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Freistetters Formelwelt: Atomare Elemente und der audioaktive Zerfall

Nicht alles, was Zahlen enthält, hat auch mit Mathematik zu tun. Aber wenn trotzdem jemand anfängt, damit Mathematik zu betreiben, können erstaunliche Sachen dabei herauskommen.
Bunte magnetische Plastikzahlen, wie sie möglicherweise auch bei der Finanzplanung des Flughafens Berlin Brandenburg zum Einsatz kamen.

Mit welcher Zahl muss die folgende Reihe fortgesetzt werden?
1, 11, 21, 1211, 111221, 312211, …
Es ist ein altes und oft gestelltes Rätsel, und die Antwort lautet 13112221. Um das zu verstehen, muss man aber gar nicht rechnen, sondern nur lesen und hören. Die erste Zahl in der Reihe ist »eine Eins«. Schreibt man diese Definition als Ziffernfolge auf ergibt das genau die zweite Zahl: 11.

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Die kann man wiederum als »zwei Einsen« lesen und als »21« niederschreiben. Daraus wird »eine Zwei eine Eins« oder »1211«. Und so weiter. Die Zahlen der Reihe sind nicht, wie üblich, als Dezimalzahlen zu interpretieren, sondern als reine Abfolge von Ziffern. Die Beschreibung dieser Ziffern definiert die nächste Ziffernfolge der Reihe. So erhält man aus »312211« das nächste Element »13112221« (eine Drei eine Eins zwei Zweien zwei Einsen).

Das alles ist schon sehr kurios, noch seltsamer wird es damit:

So etwas sieht man nicht alle Tage. Es handelt sich um ein Polynom 71ten Grades mit genau einer positiven reellen Nullstelle. Ihr Wert beträgt 1,303577269034…, und das alles hat tatsächlich etwas mit dem recht unmathematischen Zahlenrätsel vom Anfang zu tun. Im Jahr 1987 veröffentlichte der berühmte britische Mathematiker John Horton Conway einen Artikel mit dem Titel »The Weird and Wonderful Chemistry of Audioactive Decay«.

Atomare Elemente

Darin stellte er das Prinzip der »Look-and-say-sequence« vor, wie diese Folge heute auch genannt wird, und untersuchte deren mathematische Eigenschaften. Unter anderem war er am Längenwachstum der Folgenglieder interessiert. Man sieht leicht, dass fortlaufende Einträge in der Reihe immer länger werden, im Durchschnitt um 30 Prozent pro neuem Term. Conway konnte zeigen, dass die Länge zwei in der Reihe aufeinanderfolgender Ziffernblöcke im Grenzfall einer unendlich fortgesetzten Reihe gegen eine bestimmte Zahl strebt. Die wird heute »Conway-Konstante« genannt, und ihr Wert entspricht genau der vorhin genannten Nullstelle des Polynoms vom 71. Grad.

Conway fand noch weitere Eigenschaften: Die Länge der Ziffernblöcke wächst nicht nur beim Start mit einer Eins irgendwann über alle Grenzen, sondern bei jedem ganzzahligen Startwert, mit Ausnahme der 22, bei der sich einfach nur die triviale Sequenz 22, 22, 22, 22, …. ergibt. Conway stellte außerdem fest, dass sich eine solche Folge früher oder später in »atomare Elemente« spaltet – also Untersequenzen, die ab diesem Zeitpunkt keinen Einfluss mehr aufeinander haben.

Beginnt man etwa mit 2111, lautet der nächste Eintrag in der Reihe »1231«. Aus der 2 wurde die 12 und aus den drei Einsen die 31. Im nächsten Schritt entsteht 11121311, wobei die 12 für 1112 (eine Eins eine Zwei) zuständig ist und die 31 für 1311 (eine Drei eine Eins). Dieses Verhalten setzt sich fort: Nachdem sich im ersten Schritt 2 und 111 getrennt haben, haben auch alle daraus resultierenden Sequenzen nichts mehr miteinander zu tun.

Da jede Sequenz irgendwann in solche atomaren Elemente zerfällt, hat Conway dieses Verhalten in Anlehnung an den radioaktiven Zerfall als »audioaktiven Zerfall« bezeichnet und den 92 von ihm gefundenen atomaren Elementen mit den Ziffern 1, 2 und 3 die Namen entsprechender chemischer Elemente gegeben.

Die Mathematik hinter all dem ist durchaus spannend und amüsant, konkrete Anwendungen sind daraus aber nicht erwachsen. Wenn man möchte, kann man Parallelen zur so genannten »Lauflängencodierung« ziehen, also den Datenkompressionsalgorithmen, bei denen Sequenzen aus identischen Symbolen durch deren Anzahl ersetzt werden. Aber das ist eigentlich gar nicht nötig. Die Mathematik ist zwar zweifellos ein wertvolles Werkzeug für jede Menge unterschiedlicher Disziplinen. Am Ende ist sie sich aber einfach nur selbst genug.

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