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Buchkritik zu »Freier Wille – frommer Wunsch?«

Auf dem Höhepunkt der feuilletonistischen Aufregung um die vermeintliche Abschaffung des freien Willens durch die Neurowissenschaften, im Oktober 2004, veranstaltete der Nürnberger "Turm der Sinne" für die interessierte Öffentlichkeit ein Symposium zu diesem Thema. Für den vorliegenden Band haben zehn der zwölf Referenten ihre Vorträge zu Essays umgestrickt. Zwar finden sich einige gängige Nachteile von Tagungsliteratur wie Redundanzen und Widersprüche zwischen den Beiträgen auch hier, aber die Vorteile – vor allem durch die Vielfalt der vertretenen Disziplinen und Standpunkte – überwiegen. Bei der ersten Lektüre gerät man noch kräftig ins Schleudern, weil die Autoren je nach Fachgebiet unterschiedliche Begriffe verwenden und verschiedene Schwerpunkte setzen. Aber wenn man im zweiten Durchgang fleißig hin- und herblättert, beginnen sich die Informationen und Argumente zu einem kohärenten Gesamtbild zusammenzufügen. Es klärt sich auch, was an der Debatte wirklich neu ist und was die Philosophen unter anderen Namen wie etwa Leib- Seele-Problem bereits vor Jahrhunderten beschäftigt hat.

Freier Wille ist die Fähigkeit zur freien Entscheidung. Dem intuitiven, unbedingten Freiheitsbegriff zufolge hätte man sich in exakt derselben Situation auch anders entscheiden können. Allerdings sind alle Ereignisse in der materiellen Welt vorherbestimmt – außer vielleicht Quantenprozessen, die in ihrer Regellosigkeit aber keine vernünftige Basis für freie Willensakte sein können. Diese Determiniertheit ist mit dem unbedingten Freiheitsbegriff nicht kompatibel, und so gab es schon lange vor dem Neuro-Boom zwei Lager so genannter Inkompatibilisten: Die einen hielten am Determinismus fest und erklärten den unbedingt freien Willen zur Illusion; die anderen lehnten den Determinismus ab, um den freien Willen zu retten.

Nichts deutet aber darauf hin, dass die Kausalketten irgendwo im Hirn unterbrochen wären; daher führt in der Wissenschaft am Determinismus kein Weg vorbei. Allerdings vertreten die so genannten Kompatibilisten den Standpunkt, dass eine bedingte Freiheit mit dem Determinismus durchaus vereinbar ist: Frei ist der Mensch, wenn er innehalten und in Ruhe abwägen kann, bevor er handelt.

Was geschieht eigentlich, wenn ich – subjektiv frei – eine Entscheidung fälle? Setzt man Elemente aus den Beiträgen des Psychologen Wolfgang Prinz, des Neurologen Wolfgang Walkowiak, der Philosophin Bettina Walde, des Philosophen Bernulf Kanitscheider und des Rechtsphilosophen Reinhard Merkel zusammen, so ergibt sich aus naturalistischer Perspektive ungefähr folgendes Bild: Jedes mentale Phänomen hat ein neuronales Äquivalent, eine Basis, die es hervorbringt, auf die es aber nicht kausal zurückwirkt. Eine Handlungsentscheidung setzt voraus, dass neuronale Verkörperungen von Präferenzen vorliegen, von langfristigen Interessen und Neigungen bis zu aktuellen Bedürfnissen.

Außerdem sind neuronale Systeme erforderlich, in denen Handlungswissen realisiert ist, also Modelle von den physikalischen Eigenschaften der Welt, von den Auswirkungen einer bestimmten Handlung sowie – umgekehrt – von den Handlungen, die zu einem bestimmten Ziel führen. Zu diesen Modellen trägt wesentlich das Gedächtnis bei, in dem Erlerntes und aus ähnlichen Situationen Erinnertes abgespeichert sind.

In der Planungsphase werden aus dem Vorrat an Modellen und Handlungsprogrammen die geeigneten ausgewählt; in der Ausführungsphase berechnen dann sensomotorische Programme mit Hilfe von Sinnesdaten differenzierte Kommandos, die sie an die zur Bewegung erforderlichen Muskelgruppen schicken. Und schließlich muss der Handlungsverlauf fortlaufend evaluiert werden, das heißt die von den Sinnesorganen eingehenden Signale werden mit den Erwartungen abgeglichen und bei Bedarf die Handlungen korrigiert.

Die Auswahl und Ausführung der geeigneten Handlungsprogramme läuft nicht nur im präfrontalen Kortex ab, jenem Teil der entwicklungsgeschichtlich neuen Hirnrinde, in dem man die neuronalen Korrelate des Bewusstseins verortet. Dieser gibt offenbar nur das Handlungsziel vor, aber an der Abwägung alternativer Handlungen und ihrer Konsequenzen sind auch die älteren Basalganglien beteiligt. Dieses kortikobasale Schleifensystem umfasst mehrere Regelkreise, die mehrfach durchlaufen werden können; erst wenn die Ergebnisse aller Teilberechnungen zueinander passen, wird die Belohnungssubstanz Dopamin ausgeschüttet und ein Signal an den Motorkortex geleitet. Erst in diesem baut sich – etwa eine halbe Sekunde vor der eigentlichen Bewegung – ein Bereitschaftspotenzial auf, und erst eine Fünftelsekunde vor der Bewegung wird einem die Entscheidung bewusst.

Der neurophysiologische Zustand, der mit diesem "Willensentschluss" korreliert, kann also kausal gar nicht auf die längst gefallene Entscheidung einwirken. Manche sehen darin einen Beweis unserer Unfreiheit. Wozu dient dann dieses Gefühl, die Entscheidung bewusst gefällt zu haben? Ist es wirklich ein reines Epiphänomen, eine "kausal irrelevante Begleitmusik", wie der Philosoph Holm Tetens schreibt? Die Evolution hätte das Phänomen wohl kaum hervorgebracht, stünde dem Energieaufwand für seine neuronale Basis nicht ein Überlebensvorteil gegenüber. (Bedauerlich, dass der Evolutionstheoretiker Franz Wuketits in seinem Beitrag über den "Affen in uns" dazu nichts Profundes zu sagen hat und stattdessen – Goethe, Kafka und sich selbst zitierend – über die Vermessenheit der Bezeichnung Homo sapiens, Religion als Beispiel für illusionäres Denken, die Bürokraten der EU und allerlei Sonstiges doziert.)

Nach Prinz, Walkowiak und Walde empfinde ich mich erst durch die Einschaltung des Bewusstseins als Autor meines Handelns; nur so wird die Entscheidung erinnerbar und mitteilbar. Durch die Erinnerung kann ich die Erfahrungen, die ich mit meiner Entscheidung gemacht habe, in meine Weltmodelle einbauen. Durch Kommunikation kann ich auch aus anderer Leute Entscheidungen und deren Konsequenzen lernen. Jedes "Update" meines Handlungswissens stellt meine künftigen Entscheidungen auf eine solidere Basis. Damit erhält das Konstrukt des freien Willens ontologische Realität: Wir werden mit jeder Entscheidung ein Stückchen freier, indem wir unser Wissen erweitern und uns neue Handlungsoptionen eröffnen.

Zwar sind sich die genannten Autoren nicht in allem einig, was schon ihre Bezeichnungen für den freien Willen zeigen ("Illusion", "Intuition", "Gefühl", "soziales Konstrukt"), aber sie alle meinen, dass man die Frage nach der Freiheit des Menschen nicht ohne die Neurowissenschaften klären könne. Anders sehen es der Moraltheologe Eberhard Schockenhoff und der Ethiker Matthias Kettner. Schockenhoff hebt vor allem darauf ab, dass menschliches Handeln durch Gründe bestimmt sei und auf der Ebene von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen nicht verstanden werden könne, und kritisiert das "reduktionistische Programm" der naturalistischen Philosophie. Dabei hat er einen schweren Stand, da sein Beitrag an die differenzierte und klare Abhandlung des Rechtsphilosophen Reinhard Merkel anschließt, der diese beiden Missverständnisse bereits ausgeräumt hat. Lesenswert ist Schockenhoff s schlüssige Kritik an Fehlinterpretationen des klassischen Libet-Experiments, in dem vor über 20 Jahren erstmals die Verspätung der Bewusstwerdung von Entscheidungen zu Tage trat: Libets Versuchsaufbau erfasst die Entscheidungseinleitung durch die Instruktion der Versuchspersonen nicht und wird dem Langzeitphänomen Wille nicht gerecht.

Kettner vermutet, dass vor allem die Entfremdung in Zeiten der Globalisierung und des Terrors zum Hype »Willensfreiheit versus Determinismus« beigetragen habe, und konstatiert einige "Merkwürdigkeiten der aktuellen Debatte". Problematisch wird es, wenn er der Gegenseite dabei unsinnige Positionen unterstellt. "Die Hirnforscher meinen, dass Gründe, also die Beweg- und Rechtfertigungsgründe für unser Tun und Lassen, doch nur im Kopf existieren können", schreibt Kettner zum Beispiel, während die Neurowissenschaftler tatsächlich nur die neuronalen Korrelate mentaler Prozesse in den Hirnen verorten und über Gründe wohlweislich schweigen.

Viele weitere Themen werden angeschnitten, so die Frage, ob unser Schuldstrafrecht nicht revidiert werden muss, wenn der Mensch in seinen Entscheidungen nicht unbedingt frei ist. Erheblich gewonnen hätte das interessante Buch noch durch ein Register.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 9/2006

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