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Die fabelhafte Welt der Mathematik: Von komplexen Zahlen zu Tomb Raider

Jahrelang suchte ein Physiker nach der Verallgemeinerung imaginärer Zahlen. Heute ermöglichen die Quaternionen es Computerspielfiguren wie Lara Croft, sich ruckelfrei zu bewegen.
Ein Junge spielt 1998 in einem Geschäft das Computerspiel Tomb Raider III
Wer hätte gedacht, dass sich hinter Tomb Raider komplizierte Algebra verbirgt?

Tomb Raider war eines der ersten Computerspiele, das ich als Kind gespielt habe. Das Abenteuerspiel wurde erstmals 1996 veröffentlicht und dreht sich um die selbstbewusste Abenteurerin Lara Croft, die ein Faible für Archäologie hat – fast wie eine Art weiblicher Indiana Jones. Nach heutigen Standards ist die Grafik des Originalspiels ziemlich schlecht, die Objekte erscheinen pixelig, und an manchen Stellen wirken die Bewegungen etwas ruckelig. Doch in den 1990er Jahren zählte es zu den High-End-Games, immerhin konnte man die Hauptfigur in einer dreidimensionalen Welt bewegen statt bloß in der Ebene. Auch aus technologischer Sicht war das eine Herausforderung: Tatsächlich war Tomb Raider eines der ersten Spiele, das »Quaternionen« enthält – eine Verallgemeinerung der komplexen Zahlen, die der renommierte Mathematiker und Physiker Sir William Rowan Hamilton (1805–1865) entdeckt hat.

Hamilton war schon zu Lebzeiten ein angesehener Forscher und galt bereits als Kind bei seinen Lehrern als nächster »Isaac Newton«. Ganz falsch war diese Einschätzung nicht. Er arbeitete als »Royal Astronomer of Ireland«, widmete sich aber leidenschaftlich gerne Problemen der mathematischen Physik. Die komplexen Zahlen hatten es ihm besonders angetan: Dabei handelt es sich um eine Art Erweiterung des gewöhnlichen Zahlenstrahls. Anstatt nur Wurzeln aus positiven Werten zuzulassen, ist es im komplexen Zahlenraum auch möglich, die Wurzel aus negativen Zahlen zu ziehen. Dieses Konzept hatte der französische Gelehrte René Descartes bereits 1637 eingeführt, der die Wurzeln als »imaginär« bezeichnete, da er sie nur als abstrakte Rechenhilfe betrachtete. Etwas mehr als 100 Jahre später führte der Schweizer Mathematiker Leonhard Euler die bis heute genutzte Schreibweise von √(−1) = i ein, mit der imaginären Einheit i. Damit lässt sich eine komplexe Zahl z als Summe a + ib schreiben, wobei a und b reelle Werte sind.

Komplexe Ebene
Viele Menschen denken, Mathematik sei kompliziert und öde. In dieser Serie möchten wir das widerlegen – und stellen unsere liebsten Gegenbeispiele vor: von schlechtem Wetter über magische Verdopplungen hin zu Steuertricks. Die Artikel können Sie hier lesen oder als Buch kaufen.

Während man eine reelle Zahl durch einen Punkt auf dem Zahlenstrahl darstellen kann, ist das mit imaginären Werten nicht möglich. Ist i größer oder kleiner als 1? Diese Frage lässt sich nicht beantworten. Wie sich herausstellt, ist es praktisch, komplexe Zahlen in einer Ebene darzustellen statt auf einer eindimensionalen Gerade. Die x-Achse entspricht dabei immer noch dem reellen Zahlenstrahl, die y-Achse enthält hingegen die imaginären Werte. Eine komplexe Zahl a + ib entspricht dann dem Punkt (a, b) in der Ebene.

Multiplikation komplexer Zahlen | Wenn man das Produkt aus 2 + i und 3 + i bildet, erhält man 5 + 5i.

Wem also imaginäre Werte nicht ganz geheuer sind, kann sich stattdessen zweidimensionale Vektoren vorstellen, wie in der linearen Algebra – zumindest fast. Man kann zwei Werte v = a + ib und w = c + id ganz gewöhnlich wie Vektoren addieren (v + w = a + c + i(b + d), was dem Vektor (a+c, b+d) entspricht). Doch anders als zweidimensionale Vektoren kann man zwei komplexe Zahlen auch multiplizieren: v·w = ac + i(ad + bc) + i2bd. Da i2 = −1, lautet das Ergebnis: v·w = (ac − bd) + i(ad + bc). Das Produkt der Vektoren hat also die Koordinaten (ac − bd, ad + bc). Man kann demnach die Multiplikation mit einer komplexen Zahl u als eine Drehung und Streckung der ursprünglichen Zahl v verstehen. Das heißt, man muss eine solche Transformation in der Ebene nicht wie sonst üblich durch eine 2×2-Matrix darstellen, sondern kann komplexe Zahlen nutzen.

Broome Bridge | Eine Tafel an der Brücke in Dublin erinnert an Sir William Rowan Hamiltons Entdeckung.

Quaternionen: Noch imaginärer

Diese Vereinfachung faszinierte Hamilton. Und er fragte sich, ob es möglich wäre, eine weitere Zahl j einzuführen, um damit Punkte und Drehungen im Dreidimensionalen darzustellen. Das neue Zahlensystem sollte also aus Tripeln bestehen: u = a + ib + jc. Falls c = 0 ist, hat man eine gewöhnliche komplexe Zahl, die einen Punkt in der Ebene beschreibt. Für b = 0 befindet man sich ebenfalls in einer Ebene – daher muss j dieselben Eigenschaften erfüllen wie i, das heißt j2 = −1. Die neuen Zahlen u lassen sich wie gewohnt addieren und subtrahieren. Doch als er die Tripel multiplizieren wollte, stieß Hamilton auf ein Problem: Wenn man das Produkt aus zwei dreidimensionalen Zahlen u = a + ib + jc und v = d + ie + jf bildet, erhält man: u·v = ad − be − fc + i(bd + ea) + j(cd + fa) + ijbf + jice. Aber was ergibt das Produkt aus i·j beziehungsweise j·i?

Zunächst wollte Hamilton herausfinden, welchen Betrag |i·j| hat. Dafür quadrierte er das Produkt: (i·j)2 = i·j·i·j. Unter der Annahme, dass man i und j vertauschen kann, erhält man: (i·j)2 = i2·j2 = (−1)·(−1) = 1. Wenn das Produkt i·j also eine reelle Zahl ist, dann muss es dem Wert +1 oder −1 entsprechen. Um i·j genauer zu bestimmen, kann man eine weitere Bedingung betrachten, die Vektoren erfüllen müssen: Die Länge des Produkts zweier Vektoren muss dem Produkt der Längen zweier Vektoren entsprechen. Das heißt insbesondere: Wenn man einen Vektor u = a + ib + jc quadriert, muss das Ergebnis seiner quadrierten Länge entsprechen |u|2 = a2 + b2 + c2. Dafür muss man allerdings beachten, dass das Quadrat einer komplexen Zahl u = a + ib nicht einfach nur u·u entspricht, sondern u·u*, wobei bei u* das Vorzeichen vor dem i umgedreht wird: u·u* = (a + ib) · (a − ib) = a2 + b2. Im dreidimensionalen Fall erhält man also analog: |u|2 = u·u* = (a + ib + jc)·(a − ib − jc) = a2 − iab − jac + iab + b2 −  ijbc + jac − jibc + c2a2 + b2 + c2 − bc(ij + ji).

Damit steckte Hamilton in einer Sackgasse. Einerseits sollte i·j einen endlichen Wert annehmen (+1 oder −1), andererseits musste der Term bc(ij + ji) = 0 sein, damit die Länge der Vektoren unter der Multiplikation wohldefiniert ist. Darüber zerbrach sich der Wissenschaftler jahrelang den Kopf. Wie Hamilton berichtete, fragten ihn seine Söhne jeden Morgen zum Frühstück: »Kannst du nun Tripel miteinander multiplizieren?«, woraufhin er jedes Mal antwortete: »Nein, ich kann sie bloß addieren und subtrahieren.«

Quadrupel sind die Lösung

Doch was, wenn i·j nicht dasselbe ergibt wie j·i? Hamilton erkannte, dass für i·j = k und j·i = −k das Problem verschwand: Das Produkt zweier Vektoren ergibt dann |u|2 = u·u* = (a + ib + jc)·(a − ib − jc) = a2 + b2 + c2 − bc(k − k) = a2 + b2 + c2. Doch was wäre dann k?

Bei einem Spaziergang durch Dublin mit seiner Frau im Jahr 1844 hatte Hamilton plötzlich die entscheidende Erkenntnis: k ist kein reeller Wert, wie er bis dahin angenommen hatte – sondern eine weitere imaginäre Zahl! Um Drehungen in drei Dimensionen durch komplexe Zahlen darzustellen, brauchte man keine Tripel, sondern Quadrupel u = a + bi + cj + dk. Aufgeregt rannte Hamilton zur nächsten Brücke, der heutigen Broome Bridge, und ritzte mit einem Nagel folgende Zeile hinein: i2 = j2 = k2 = ijk = −1. Das war die Geburtsstunde der Quaternionen. Wer heute Dublin besucht, kann an der Broome Bridge ein Gedenkschild sehen, das an diese Entdeckung erinnert.

Rotation in drei Dimensionen | Drehungen im 3-D-Raum sind nicht kommutativ.

Damit hatte Hamilton ein neues Zahlensystem gefunden, in dem alle vier Grundrechenarten, die Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division, wohldefiniert sind. Und es war das erste solche System, das nicht kommutativ ist – das heißt a·b ≠ b·a.

Drehung um eine Achse

Diese Eigenschaft schien zunächst ungewöhnlich, doch wenn man Quaternionen nutzen will, um Rotationen im dreidimensionalen Raum zu beschreiben, macht das Sinn. Denn im Dreidimensionalen spielt es eine Rolle, in welcher Reihenfolge man ein Objekt dreht. Stellen Sie sich vor, Sie blicken von vorne auf das Cover eines Buchs. Dann rotieren Sie es von unten nach oben, das heißt, Sie sehen nun den unteren Rand vor sich. Dann drehen Sie es nach rechts und schauen auf den Buchrücken. Nun stellen Sie sich vor, Sie hätten die Drehungen in anderer Reihenfolge vollzogen: Sie drehen das Buch zuerst nach rechts und schauen auf den Buchrücken. Dann drehen Sie das Buch von unten nach oben und blicken auf den unteren Rand, der sich nun senkrecht erstreckt. Obwohl Sie in beiden Situationen die beiden gleichen Rotationen ausgeführt haben, ist das Ergebnis unterschiedlich. Um Drehungen zu beschreiben, braucht man also ein nicht kommutatives Zahlensystem.

Rotation mit Quaternionen

Aber wie stellt man einen dreidimensionalen Vektor p = (x, y, z) als Quaternion dar, das ja vier Komponenten besitzt (i, j, k und einen reellen Wert)? Wie sich herausstellt, muss man dafür einfach nur die reelle Komponente gleich null setzen, das heißt p = xi + yj + zk. Angenommen, man will p entlang einer Achse (u, v, w) um den Winkel θ rotieren. Um die Komponenten des gedrehten Vektors p' zu erhalten, muss man bloß folgende Berechnung durchführen: \(p' = (\cos \frac{\theta}{2} + (ui + vj + wk)\sin\frac{\theta}{2})\cdot p \cdot (\cos \frac{\theta}{2} – (ui + vj + wk)\sin\frac{\theta}{2}) .\)

Genau diese Eigenschaft haben die Spieleentwickler von Tomb Raider mehr als 150 Jahre nach Hamiltons Entdeckung genutzt. Obwohl Quaternionen schon lange bekannt waren, wurden sie bei gewöhnlichen geometrischen Berechnungen kaum benutzt. Stattdessen griff man meist auf lineare Algebra zurück, bei der Vektoren und Drehmatrizen eine entscheidende Rolle spielen. Rotationsmatrizen im dreidimensionalen Raum besitzen allerdings neun Komponenten, während Quaternionen bloß von vier Größen abhängen. Durch das imaginäre Zahlensystem spart man also Rechenzeit. Zudem müssen die Bewegungen bei Videospielen kontinuierlich verlaufen: Man dreht ein Objekt nicht ruckartig um einen endlichen Winkel, sondern möchte eine möglichst glatte Bewegung darstellen. Das heißt, man muss zahlreiche winzige Drehungen nacheinander ausführen, was sich mit Quaternionen problemlos umsetzen lässt. Bei Drehmatrizen gestaltet sich das wesentlich komplizierter: Man muss jedes Mal 3×3-Matrix miteinander multiplizieren und sicherstellen, dass deren Produkt wieder einer Rotationsmatrix entspricht.

Der einfachere Umgang mit Quaternionen hat sie zu einem etablierten Werkzeug im Bereich der Computergrafik gemacht. Die seltsamen vierkomponentigen Zahlen bilden den zentralen Bestandteil der geometrischen Algebra, bei der man versucht, geometrische Transformationen durch algebraische Operationen (etwa Multiplikation oder Addition) auszudrücken. Auch wenn Letzteres manchmal abstrakter wirkt, bietet dieser Ansatz doch erhebliche Vorteile. Wer hätte gedacht, dass hinter Tomb Raider so viel Mathematik steckt?

​​Was ist euer Lieblingsmathetheorem? Schreibt es gerne in die Kommentare – und vielleicht ist es schon bald das Thema dieser Kolumne!

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