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Assistierter Suizid: Selbstbestimmt Sterben

In Deutschland darf man sich bei einem Suizid helfen lassen. Das gilt – unter bestimmten Voraussetzungen – auch für psychisch Kranke. So könnten künftig aber vor allem ältere, weitgehend gesunde Menschen vorzeitig sterben. Ein Interview mit der Medizinethikerin Claudia Bozzaro und dem Psychiater Thomas Pollmächer über assistierten Suizid.
Ein Ärztin stützt mit einer Hand und bedeckt mit ihrer anderen die Hand einer Patientin.

Darf man um Hilfe bei einem Suizid bitten, wenn man starke Schmerzen hat oder psychisch so sehr leidet, dass das eigene Leben nicht mehr lebenswert erscheint? Oder dürfen das nur tödlich Erkrankte? Und machen sich Sterbehelfer unter Umständen strafbar? Viele kennen den assistierten Suizid (auch Sterbebeihilfe genannt) bislang vor allem aus der Schweiz, wo die »Freitod­begleiter« des Vereins EXIT im Jahr 2022 mehr als 1000 Menschen das Betäubungsmittel NaP (Natrium-Pentobarbital) besorgten. Das setzt eine Prüfung der Fälle voraus – und dass die Sterbewilligen das tödliche Medikament selbst einnehmen. In anderen Ländern wie den Niederlanden oder Belgien ist zudem die »Tötung auf Verlangen« zulässig, bekannt als aktive Sterbehilfe oder Euthanasie. Hier dürfen Sterbehelfer (meist Ärzte) den Wirkstoff auch verabreichen. Die Statistiken aus Ländern mit Sterbehilfe-Gesetzen zeigen: Die Nachfrage ist vorhanden – und sie steigt kontinuierlich. Steht solch eine Entwicklung in Deutschland bevor? Bereits am 26. Februar 2020 erklärte das Bundesverfassungsgericht das Verbot der »geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung« für verfassungswidrig und den entsprechenden Paragraf 217 im Strafgesetzbuch für nichtig. Die Regierung war aufgefordert, die Sterbehilfe in Deutschland neu zu regeln, woraufhin parteiübergreifende Abgeordnetengruppen zunächst drei Gesetzesentwürfe ausarbeiteten – zwei davon liberal, einer eher restriktiv. Assistierter Suizid findet in Deutschland bereits statt (während die Tötung auf Verlangen weiterhin verboten und strafbar ist). Die Deutsche Gesellschaft für Humanes Sterben (DGHS) etwa hat im vergangenen Jahr deutschlandweit für 227 Menschen den Freitod organisiert – das sind fast doppelt so viele wie im Vorjahr. Auch Ärzte und Pflegende werden zunehmend mit den Sterbewünschen von Patienten konfrontiert. Die Befürworter einer liberalen Regelung haben ihre beiden Gesetzesvorschläge nun zusammengeführt und am 13. Juni 2023 in einer Pressekonferenz vorgestellt. Ein Gesetz soll noch in diesem Jahr verabschiedet werden (Stand: 4. Juli 2023).

Frau Professorin Bozzaro, Herr Professor Pollmächer, dürfen sich gesunde Menschen in Deutschland bei einem Suizid helfen lassen?

Claudia Bozzaro: Ja, das dürfen sie. Sein Urteil von 2020 hat das Bundesverfassungsgericht mit dem Persönlichkeitsrecht begründet und klargestellt, dass die Autonomie des Menschen unbedingt zu beachten ist. Jeder in Deutschland darf demnach selbstbestimmt sterben – auch durch einen Suizid – und dabei Hilfe anderer in Anspruch nehmen, sofern diese angeboten wird. Das Interessante an dem Urteilsspruch ist, dass die Richter in Karlsruhe das Recht auf assistierten Suizid nicht eingegrenzt haben, indem sie beispielsweise ein unerträgliches Leiden auf Grund einer zum Tode führenden Krankheit zu einer Voraussetzung gemacht haben. Diese Ausgangslage unterscheidet die Situation hier zu Lande von der in anderen Ländern mit bereits vorhandenen Sterbehilfe-Gesetzen. In den Niederlanden, Kanada und Portugal beispielsweise sind Kriterien wie ein unheilbares oder unerträgliches Leiden eine Bedingung für assistierten Suizid und die dort ebenfalls zulässige aktive Sterbehilfe, also die Tötung auf Verlangen. Letztere steht bei uns noch nicht zur Debatte, aber ich vermute, dass wir diese in nicht allzu ferner Zukunft auch diskutieren werden.

Thomas Pollmächer: Aber unsere Gesetzgeber haben neben der Wahrung der Autonomie natürlich eine Schutzpflicht des Staates zu beachten. Sie müssen sicherstellen, dass Sterbewillige wirklich selbstbestimmt handeln. Das Bundesverfassungsgericht hat dafür den Ausdruck »freie Suizidentscheidung« gewählt. Bedeutet: Man muss sich der Bedeutung seiner Entscheidung vollumfänglich bewusst sein, Alternativen kennen und diese in seine Überlegungen einbeziehen. Jemand, der gerade von seiner Freundin sitzen gelassen wurde und noch am selben Tag erklärt, dass er deshalb sterben möchte, denkt vermutlich nicht reflektiert. Solch eine Suizidentscheidung wäre nicht frei. Man kann sich nun massive Schutzvorkehrungen vorstellen, um die Fähigkeit zur Selbstbestimmung zu überprüfen, etwa meh­rere Gutachten von Fachleuten einfordern oder nur den behandelnden Arzt entscheiden lassen. Wie genau und tief die Selbstbestimmungsfähigkeit geprüft wird – darin unterscheiden sich die Gesetzesentwürfe.

Kann diese Gratwanderung zwischen Wahrung der Entscheidungsfreiheit einerseits und Erfüllung der Schutzpflicht andererseits überhaupt gelingen?

Bozzaro: Das Dilemma lässt sich nicht vollständig auflösen. Es wird immer Einzelfälle geben, die erneut diskutiert werden müssen...

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