heft geschrieben hat. Der spinnt, der Albert, aber wir dürfen ihn nicht verhauen, weil er eine Zahnspange trägt. In den Arbeiten von Gregor und Ronald hat die Lehrerin viel mit rotem Stift durchgestrichen und an den Rand geschrieben. Ich glaube, manche Lösungen haben nicht gestimmt. Unter meiner Arbeit stand: „Rick sollte sich bei einer Klassenarbeit mehr mit den Aufgaben beschäftigen und weniger Flugzeuge malen.“ Aber meine Note war besser als die von Eugen, nämlich das ist unser Klassenletzter, und er schreibt immer die schlechtesten Arbeiten.

Als ich zu Hause Papa und Mama erzählt habe, dass meine Mathearbeit die viertbeste war, haben sie mich mit großen Augen angeguckt. „Du sollst doch nicht schwindeln“, hat Papa gesagt.
Und Mama hat besorgt den Kopf geschüttelt. Ich, ich habe zurückgeguckt und ein bisschen angefangen zu weinen. Ist doch wahr! Da schreibe ich die viertbeste Arbeit, und dann werde ich dafür auch noch ausgeschimpft. Mama hat mich getröstet und den Kopf gestreichelt und gesagt, dass wir nun mal nicht alle Genies sein können. Papa hat sich das Heft genommen und die Seite mit dem Notenspiegel aufgeschlagen. Dann hat er wieder große Augen gemacht und Mama das Heft gezeigt und gesagt, dass es ja stimmt und er es kaum glauben kann. Ich habe aufgehört zu weinen. Mama hat gelächelt und gesagt, dass so eine Leistung belohnt werden muss. Sie hat ihr Portemonnaie genommen und mir einen glänzenden Groschen geschenkt.
„Kauf dir dafür etwas Schönes“, hat sie gesagt, und Mama und Papa haben ganz stolz gelächelt.
Ich bin gleich raus mit dem Groschen, und das war auch besser so, denn als Papa die Seite mit der Bemerkung von der Lehrerin über die Flugzeuge aufgeschlagen hat, war ich gerade an der Tür. Papa hat gerufen: „Also so etwas...“, aber das konnte ich schon nicht mehr hören.

Im Garten nebenan stand Herr Goscinny. Herr Goscinny ist unser Nachbar, und er und Papa können sich nicht leiden. Als Herr Goscinny Papas Rufen gehört hat, dachte er gleich, dass er etwas Neues hat, um Papa zu ärgern.
Er kam an den Gartenzaun und rief: „He, Rick! Was hat dein Papa denn?“
„Er freut sich, weil ich die viertbeste Mathearbeit geschrieben habe“, habe ich geantwortet.
Und ich habe ihm den Groschen gezeigt. Herr Goscinny hat sich mein Geldstück angesehen.
Dann hat er gesagt: „Weißt du, in dir und deinen Kameraden steckt noch so mancher Groschen.“
Und er hat „Hähähä“ gemacht, weil ich sofort in meinen Hosentaschen nachgesehen habe, ob da wirklich noch ein Geldstück versteckt ist. Aber es war keines da. „Nee, so doch nicht“, hat Herr Goscinny gesagt. „Für mich! Weil ich Geschichten über dich und deine kleinen Kameraden schreibe.“ Und er hat wieder „Hähähäh“ gemacht.
„Ach so“, habe ich geantwortet. Und dass es nichts macht, weil ich auch Geschichten über ihn schreibe. Da hat der Herr Goscinny aufgehört „Hähähä“ zu machen und ein erstauntes Gesicht gezogen.


Ich bin weiter mit meinem Groschen und habe ihn beim Gehen hoch in die Luft geworfen und wieder aufgefangen. Ich hatte schon viele prima Ideen, was ich mir von dem Geld kaufen wollte. Zuerst eine Menge Süßigkeiten, Schokolade, Lakritze und Marzipan. Dann einen Haufen Comic-Hefte mit Enten und Mäusen, die auf zwei Beinen gehen, angezogen sind und sprechen können wie Menschen. Und dann den Modellbausatz von dem Flugzeug, das ich im Schaufenster gesehen habe. Vielleicht sogar ein richtiges Flugzeug, aber da muss ich erst Papa fragen, ob ich es in die Garage stellen darf, damit es nicht nass wird beim Regen.

Wie ich mir überlege, ob neben dem Flugzeug wohl noch Platz für ein Rennauto ist, da fällt mir der Groschen runter, weil ich ein bisschen daneben gegriffen habe. Die Münze kullert ein kleines Stück auf der Straße und verschwindet dann in einem Gully. Ich knie mich gleich hin und schaue in den Gully. Da liegt mein Groschen auf nassem Laub und kleinen Ästen. Ich versuche, ihn mit den Fingern zu erreichen, aber es geht nicht, nämlich der Gully ist zu tief. „Papa!“, rufe ich und laufe zurück ins Haus.

Als ich Papa erzählt habe, dass mein Groschen in den Gully gefallen ist, kratzt Papa sich einen Moment am Kinn.
„Rick“, sagt er, „nun zeige ich dir, dass man mit einem klugen Kopf mehr erreicht im Leben als mit starken Muskeln.“
Papa kramt in seiner Werkzeugkiste und holt einen Magneten und eine Schnur hervor. Den Magneten bindet er an die Schnur, und wir beide gehen durch den Garten zur Straße. Als Herr Goscinny Papa und mich sieht, stellt er sich an seinen Gartenzaun und sieht interessiert zu. Papa lässt den Magneten an der Schnur nach unten auf eine Rille im Gullydeckel zubaumeln. Es macht „klack“, und der Magnet bappt am Gullydeckel fest.
„Das kriegen wir schon hin“, sagt Papa.
Er geht in die Knie, löst den Magneten und schiebt in mit den Fingerspitzen durch die Rillen. Zufrieden stellt er sich wieder auf und lässt den Magneten langsam tiefer herab.
„Na, gibt es bei euch heute zum Abendessen Kanalforelle?“, fragt Herr Goscinny.
„Ich zeige Rick die Vorteile einer physikalischer Bildung“, antwortet Papa.
Ich habe Herrn Goscinny und Papa groß angeschaut, nämlich ich wusste gar nicht, dass es in der Kanalisation Forellen gibt und dass man sie mit Physik fangen kann.
„Mit dem Winzmagneten wird das doch nie was“, sagt Herr Goscinny. „Warte mal.“
Er geht in seinen Gartenschuppen und kommt gleich darauf mit einem viel größeren Magneten an einer dicken Schnur wieder. Ich bekomme schon ein bisschen Angst, nämlich wenn Herr Goscinny mit seinem großen Magneten alle Forellen auf einmal fängt, dann bleiben für uns keine mehr übrig.
„Lass mal jemanden mit mehr Power daran“, sagt Herr Goscinny und schiebt Papa vom Gully weg. Papa, der wickelt seine Schnur auf und sagt nur: „Bitte!“
Herr Goscinny lässt seinen Magneten herab, und mit einem lauten „Tschok!“ klackt der an den Gullydeckel. Papa lacht, als Herr Goscinny. zuerst mit einer, dann mit beiden Händen an dem Magneten zieht, um ihn von dem Deckel zu lösen. Erst als beide gemeinsam drücken und zerren, können sie ihn durch die Rille zwängen und frei in den Gullyschacht baumeln lassen. Herr Goscinny wischt sich mit einem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Da macht es tief drunten „Tschok!“, und der Magnet sitzt wieder fest. Papa und Herr Goscinny ziehen mit aller Kraft zusammen an der Schnur, aber nichts rührt sich.

„Den Magneten kannst du abschreiben“, sagt Papa.
„Auf keinen Fall“, sagt Herr Goscinny. Er gibt Papa die Schnur zum Halten und verschwindet wieder im Gartenhaus. Als er zurückkommt, hat er eine lange Eisenstange in der Hand. Er stemmt sie mit dem einen Ende an den Rand des Gullys und drückt mit seinem ganzen Gewicht das andere Ende herunter. Der Gullydeckel fliegt zur Seite, und Herr Goscinny fängt an, mit den Füßen voran in den Schacht zu klettern. Bis über den Kopf ist er verschwunden, was nicht viel ist, nämlich Herr Goscinny ist gar nicht so groß.
„Na also“, ruft er von unten. „Hier ist dein Groschen, Rick.“
Und er reicht mir das Geldstück aus dem Gully. Dann hören Papa und ich nur ein lautes Schnaufen und Ächzen, und wir sehen das wütende Gesicht des Polizisten, der eilig auf uns zukommt.

„Was ist hier los?“, will der Polizist wissen.
Papa erklärt ihm, dass mein Groschen in den Gully gefallen ist und Herr Goscinny nun da unten versucht, seinen Magneten wieder loszumachen. Der Polizist schaut in den Gully und ruft dann: „Hallo! Kommen Sie sofort wieder heraus!“
„Nicht ohne meinen Magneten“, antwortet Herr Goscinny, „den lasse ich auf keinen Fall los.“
„Mit oder ohne Magnet – Sie kommen auf der Stelle hoch! Oder...“
„Oder was?“, fragt Herr Goscinny trotzig.
„Oder es wird eine deftige Strafe fällig.“
„Wie viel?“, will Herr Goscinny wissen.
„Moment.“ Der Polizist zieht ein dickes Buch aus der Tasche und blättert darin. „Nach Paragraph 42 der Gullyverordnung berechnet sich die Höhe der Strafe aus der Anzahl aller Gullydeckel in der Stadt. Hmmm, das sind insgesamt 2004. Dann ist noch die Anzahl der Rillen wichtig. Aha, vier Stück. Und der Abstand vom gegenüberliegenden Bürgersteig: eins, zwei, drei Meter. Ist der Schacht etwa fünf Meter tief? Offenbar nicht. Dann brauchen Sie nur auszurechnen, wie viele ganze Zahlen bis einschließlich 2004 durch 3 oder 4, aber nicht durch 5 teilbar sind. Schon haben Sie die Höhe der Strafe in Mark.“
Herr Goscinny ist einen Moment still.
„Dann bleibe ich lieber hier unten, bis sie weg sind“, sagt er schließlich.
„Oh, ich habe Zeit, ich kann warten“, antwortet der Polizist.

Papa und ich sind in der Zwischenzeit ins Haus gegangen und haben uns saubere Hosen angezogen. Danach bin ich zum Kaufladen und habe mir von meinen Groschen ein Eis gekauft. Als ich zurückgekommen bin, hat Herr Goscinny immer noch im Gully gesessen und der Polizist oben auf ihn gewartet. Mama hat den beiden ein bisschen später Kaffee und Kekse rausgebracht. Ich habe mich ans Fenster gesetzt und zugeschaut, wie Herr Goscinny und der Polizist Karten gespielt haben, der Polizist hockte auf dem Asphalt, und die Nase von Herrn Goscinny lugte manchmal knapp aus dem Gully hervor. Als es dunkel wurde, hat Mama mich zum Abendessen an den Tisch gerufen. Kaum haben wir gesessen, da hörte man einen Donner, und es fing heftig an zu regnen. Ich habe Papa gefragt, ob die Strafe für Herrn Goscinny sehr hoch sei, und Papa hat gesagt, er weiß es nicht. Mama hat gemeint, das sei ein richtiger Wolkenbruch, und Herr Goscinny holt sich bestimmt eine Lungenentzündung, wenn das Wasser in den Gully fließt.

Nach dem Essen sind Papa, Mama und ich alle ans Fenster, und wir haben gesehen, wie ein Kran an dem Gully stand. Das Kabel von dem Kran war ganz straff gespannt, und unten dran hing der Herr Goscinny. Er war klatschnass und wurde langsam aus dem Gully gezogen. In seiner linken Hand schwenkte er triumphierend seinen Magneten. Aber komisch – obwohl er so lange im Gully war, hatte er keine einzige Forelle gefangen.

Wie hoch war wohl das Bußgeld für Herrn Goscinny?
Gar nicht von Pappe: das Bußgeld, das Herr Goscinny zahlen musste, dafür dass er sich und seinen Magneten im Gully versenkt hat. Wir haben für Sie den reichlich undurchsichtigen Bußgeldkatalog von Knobelheim entschlüsselt.
Das Bußgeld, das Herr Goscinny zu entrichten hat, hängt in ziemlich merkwürdiger - man könnte fast meinen willkürlicher - Art und Weise von den speziellen Gegebenheiten in Kobelheim und der jeweiligen Ordnungswidrigkeit ab. Doch das ist für uns nicht weiter von Belang. Uns interessiert, wie viele ganze Zahlen bis einschließlich 2004 durch 3 oder 4, jedoch nicht durch 5 teilbar sind.

Berechnen wir zunächst, wie viele durch 3 teilbare Zahlen es sind. Dazu teilen wir 2004 kurzerhand durch selbige Zahl:

2004 / 3  =  668

Es sind also exakt 668. Verfahren wir genauso mit der 4:

2004  /  4  =  501

Hier sind es 501 Zahlen. Jetzt haben wir jedoch einige Zahlen doppelt gezählt. Nämlich alle, die sowohl durch 3 als auch durch 4 teilbar sind - die 12 zum Beispiel und alle ihre Vielfachen. Um das Ergebnis entsprechend zu korrigieren, ziehen wir also alle Vielfachen von 12 bis einschließlich 2004 ab. Davon gibt es:

2004  /  12  =  167

Aber wir müssen noch mehr Zahlen streichen: alle, die auch durch 5 teilbar sind. Also alle Vielfachen von 3  ·  5  =  15 und 4  ·  5  =  20:

2004  /  15  =  133,6

2004  /  20  =  100,2

Da nur ganze Zahlen gesucht werden, ist der Rest zu vernachlässigen, womit 133 und 100 von der bisherigen Summe abzuziehen sind. Das jedoch ist wiederum ein wenig zu viel gewesen. Denn nun haben wir alle Zahlen, die sowohl durch 3, 4 und 5 - also durch 3 · 4 · 5 = 60 - teilbar sind doppelt abgezogen. Das mag Herrn Goscinny vielleicht freuen, doch die Polizei in Knobelheim ist auf Trab, und schlägt die fehlende Zahlenzahl flugs wieder auf:

2004  /  60  =  33,4

Damit können wir nun endlich das Bußgeld berechnen:

668  +  501  -  167  -  133  -  100  +  33  =  802.

Herr Goscinny muss also 802 Mark berappen und wird sich reiflich überlegen, noch einmal in den Gully zu springen - im Übrigen nicht nur aus diesem Grund.

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