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Freistetters Formelwelt: Eine Frage der Geduld

Seit 165 Jahren ist die riemannsche Vermutung eines der größten ungelösten Probleme der Mathematik. Dabei gibt es eine klare Lösung – doch dafür braucht man richtig viel Zeit.
Eine Sanduhr mit rotem Granulat steht vor verschwommenem Hintergrund und ist bereits zur Hälfte abgelaufen
Eines der größten Rätsel der Mathematik, die riemannsche Vermutung, lässt sich überprüfen. Doch dabei ist Geduld gefragt.

»Die Primzahlen sind das Rohmaterial, aus dem wir die Arithmetik aufbauen müssen.« Das hat der englische Mathematiker Godfrey Harold Hardy gesagt. Und weil die Primzahlen Teil des mathematischen Fundaments sind, ist es so wichtig, zu verstehen, wie sie funktionieren. Das hat sich in einigen Fällen als erstaunlich schwierig herausgestellt.

Wir wissen noch nicht einmal exakt, wie häufig sie vertreten sind. Es gibt 168 Primzahlen, die kleiner als 1000 sind, 1229 von ihnen sind kleiner als 10 000 und so weiter. Solche Daten lassen sich heutzutage durch den Einsatz von Computern vergleichsweise leicht berechnen. Doch damit ist die Mathematik nicht zufrieden: Sie will eine Formel, die exakte Ergebnisse für beliebige Obergrenzen liefert.

Immerhin gibt es den Primzahlsatz, durch den sich ihre Anzahl abgeschätzt lässt. Verwendet man diese Extrapolation, anstatt konkret zu zählen, gibt es 178 Primzahlen, die kleiner als 1000 sind, und 1246, die kleiner als 10 000 sind. Eine etwas ungenaue Schätzung, aber die Unterschiede werden geringer, wenn man eine genügend große Menge an Zahlen betrachtet (im Grenzfall unendlich vieler Zahlen verschwinden die Ungenauigkeiten sogar).

Die legendärsten mathematischen Kniffe, die übelsten Stolpersteine der Physikgeschichte und allerhand Formeln, denen kaum einer ansieht, welche Bedeutung in ihnen schlummert: Das sind die Bewohner von Freistetters Formelwelt.
Alle Folgen seiner wöchentlichen Kolumne, die immer sonntags erscheint, finden Sie hier.

Wenn man entsprechende Vergleiche anstellt, wird man feststellen, dass der Primzahlsatz die Anzahl an Primzahlen immer überschätzt. 1914 entdeckte John Littlewood, ein Kollege von Hardy, dass die Formel irgendwann auch einmal ein zu kleines Ergebnis liefern würde. Und tatsächlich erfolgt der Wechsel von Über- zu Unterschätzung unendlich oft. Was allerdings weder Hardy noch Littlewood oder sonst jemand wusste, war der Punkt, an dem ein solcher Wechsel erstmals stattfindet.

Womit wir bei dieser Formel landen:

1933 fand der Südafrikaner Stanley Skewes, ein Doktorand von Littlewood, diese Zahl während seiner Dissertation. Es war die erste konkrete Obergrenze für den Punkt, an dem die Überschätzung des Primzahlsatzes zur Unterschätzung wird. Es ist schwer, sich klarzumachen, wie groß diese Zahl ist. Hardy hat es probiert, indem er sich ein Schachspiel vorstellte, das nicht mit den üblichen 16 weißen und 16 schwarzen Figuren gespielt wird, sondern mit den 1080 Protonen, die nach seiner Schätzung die gesamte Materie des Universums ausmachen. In diesem Fall würde die Anzahl an möglichen Zügen in etwa der von Skewes berechneten Zahl entsprechen.

Zum Glück ist es in der Mathematik aber nicht notwendig, sich eine Zahl vorstellen zu können. Es reicht völlig, mit ihr zu rechnen beziehungsweise in diesem Fall von ihrer Existenz zu wissen. Skewes gelangte zu seiner Abschätzung unter der Annahme, dass die riemannsche Vermutung korrekt ist. Ein entsprechender Beweis hat damals jedoch nicht existiert (und tut das weiterhin nicht). Deswegen leitete er noch eine zweite Zahl ab, die als Obergrenze für den Fall gilt, dass die riemannsche Vermutung falsch ist. Letztere ist allerdings noch viel größer als die erste.

Mittlerweile konnten andere Mathematiker die Obergrenze ein wenig senken; sie bleibt aber immer noch unvorstellbar groß. Auch mit den schnellsten Computern werden wir nicht in der Lage sein, konkret bis zu dem Zeitpunkt zu rechnen, an dem die Unterschätzung durch den Primzahlsatz das erste Mal auftritt. Dennoch wissen wir mit Sicherheit, dass es passieren wird. Und dank Stanley Skewes wissen wir auch, dass wir nicht unendlich lange darauf warten müssen – selbst wenn es sich angesichts der gigantischen Zahlen vielleicht so anfühlen mag.

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