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Auf dem Weg zum Abitur light?


Abitur in Deutschland – das ist seit rund eineinhalb Jahrhunderten eine Visitenkarte des deutschen Schulsystems. Anders als in Ländern, die in der schulischen Oberstufe eher die verengte Spezialbildung und nachfolgend eine eingeschränkte, fachgebundene Hochschulreife mit Hochschulzugangsprüfung kennen, gelten in Deutschland nach wie vor die Prinzipien der Allgemeinen Hochschulreife als Attest für breitangelegte Studierfähigkeit.

Freilich ist das Abitur als Zugangsberechtigung für ein Universitätsstudium in Mißkredit geraten. Der Präsident des Deutschen Hochschulverbandes (DHV), der Kölner Völkerrechtler Hartmut Schiedermair, forderte deshalb im März 1992 den Rücktritt der Kultusminister aller sechzehn Bundesländer: Diese hätten „das Abitur kaputtgemacht oder doch den Ruf des Abiturs ruiniert“. Andere Kritiker fragen, ob das Abiturzeugnis überhaupt noch ein hinreichender Nachweis für Hochschulreife sei, zumal es ja deutschlandweit – quasi inflationär – an die 60 Wege des Hochschulzugangs gebe und nicht einmal der eine dieser 60 Wege, der gymnasiale, über alle 16 Bundesländer hinweg vergleichbar sei.

Die Klagen jedenfalls sind Legion: Nicht wenige Professoren attestieren ihren Studenten große Defizite in den Kulturtechniken. In manchen Studiengängen möchten die Hochschulen „Liftkurse“ in allgemeinbildenden Fächern einrichten, damit schulische Grundlagen nachgeholt werden können. Die Quote an Studienabbrechern ist an den Universitäten auf über 30 Prozent angestiegen. Die durchschnittlichen Studienzeiten haben sich auf über 14 Semester erhöht. Tatsächlich scheinen die Hochschulen die Erfahrung gemacht zu haben, daß viele Abiturienten mit dem Zeugnis der Reife zwar eine Berechtigung, aber nicht immer eine Befähigung zum Studium attestiert bekommen.

In der Süddeutschen Zeitung vom 20. September 1991 schrieb Rainer Stephan, Redakteur im Ressort Innenpolitik, unter dem Titel „Die Rache der Bildungsreform“ somit durchaus treffend: „Wie schlechte Finanzminister, die ihr Kapital durchs schlichte Drucken von Geldscheinen vermehren, haben die Bildungsfunktionäre nicht das allgemeine Bildungsniveau angehoben, sondern bloß den Ausgabefaktor von Abiturzeugnissen und Hochschulexamina. Auf haarsträubend niedrigem Niveau wurde so, rein formal gesehen, in der Tat die Chancengleichheit erhöht.“


Großzügigkeiten und Beliebigkeiten

Deutschland also auf dem Weg zu einem Abitur der mageren, substanzlosen Art, zum Abitur light? Mancherorts gibt es tatsächlich großzügige Regelungen, so daß Schüler in der Oberstufe und bei der Festlegung der Abiturfächer einen Bogen um zentrale und schwere Fächer machen können. Die Schüler verschiedener Bundesländer können sich regelrechte à-lacarte-Abiturmenüs zusammenstellen; nicht alle verlangen, wie Baden-Württemberg, Bayern oder Sachsen, zwei Kernfächer (das sind: Deutsch, Fremdsprachen, Mathematik, Physik und zum Teil Chemie) in der Abiturprüfung. Wie sollte es auch anders sein: Die Schulsenatorin von Hamburg, Rosemarie Raab (SPD), hatte sogar als Präsidentin der Kultusministerkonferenz (KMK) im April 1995 gegen die „Privilegierung der Kernfächer“ gewettert. Das Festhalten daran sei, so Raab, der „hilflose Versuch, eine Festung gegen die neue Unübersichtlichkeit zu errichten“. Eine verräterische Aussage! Will sie diese neue Unübersichtlichkeit etwa? Und so verschwinden wichtige Fächer immer mehr aus dem Tableau angehender Abiturienten: In Niedersachsen ging der Anteil der Schüler, die das Leistungskursfach Physik gewählt hatten, von 1990 bis 1996 um 25 Prozent zurück. In Hessen (Stand: 1996) wird dieses Fach nur von 8,1 Prozent der Oberstufenschüler gewählt, in Bayern (Stand: 1997) von wenig mehr, nämlich von 11,2 Prozent.


Angelaufen und zu kurz gesprungen

Die Kultusministerkonferenz ist nicht ganz unschuldig an solchen Entwicklungen und auch nicht daran, daß die Gesetzgebung des Bundes und der Länder den Hochschulen mittlerweile das Recht einräumt, bei der Hochschulzulassung über das Abiturzeugnis hinaus spezifische Kriterien anzulegen. Nach fast zehn Jahren quälender Diskussion um eine Stärkung des Abiturs fällte die KMK am 1. Dezember 1995 in Mainz jedenfalls eine neue „Richtungsentscheidung“ bezüglich der gymnasialen Oberstufe und des Abiturs. Aber sie bekam die auseinanderdriftenden Anforderungen beim Abitur wieder nicht in den Griff – auch nicht mit einem im Oktober 1996 in Dresden gefaßten Präzisierungsbeschluß. Die SPD-Minister wollten das vermutlich gar nicht. Somit blieb wieder nur ein sehr kleiner gemeinsamer Nenner – mit vielen Öffnungsklauseln für die Länder.

Auf den ersten Blick mochte es bestechen, was die KMK vorschrieb: nämlich erstens die Belegung der drei Fächer Deutsch, eine Fremdsprache und Mathematik bis zum Abitur und die Einbringung der in diesen insgesamt zwölf (drei Fächer mal je vier) Halbjahren erbrachten Leistungen ins Abiturzeugnis; zweitens die Verpflichtung, daß aus dem sprachlichliterarischkünstlerischen, dem mathematischnaturwissenschaftlichen und dem gesellschaftswissenschaftlichpolitischen Aufgabenfeld je eines der vier Abiturfächer zu wählen ist; drittens die Verpflichtung, daß eines der Abiturfächer Deutsch oder eine Fremdsprache ist.

Damit enden Verbindlichkeit und Vergleichbarkeit aber bereits. Denn aufgrund von Öffnungsklauseln kann alles wieder ganz anders sein:

– Vier von den zwölf genannten verbindlichen Fächerhalbjahren dürfen im Grundkursbereich, nicht aber im 3. Prüfungsfach, qua „Substitutionsregelung“ in „Kursen anderer Fächer“ abgedeckt werden. Statt Deutsch also „darstellendes Spiel“, statt Englisch bilinguale Biologie mit jeweils ein und derselben Note für beide Fächer!

– Die Fremdsprache beim Abitur darf auch eine spät beginnende, also eine erst in der Oberstufe neu einsetzende sein, wenn sie „auf Oberstufenniveau unterrichtet wird“. Statt anspruchsvollen Englischunterrichts also Touristen-Italienisch oder eine fremdsprachliche Schnellbleiche mittels Crashkurs?

– In der Fremdsprache ist die Rede vom Ziel eines „verständigen Lesens komplexer fremdsprachlicher Sachtexte“. Also keine Literatur und keine Konversationsfähigkeit?

– In der Einführungsphase, das heißt im Schuljahr vor der zweijährigen Kursphase, sollen künftig verstärkt „spezifische Lernarrangements“ zum „Ausgleich von Lerndefiziten“ angeboten werden. Die 11. Klasse also als Parkplatz für alle, deren Vorbildung defizitär ist? Und man fragt sich weiter: Wie konnten Schüler, die solches für den Ausgleich von Lerndefiziten brauchen, überhaupt in die gymnasiale Oberstufe kommen?


Abitur-Weichmacher

Weitere Weichmacher-Regelungen sind nicht ausgeschlossen. Falls der KMK-Schulausschuß unterrichtet wird, sind weitere Ausnahmen (im KMK-Jargon: Entwicklungsklauseln) möglich. Somit könnte sich die Entscheidung von Mainz eines Tages als größter Sündenfall deutscher Schulpolitik herausstellen. Denn abenteuerliche Szenarien sind nicht nur denkbar, sondern zugelassen. So ist es möglich, daß ein Abiturient mit folgender Fächerkonstellation in die Abiturprüfung schwebt: erstes Abiturfach Sport; zweites Abiturfach Biologie; drittes Abiturfach Pädagogik; viertes Abiturfach eine erst mit der Oberstufe einsetzende Fremdsprache.

Versuche einer weiteren Zersetzung des Mainzer Beschlusses kündigen sich an. Die Kultusministerin von Mecklenburg-Vorpommern, Regine Marquardt (SPD), spricht von einem „Werk der Ermöglichung“. Brandenburg wertet die Substitutionsregelung in seiner Oberstufenverordnung vom 1. August 1997 sogleich als Chance, daß „auf Wunsch einer Schülerin oder eines Schülers“ pro Schulhalbjahr bis zu vier Klausuren (in zwei Schuljahren also 16!) durch „andere Leistungsnachweise“ ersetzt werden; das sind im einzelnen etwa „Streitgespräche“, „Einbringen außerschulischer Erfahrungen“, „Gestaltung auswendig gelernter Texte“, „Partnerarbeit“, „Gruppenarbeit“ und anderes. Man sieht: „Die Länder haben sich auf eine Reform des Abiturs geeinigt: Jeder macht, was er will“ – so der Titel eines Artikels im Spiegel vom 4. Dezember 1995.

Dabei ist noch nicht einmal berücksichtigt, daß in Ländern mit weichen Abiturregelungen ja auch der Unterbau der Oberstufe häufig weich ist: was den Zugang zum Gymnasium und zu seiner Oberstufe betrifft, die Versetzungsbestimmungen und mehr. Die Third International Mathematics and Science Study (TIMSS 1997) hatte als internationale Studie das Leistungsvermögen von 13- und 14jährigen Schülern in Mathematik und Naturwissenschaften getestet; im innerdeutschen Vergleich hatte sich ergeben, daß bereits in dieser Altersgruppe ein Unterschied in den Leistungsfortschritten von eineinhalb Jahren zwischen Bayern und Nordrhein-Westfalen – und zwar zugunsten Bayerns – zu verzeichnen sei.

So ist es kein Wunder, wenn die sogenannten Abiturienten-Quoten landesspezifisch weit auseinander liegen. Die Bandbreite ist erheblich. Im Jahr 1994 etwa betrug der Anteil eines Altersjahrganges, der die Allgemeine Hochschulreife erreichte, in Bayern 17,5 und Baden-Württemberg 20,0 Prozent, aber in Hessen 27,2, in Nordrhein-Westfalen 27,8, in Brandenburg 28,0, in Berlin 32,1 und in Hamburg 32,1 Prozent.

Der bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) erhob Ende April 1996 und erneut im Herbst 1997 im Zuge der aufflammenden Föderalismus-Debatte die Forderung, daß es Abiturienten aus anderen Bundesländern künftig nur noch nach erfolgreicher Aufnahmeprüfung möglich sein soll, in Bayern zu studieren. Stoiber begründete diesen Vorstoß damit, daß die SPD-regierten Länder die Sicherung der Qualitätsstandards beim Abitur verweigerten.

Ende letzten Jahres ließ der bayerische Kultusminister Hans Zehetmair dann einen Versuchsballon steigen: Bayern wolle in der KMK ein Fünf-Fächer-Abitur durchsetzen – mit Deutsch, Mathematik und einer fortgeführten Fremdsprache als Pflichtprüfungsfächern, ergänzt durch eine Naturwissenschaft oder Geschichte sowie ein frei wählbares Fach. Anfang April unterbreitete seine badenwürttembergische Kollegin Annette Schavan (CDU), wie abgesprochen, einen ganz ähnlichen Vorschlag, wonach zu denselben drei Pflichtprüfungsfächern ein Profil- und ein Neigungsfach hinzukommen sollten; außerdem wird ein Seminarfach „Multidiziplinäres Lernen“ angeregt. Offenbar formiert sich da eine Südschiene für mehr Verbindlichkeit.


Zentralabitur statt „Aditur“

Wenn wir also die gymnasiale Oberstufe und das Abitur diskutieren, müssen wir uns auf das besinnen, was die Befähigung zum Studium eigentlich ausmacht. Dabei müssen die folgenden schulischen Fächer die Basis sein: Deutsch, zwei Fremdsprachen, Geschichte, Mathematik, zwei Naturwissenschaften. Unter den vier – besser: fünf – Abiturfächern sollten mindestens zwei Kernfächer Pflicht sein. Nur ein solcher Kanon garantiert akademische Beweglichkeit. Werner Heldmann, Erziehungswissenschaftler in Düsseldorf und Jena, hatte diesen Grundsatz mit seiner Schrift „Studierfähigkeit“ (1984) aufgrund einer umfassenden Befragung von 1300 Hochschullehrern aus 27 Fachdisziplinen eruiert und ihn in seiner jetzt neu aufgelegten Studie „Studierfähigkeit konkret“ (1998) erneut bestätigt.

Die Forderungen des ehemaligen niedersächsischen Kultusministers Rolf Wernstedt (SPD) sind also falsch. Dieser hatte im Oktober 1993 gesagt, die „Studierfähigkeit könnte mit viel weniger Grundvoraussetzung erreicht werden, als allgemein behauptet“. Eine solche Aussage geht blauäugig an den Studienanforderungen vorbei. Eine weitere Absenkung der Abituranforderungen würde nämlich die Versagerquote an den Hochschulen weiter erhöhen und die Hochschulen unter den Zwang setzen, in den Anfangssemestern zu vermitteln, was die Studenten aus der Schule nicht mitbringen.

Falsch wäre es auch, wenn die Hochschule zur Bewerberauswahl eigene Eignungs- und Eingangstests etablierte. Ein solcher Wandel vom Abitur- zum Aditur-Prinzip entwertete die schulischen Zeugnisse und würde damit das gesamte Schulsystem seines Profils berauben. Weil Hochschuleingangsprüfungen als Aditur die Kandidaten punktuell testen, sind sie weniger valide als ein Abiturzeugnis, das die Leistungsentwicklung über zwei Schuljahre hinweg dokumentiert; solche Prüfungen gefährdeten das Prinzip der Allgemeinen Hochschulreife, denn dann wären die Auswahlkriterien zwangsläufig überwiegend fachspezifische. Es muß ansonsten auch beim Hochschulzugang der Grundsatz gelten: Wer lehrt, prüft.

Um das Abitur aufzuwerten, wäre – als wirkunsgsvolle Maßnahme – ein je eigenes Zentralabitur in jedem Bundesland zu etablieren. Ein solches gibt es derzeit nur in Baden-Württemberg, Bayern, Sachsen, Thüringen und im Saarland. Man sollte es in den anderen Ländern wenigstens einmal in Mathematik und in den Naturwissenschaften versuchen. Vor allem aber ist ein Zentralabitur vonnöten, wenn man die vor allem in den SPD-regierten Ländern fortschreitende Autonomie der Schule mit ihrer weitgehenden Freigabe von schulrechtlichen Bestimmungen, unter anderem der Curricula, der Stundentafeln und der Leistungsbewertung, bedenkt.

Die Vorzüge eines Zentralabiturs liegen klar auf der Hand. Im besonderen gewährleistet es Vergleichbarkeit, Gerechtigkeit, Transparenz und Qualitätssicherung der Grundbildung. Dann fällt es eben auf, wenn ein Abitur auf Sparflamme erworben werden kann. Anders ausgedrückt: Ein Zentralabitur vermeidet ein Gefälle der Anforderungen zwischen Einzelschulen und Bundesländern, es dokumentiert quasi öffentlich das Anspruchsniveau, es ist für alle, die Schulabsolventen aufnehmen, nachvollziehbar, und es ist über die 16 Bundesländer hinweg besser vergleichbar.

Eine schulische Zentralprüfung hat ferner einen unschätzbaren pädagogischen Wert: Da weder Schüler noch Lehrer wissen, was das Thema sein wird, schweißt es beide zu einem Team zusammen. Und: Zentralabitur ist auf Breite angelegt. Von einseitiger Spezialisierung dagegen zeugt es, wenn ein angehender Abiturient aus Hamburg, das kein Zentralabitur hat, sich in einer Live-Talk-Show am Abend vor seinem Deutschabitur äußert und auf die rhetorische Frage des bayerischen Kultusministers Hans Zehetmair „Was kommt denn dran?“ verkündet: „Kafka!“ Da mag ja sein, daß er sich mit dem österreichischen Schriftsteller Franz Kafka (1883 bis 1924) gut, vielleicht sogar besser auskennt als ein Kandidat des Zentral-Abiturs. Aber: Rechts und links von Kafka, vor und nach Kafka kennt er womöglich wenig.


Empirische Fakten

Die Grundsätze der Qualitätssicherung, der Vergleichbarkeit und der Transparenz erfordern es, daß die Qualität der verschiedenen Abiturformen in Deutschland empirisch untersucht wird. Im März 1998 kamen immerhin erste Daten aus der TIMSS III, die die Oberstufe unter die Lupe nahm, an die Öffentlichkeit. Es sickerte durch, daß im Leistungskurs Mathematik Schüler aus Nordrhein-Westfalen im Test durchschnittlich 113, bayerische Schüler 126 und badenwürttembergische Schüler 133 Punkte erreichten. Man geht davon aus, daß eine Differenz von 10 Punkten etwa einem Schuljahr entspricht. (Am Rande sei vermerkt: In Baden-Württemberg ist Mathematik Pflicht-Abiturfach!) Auch das ein bezeichnendes Detail, haben am Ende doch alle ein gleichberechtigtes Abiturzeugnis!

Um Studierfähigkeit zu sichern, wäre es aber angezeigt, vor allem die Zusammenhänge zwischen schulischer Vorbildung und Studienerfolg eingehend zu untersuchen. Dann ließen sich unter anderem die folgenden Hypothesen verifizieren beziehungsweise falsifizieren: daß Studierende, die bis zum Abitur die Fächer Deutsch, Mathematik, zwei Fremdsprachen, eine Naturwissenschaft und Geschichte belegt oder gar als Prüfungsfächer hatten, erfolgreicher studieren als jene ohne diesen Kanon; daß Studierende, die die Allgemeine Hochschulreife über das Zentralabitur erworben haben, erfolgreicher studieren als jene, die kein Zentralabitur abgelegt haben; daß Studierende, die die Allgemeine Hochschulreife in einem Bundesland mit einer Abiturientenquote unter oder um 20 Prozent erworben haben, erfolgreicher studieren als jene, die die Allgemeine Hochschulreife in einem Bundesland mit einer Abiturientenquote bei oder über 30 Prozent erworben haben.


Wieviel Jahre bis zum Abitur?

In enger Nachbarschaft zur Debatte um die Qualität des Abiturs findet sich die nicht minder leidenschaftliche Auseinandersetzung um die Dauer der Schulzeit. Diesbezüglich werden von Verfechtern einer verkürzten Schulzeit immer wieder die folgenden Statistiken geltend gemacht: In Deutschland werde ein späterer Akademiker als Schüler im Schnitt mit 6,8 Jahren eingeschult. Mit 21,6 Jahren beginne er sein Studium. Dieses schließe er als Absolvent der Universität erst mit 28,8 Jahren ab. Zwischen Einschulung und Studienabschluß lägen – jeweils als Mittelwert – 13,2 Jahre Schulzeit, 7,2 Jahre Studium und 1,6 Jahre Wehrdienst, Zivildienst, Berufsausbildung oder sonstige Übergangsverzögerungen zwischen Abitur und Studienbeginn. Außerdem sei die Neigung gewachsen, dem Studium eine Berufsausbildung vorzuschalten.

Ohne diese Daten aber seriös auszuwerten und zu gewichten, wird kurzerhand eine Kappung der 13. Gymnasialklasse gefordert, und zwar von Politikern nahezu jeder Provenienz. Indes: Ein Jahr am Gymnasium einfach zu streichen löst die genannten Verzögerungen nicht auf. Daß deutsche Akademiker beim Berufseintritt etwa drei bis vier Lebensjahre älter sind – im Vergleich etwa mit Frankreich und Großbritannien –, ist in keiner Weise, auch nicht teilweise, mit der Schulzeit erklärbar, sondern liegt vor allem an nichtschulischen Faktoren. Außerdem weisen deutsche Jungakademiker eine breitere Qualifikation auf als französische oder britische.

Weitere Fakten und Argumente werden bei dieser Debatte ebenfalls ignoriert:

– Die Feststellung, die meisten EG-Länder hätten bis zum Hochschulzugang nur 12 Schuljahre, ist nur teilweise richtig. Großbritannien, Italien und Luxemburg haben ebenfalls 13 Jahre; in Frankreich braucht ein Schulabsolvent bis zum Erwerb der Hochschulreife aufgrund hoher Repetentenquoten und aufgrund der Vorbereitung auf die Hochschulzugangsprüfung in der Regel 13 oder gar 14 Schuljahre.

– Daß die neuen Länder mit dem Abitur nach 12 Jahren die gleiche Qualifikation wie die alten Länder mit 13 Jahren zustandebrächten, ist noch nicht erwiesen.

– Bislang hat noch niemand überzeugend deutlich machen können, auf welche Inhalte das Gymnasium zum Zwecke einer Verkürzung denn verzichten solle.

– Eine Verkürzung der Schulzeit am Gymnasium ist nicht vereinbar mit der allgemein konsensfähigen Forderung nach mehr fremdsprachlichem, muttersprachlichem, naturwissenschaftlichem, politischem sowie musischem Unterricht.

– Und: Eine Verkürzung der Schulzeit am Gymnasium belastet das fein abgestimmte Verhältnis der verschiedenen Schulformen, und es gefährdet beispielsweise den Bildungsgang Realschule/Fachoberschule, der nach ebenfalls 12 Schuljahren „nur“ mit der Fachhochschulreife abschließt. Damit geriete das sensible Gleichgewicht der Schulformen untereinander noch mehr ins Schwanken.

Wenig tauglich sind auch jene Überlegungen, das 13. Schuljahr bereits zur Halbzeit zu beenden beziehungsweise die erste Hälfte dieses Schuljahres nur noch für Prüfungszwecke zu nutzen. Denn die im Spätwinter entlassenen Abiturienten wären zwar ein wenig eher fertig, sie könnten aber im unmittelbar folgenden Sommersemester ab Mai kaum studieren, weil rund 80 Prozent der Studiengänge nur im Wintersemester beginnen.

Was die Ungleichheit der Dauer der Schulzeit bis zum Abitur in Deutschland betrifft, so scheint seitens der Politik die Entscheidung gefallen zu sein. Ende 1995 legte sich die Kultusministerkonferenz (KMK) fest: Unter der Voraussetzung, daß von der Jahrgangsstufe 5 bis zum Abitur aufsummiert 265 Wochenstunden unterrichtet werden, wird das Abitur mit einer gesamten Schulzeit von zwölf Jahren anerkannt.

Vor allem aber gilt es, die Qualität und damit die Zukunftsfähigkeit des Abiturs zu verbessern. Es ist fünf vor zwölf, und wir stehen in einer Reihe von Bundesländern tatsächlich vor einem Abitur light. Damit ist niemandem gedient: weder den Schülern noch den Schulen noch den Hochschulen noch dem Arbeitsmarkt. Und deshalb gibt es viel – auch viel Unbequemes – zu tun.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1998, Seite 50
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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