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Auf der Suche nach den Grenzen des Sonnensystems

Vier altbewährte Raumsonden haben den Bereich der Planetenbahnen verlassen und streben nun in verschiedenen Richtungen den Außenbezirken der Sphäre zu, welche die Sonne noch materiell beherrscht. Jenseits davon werden ihre Instrumente erstmals das interstellare Medium direkt vermessen können.

Das Leuchten der Polarlichter und die Schweife heller Kometen sind sichtbare Belege dafür, daß der Raum im inneren Sonnensystem keineswegs leer ist; er wird vielmehr von einem schnellen Strom geladener Partikel durchdrungen, der von unserem Zentralgestirn ausgeht. Dieser unablässig wehende Sonnenwind, der oft böig auffrischt, reicht noch weit hinaus über die Umlaufbahn der Erde und die Zone, in der Kometen einen Schweif ausprägen. Die wegströmenden Teilchen und das solare Magnetfeld, das sie mit sich tragen, erzeugen im interstellaren Medium eine riesige tropfenförmige Blase. Diese Heliosphäre hüllt das gesamte Planetensystem ein und markiert den Einflußbereich der Sonne.

Man könnte vermuten, daß der Strom aus Elektronen, Protonen, Heliumkernen und schwereren Ionen mit zunehmender Entfernung von seiner Quelle nach und nach abflaut und sich schließlich mit dem interstellaren Medium aus Gas und Staub vermischt, die Heliosphäre also kontinuierlich in den interstellaren Raum übergeht. Das Gegenteil trifft zu: Der Übergang erfolgt abrupt, und an der Diskontinuität – der sogenannten Heliopause – treten vermutlich viele faszinierende physikalische Phänomene auf.

Bis jetzt vermochten die Astrophysiker diese Zone nicht direkt zu erforschen, so daß sie vorerst auf Indizien, Modellrechnungen und Vermutungen über ihren genauen Aufbau angewiesen sind. Wir wissen noch nicht einmal mit Gewißheit, in welcher Entfernung von der Sonne sich diese Grenze bildet. In wenigen Jahren jedoch werden wir dazu vielleicht einen reichen Fundus von Meßdaten haben – dann nämlich, wenn vier künstliche Kundschafter diese erste Barriere zum interstellaren Raum durchstoßen.

Jenseits von Neptun und Pluto befinden sich Raumfahrzeuge auf Bahnen, die sie über die Grenzen des Sonnensystems hinausführen. Diese bescheidene wissenschaftliche Armada besteht aus Pioneer 10 und 11 sowie Voyager 1 und 2, die alle vor etwa zwanzig Jahren gestartet wurden (Kasten auf Seite 53). Wenn wir von der gegenwärtigen Position einer dieser Sonden zurückblicken könnten, erschiene uns die Sonne zwar noch immer als das hellste Objekt am Himmel, die empfangene Lichtmenge betrüge aber im Vergleich zu der, die ein irdischer Beobachter wahrnimmt, weniger als ein Tausendstel.

Trotz dieser großen Entfernung befinden sich die vier Raumfahrzeuge noch tief innerhalb der Heliosphäre (Bild 1). Die Bordinstrumente registrieren weiterhin Erscheinungen, die von der Oberfläche der Sonne ausgehen und sich mit enormer Geschwindigkeit von etwa 400 Kilometern pro Sekunde allseits ausbreiten; dennoch benötigen sie mehrere Monate, bis sie die Sonden erreichen.

Die ursprüngliche Mission der Pioneer- und Voyager-Sonden – die Untersuchung der Riesenplaneten Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun bei nahen Vorbeiflügen – wurde eine der erfolgreichsten Pionierleistungen der Weltraumforschung. Aber weil diese vielseitigen Raumfahrzeuge weiterhin betriebsbereit sind, kommt ihnen bei dem zunehmenden Interesse an dem komplexen und dynamischen Verhalten des fernen Sonnenwinds eine wichtige zweite Aufgabe zu: die äußersten Bereiche der Heliosphäre und ihre Wechselwirkung mit dem interstellaren Medium zu erkunden. Ob diese neue Mission erfolgreich verläuft hängt freilich nicht nur vom technischen Zustand der Systeme und der Fähigkeit der Bedienungsmannschaft auf der Erde ab, sondern auch vom Aufbau der Heliosphäre selbst.


Der Sonnenwind

Eugene N. Parker von der Universität Chicago (Illinois) hatte vor drei Jahrzehnten in einer Reihe bahnbrechender theoretischer Arbeiten die allgemeine Struktur des Sonnenwinds und der Heliosphäre als erster skizziert. Nachfolgende Messungen mit Raumsonden bestätigten seine Vorhersagen, zumindest bis zur Position von Pioneer 10, die bisher am weitesten in den Weltraum vorgedrungen ist.

Wir wissen inzwischen, daß der Sonnenwind Plasmaströme verschiedener Geschwindigkeit und unterschiedlicher Ursache umfaßt. (Ein Plasma ist ein ionisiertes Gas aus gleich viel freien Elektronen und positiv geladenen Atomen; im Falle der Sonne sind dies Wasserstoffkerne, also Protonen). Beim Abströmen in radialer Richtung führt er gewissermaßen einen Abdruck der solaren Atmosphäre mit sich: Von bestimmten Bereichen der Sonne – etwa relativ kühlen Gebieten in der Korona, die ein offenes Magnetfeld aufweisen, entlang dessen das Plasma leicht entweichen kann – gehen gewaltige Partikelströme aus, die sich wesentlich schneller ausbreiten als gewöhnlich. Würde die Sonne nicht rotieren, bildeten diese Ströme einfach gerade radiale Strahlen; weil sie sich aber in 27 Tagen einmal um ihre Achse dreht, entsteht ein Effekt ähnlich wie bei einem rotierenden Rasensprenger – die einzelnen Sonnenwindteilchen strömen zwar radial von der Sonne weg, die Strahlen sind jedoch in einer Spirale gewunden. Bis zu einer bestimmten Entfernung zwingt dabei das starke, ebenfalls spiralförmige Magnetfeld die Teilchen zur Korotation, so als wären sie starr mit der Sonne verbunden.

In Sonnennähe, wo die Spiralbahnen noch wenig gekrümmt sind, suchen die Partikel aus den schnellen Strömen einfach diejenigen aus den langsameren zu überholen. Weiter außen jedoch laufen die Plasmaströme unterschiedlicher Geschwindigkeit aufeinander auf, wodurch korotierende Stoßwellen entstehen. Infolge davon heizt sich der Wind auf, und es werden energiereiche Teilchen erzeugt.

Zusätzlich können durch verschiedene Ereignisse in der Sonnenatmosphäre stoß- oder böartige Plasmaströme entstehen, die sich dann als kurzzeitige Störungen mit dem Wind ausbreiten. Gelegentlich erzeugen gewaltige Eruptionen auf der Sonne ebenfalls Stoßwellen, die den ansonsten eher ruhigen Teilchenstrom des Sonnenwindes unstet machen.

Korotierende Wechselwirkungszonen und Stoßwellen sind bis in eine Entfernung von mehr als zehn Astronomischen Einheiten häufig im Sonnenwind nachzuweisen (eine Astronomische Einheit, abgekürzt AE, ist der Radius der Erdumlaufbahn und beträgt etwa 150 Millionen Kilometer). Noch weiter außen vereinigen sich diese Zonen und erfüllen den Raum bis in die Außenbereiche der Heliosphäre.


Das interplanetare Magnetfeld

In die Strömungsstruktur der Heliosphäre ist ein komplexes interplanetares Magnetfeld eingebettet, das mit dem Sonnenwind auf komplizierte Weise wechselwirkt. Einige der damit verbundenen Vorgänge lassen sich jedoch leicht veranschaulichen, wenn man das Feld mit magnetischen Kraftlinien beschreibt und die Eigenschaften betrachtet, die diese Feldlinien dem Sonnenwind aufprägen.

Nach irdischen Maßstäben scheint das Plasma, das den Sonnenwind bildet, nahezu substanz- und gestaltlos zu sein. Weil es jedoch gut elektrisch leitet und die kinetische Energie der Strömung um einiges größer ist als die Energie des Magnetfelds, darf man die Feldlinien in der Heliosphäre so behandeln, als bewegten sie sich mit dem Sonnenwind mit. Der magnetische Fluß ist also gleichsam im dünnen Plasma eingefroren und verleiht ihm damit zusätzlichen Druck und höhere Viskosität. (Diese Eigenschaften folgen aus magnetischen Kräften und nicht etwa aus molekularen Wechselwirkungen, wie man sie beispielsweise von dichten Gasen und Flüssigkeiten her kennt.)

Der Sonnenwind zieht somit das Magnetfeld zu einem riesigen spiralförmigen Wirbel auseinander. Dieses Gewirr magnetischer Feldlinien, das die Heliosphäre erfüllt, blieb bis vor kurzem weitgehend unerforscht.

Anfängliche Beobachtungen ließen vermuten, daß die Magnetfeldlinien je nach der heliographischen Länge abwechselnd nach innen und nach außen gerichtet seien. Die erste Gelegenheit, das Feld bei relativ hohen heliographischen Breiten zu vermessen, ergab sich 1974, nachdem Pioneer 11 durch den nahen Vorbeiflug an Jupiter aus dessen hoher Anziehungskraft zusätzlichen Impuls gewonnen hatte und so umgelenkt worden war, daß sie die Ebene der Erdbahn – die Ekliptik – zu verlassen vermochte. Als diese Sonde und auch Voyager 1 bei 16 Grad nördlicher heliographischer Breite angelangt waren, stellte sich zur allgemeinen Überraschung heraus, daß hier das magnetische Feld fast überall auswärts gerichtet ist (ein Weltraumphysiker bei der Aerospace Corporation, Michael Schulz, hatte dies jedoch vorhergesagt). Edward J. Smith vom Jet Propulsion Laboratory in Pasadena (Kalifornien) folgerte daraus, daß die beobachteten Magnetfelder in den Sonnenwind eingebettet seien und daß bei nördlichen Breiten dieses Feld ausschließlich von der Sonne weggerichtet sei.

Die Pioneer- und Voyager-Missionen zeigten 1976, daß die Magnetfeldlinien in der nördlichen Hemisphäre tatsächlich überall von der Sonne nach außen wiesen; diejenigen in der südlichen hingegen waren nach innen gerichtet. Da aber die Polarität des solaren Feldes sich alle 11 Jahre umkehrt, ein magnetischer Zyklus also 22 Jahre dauert, konnten die Sonden Pioneer 11 und Voyager 1 im Jahre 1986 feststellen, daß das nördliche Feld seine Richtung gewechselt hatte und nun nach innen verlief.

Die Zone in der Heliosphäre, in der die ein- und auswärts gerichteten Magnetfelder ineinander übergehen, ist sehr dünn und gekrümmt; sie hat etwa die Form einer mehrfach gefalteten Fläche und umgibt die Sonne wie ein schwingender Ballerina-Rock (Bild 2). Mit dem Sonnenwind wird sie nach außen transportiert und bildet im interplanetaren Raum eine dünne Stromschicht. Durch die Rotation der Sonne wird diese Zone verdreht, so daß sich die Falten entlang der spiralförmigen Magnetfeldlinien ausrichten und ebenfalls mit der Sonne rotieren. Instrumentensonden in der Nähe der Äquatorebene der Sonne messen Magnetfelder, die abwechselnd nach innen und außen gerichtet sind, je nachdem, welcher Bereich gerade über sie hinwegstreicht. Während der Zeiten weniger Sonnenflecken und geringer solarer Aktivität, die sich alle 11 Jahre wiederholen, ist die Faltung der dünnen Zone am geringsten, wohingegen während der Sonnenfleckenmaxima ihre Form so verworren ist, daß sich ihr Aufbau aus engen Faltenwürfen praktisch nicht mehr erkennen läßt.

Unabhängig von der Form gilt jedoch, daß ein von der Sonnenoberfläche jeweils geradeausgehender Bereich des Magnetfelds durch den Sonnenwind in etwa einem Jahr bis zu den fernen Grenzen der Heliosphäre transportiert wird. Während dieser Zeit vereinigen sich weiterhin schnelle Plasmaströme mit langsameren und erzeugen so Gebiete mit erhöhter Plasmadichte und Magnetfeldstärke. Bis in eine große, aber bislang noch unbekannte Distanz bleibt diese großräumige Struktur des Sonnenwinds und des Magnetfelds grundsätzlich erhalten.

Die umgebende Stoßfront

Durch die fortwährende Expansion nimmt die Teilchendichte im Sonnenwind stetig ab, bis schließlich der Druck des Plasmas so gering geworden ist, daß er demjenigen des lokalen interstellaren Mediums das Gleichgewicht hält und es nicht weiter verdrängen kann. Weil aber die Ausbreitungsgeschwindigkeit des Teilchenstromes größer ist als die Schallgeschwindigkeit in ihm, flaut der Wind hier jedoch nicht allmählich ab, sondern staut sich plötzlich sehr heftig an einer Stoßfront.

Dies folgt aus dem grundlegenden Verhalten von Überschallströmungen, wie man sie von Gasen und Flüssigkeiten her kennt. Müßte sich ein Teilchenfluß nach und nach verlangsamen, sucht sozusagen die Materie am Unterlauf der Strömung derjenigen am Oberlauf zu signalisieren, daß sie abbremsen soll. Diese Signale werden durch Schallwellen transportiert, die durch das Medium laufen. Strömt dieses aber schneller als der Schall, können sich Wellen nicht entgegen der Strömungsrichtung ausbreiten. Dann prallt die schnelle Materie des Oberlaufs in die davor befindliche langsame, die als Hindernis wirkt, und baut eine Stoßwelle auf. Etwas Ähnliches läßt sich beobachten, wenn ein Wasserstrahl auf ein Hindernis trifft (Bild 3). Auch Auffahrunfälle auf der Autobahn haben die gleiche Ursache: Nimmt der Fahrer eines schnellen Wagens nicht wahr, daß die vor ihm befindlichen Fahrzeuge viel langsamer fahren oder gar schon stehen, prallt er unweigerlich auf sie auf.

Wie Stoßfronten in irdischen Situationen dürfte auch jene an der Grenze des Sonnenwinds – der Heliopause – unregelmäßig und turbulent sein. Während die Plasmateilchen die Stoßfront durchqueren, sollte sich ihre Geschwindigkeit um etwa drei Viertel verringern. Dabei wird ein Teil der kinetischen Energie in Wärme umgewandelt, wodurch sich die Temperatur des interstellaren Gases auf mehr als eine Million Grad Celsius erhöht. Ein anderer Teil wird dadurch verbraucht, daß der Stau das Magnetfeld komprimiert. Wir vermuten, daß dessen Stärke innerhalb der Stoßfront sprungartig auf das Vierfache des vorherigen Wertes steigt.

Die Heliopause dürfte im wesentlichen kugelförmig sein und einen leeseitigen Schweif haben. Ihr genauer Aufbau ist jedoch noch nicht enträtselt.


Hinweise aus der kosmischen Strahlung

Bevor Raumsonden direkte Messungen ermöglichten, waren Astrophysiker hauptsächlich auf die kosmische Partikelstrahlung angewiesen, wenn sie etwas über den Aufbau der äußeren Heliosphäre erfahren wollten. Die galaktische Komponente dieser Strahlung besteht überwiegend aus subatomaren Teilchen (Elektronen, Protonen und einigen wenigen Antiprotonen), aber auch aus Kernen schwerer Elemente vom Helium bis zum Uran, die sich fast mit Lichtgeschwindigkeit bewegen.

Daß solche Strahlung wohl im gesamten Kosmos vorkommt, läßt sich aus der hochenergetischen elektromagnetischen Strahlung schließen, die von solchen schnellen Partikeln hervorgerufen wird. Innerhalb unserer Galaxis entstehen derartige Ströme und Schauer von Partikeln vornehmlich in den Stoßwellen von Supernova-Explosionen, welche die Teilchen extrem beschleunigen. Des weiteren erzeugt auch die Sonne in Phasen erhöhter Aktivität gelegentlich größere Mengen vergleichbarer Teilchen, die allerdings geringere Energie aufweisen.

Die Heliosphäre wird unablässig von der galaktischen Komponente der kosmischen Strahlung durchdrungen. Wegen ihrer extrem hohen Energie und aufgrund von Unregelmäßigkeiten im Magnetfeld können diese Partikel gegen den Strom des solaren Plasmas quasi in die Heliosphäre diffundieren. Weil sie aber elektrisch geladen sind, kreisen sie auf engen Spiralbahnen um die Magnetfeldlinien und tendieren ebenfalls dazu, mit dem eingefrorenen magnetischen Fluß wieder aus der Heliosphäre hinauszuströmen. Mithin hindert der Sonnenwind einen Teil der kosmischen Strahlung, in die innere Heliosphäre einzudringen und die Erde zu erreichen.

Dieser Schutzschild ist bei geringen Teilchenenergien am wirksamsten, während die Bewegung der hochenergetischen kosmischen Strahlung fast nicht beeinflußt wird. Da der Anteil der abgewiesenen Teilchen mit der solaren Aktivität schwankt, folgt auch die Intensität der kosmischen Strahlung einem elfjährigen Zyklus, wobei sie während des Minimums der Sonnenaktivität am höchsten ist.

Weil die galaktische kosmische Strahlung die äußere Heliosphäre durchquert, kann sie Aufschlüsse über diese unerforschte Region liefern. Ein Großteil unseres Wissens über die Außengebiete des Sonnensystems entstammt denn auch dem Vergleich von Beobachtungen mit Modellen, welche die Ausbreitung der kosmischen Strahlung in der Heliosphäre beschreiben. So zeigten Daten aller vier nun erdfern schwebenden Raumsonden, daß der Gradient der kosmischen Strahlung – der angibt, wie ihre Intensität mit der Distanz von der Sonne zunimmt – viel geringer ist als erwartet. Dieser Befund weist darauf hin, daß die Heliosphäre größer ist, als man vor dem Start der Pioneer- und Voyager-Sonden vermutet hatte.


Anomale kosmische Strahlung

Als sich zu Beginn der siebziger Jahre die Pioneer-Sonden noch im Anflug auf Jupiter befanden, entdeckten die Detektoren verschiedener anderer Raumfahrzeuge eine unerwartete niederenergetische Komponente der kosmischen Strahlung. Die nachfolgenden Untersuchungen zeigten, daß darin die Kerne von Helium, Stickstoff, Sauerstoff, Neon und Argon sowie – wie man seit kurzem weiß – auch von Wasserstoff häufiger auftreten als gemeinhin bei höheren Energien. Die Pioneer- und Voyager-Sonden meldeten dann, daß die Intensität dieser anomalen kosmischen Strahlung – so genannt wegen der besonderen Zusammensetzung und des Energiespektrums – mit der Entfernung von der Sonne zunimmt.

Wie werden diese niederenergetischen kosmischen Teilchen erzeugt? Forschungsarbeiten der letzten beiden Jahrzehnte haben eine recht überzeugende Vorstellung davon vermittelt, auch wenn deren Gültigkeit noch nicht bis ins Detail schlüssig bewiesen ist.

Lennard A. Fisk, Benzion Kozlovsky und Reuven Ramaty, die damals am Goddard-Raumfahrtzentrum der NASA in Greenbelt (Maryland) tätig waren, schlugen 1974 als Erklärung vor, daß die anomale Komponente im interstellaren Raum aus neutralen Atomen entstehe: Während sich das Sonnensystem durch das interstellare Gas bewegt, können – wie Hans Jörg Fahr und Peter W. Blum von der Universität Bonn bereits gezeigt hatten – Atome mit vollständiger Elektronenhülle, die durch die Magnetfelder oder andere Kräfte des Plasmas nicht beeinflußt werden, ungehindert in die innere Heliosphäre strömen (Spektrum der Wissenschaft, November 1986, Seite 100). Kommen sie in die Nähe der Sonne, werden sie jedoch von ihrer Strahlung oder ihrem Wind ionisiert. Weil sie nunmehr durch den Verlust von Elektronen eine positive Ladung aufweisen, werden sie wie andere Ionen auch von den Magnetfeldlinien im Sonnenwind gleichsam eingefangen und nach außen transportiert. Fisk und seine Kollegen vermuteten nun, daß ein nachfolgender Prozeß diese Teilchen auf höhere Energien beschleunigt und sie so in die anomale Komponente der kosmischen Strahlung verwandelt (Bild 4 rechts).

Diese Annahme beruhte ursprünglich auf dem Umstand, daß der größte Teil des Kohlenstoffs im interstellaren Medium an diesem Prozeß nicht teilnehmen kann, weil dieses Element bereits im interstellaren Raum fast vollständig ionisiert ist (dies erklärt seine geringe Häufigkeit in der anomalen Komponente). Beobachtungen zufolge, die kürzlich von mehreren Weltraummissionen in Erdnähe durchgeführt wurden, ist der anomale Sauerstoff (wie vermutlich auch die anderen Bestandteile dieser Komponente) einfach geladen. Dieser Befund stützt das Modell von Fisk und seinen Kollegen: Nur diejenigen Partikel der kosmischen Strahlung, die aus einer nahegelegenen Quelle innerhalb der Heliosphäre stammen, können Teile ihrer Hülle behalten, während alle anderen auf ihrer Reise durch das Milchstraßensystem ihre gesamten Elektronen verlieren.

Aber wie kommen diese neu entstandenen Ionen auf die beobachteten Energien? Während der siebziger Jahre wurde eine Reihe von Mechanismen vorgeschlagen; doch kein Modell sagte das von den Pioneer- und Voyager-Sonden registrierte stetige Anwachsen der Intensität der anomalen kosmischen Strahlung mit zunehmender Entfernung von der Sonne vorher. Schließlich vermutete 1981 einer von uns (Jokipii) zusammen mit Mark E. Pesses und David Eichler, die damals an der Universität von Maryland in College Park forschten, daß die einfach geladenen Ionen in der umgebenden Stoßfront beschleunigt würden: Stoßwellen in einem Plasma können eine derartige Beschleunigung hervorrufen, und die Grenze der Heliosphäre – wo sich die stärkste und dauerhafteste Stoßfront in der gesamten Sonnenumgebung befindet – schien ein plausibler Ort dafür zu sein. Detaillierte Computersimulationen haben seitdem gezeigt, daß die meisten beobachteten Eigenschaften der anomalen kosmischen Strahlung zwanglos aus dieser Annahme folgen.


Beobachtungen der Stoßfront

Wichtige Hinweise auf den Aufbau der Stoßfront haben Donald A. Gurnett und William S. Kurth von der Universität von Iowa in Iowa City gesammelt. Seit 1983 registrieren sie mit den Empfängern an Bord der beiden Voyager-Sonden Radiowellenausbrüche bei niedrigen Frequenzen (zwischen zwei und drei Kilohertz). Die Phasen erhöhter Intensität dauern viele Monate an, und die Bandbreite verschiebt sich dann zu höheren Frequenzen.

Im Juli 1992 beobachteten die Forscher den Beginn eines besonders starken Ereignisses dieser Art und stellten fest, daß es mehr als 400 Tage nach einer Phase ungewöhnlich starker Sonnenaktivität einsetzte. Die Sequenz folgte dabei demselben Muster wie bei einem anderen starken Ausbruch im Jahre 1983. Solche auffälligen Radiosignale stammen vermutlich aus dem Gebiet, das sich unmittelbar an die Stoßfront anschließt, und liefern somit – zusammen mit der anomalen kosmischen Strahlung – wichtige Informationen über die weitgehend unerforschte Grenze des Sonnensystems.

Während sich die Pioneer- und Voyager-Sonden immer weiter von der Erde entfernen, steigt die Wahrscheinlichkeit, daß sie bald die Heliopause erreichen werden. Nach Schätzungen, die auf dem damaligen Kenntnisstand über das interstellare Medium beruhten, sollte sich diese Grenzschicht in einer Entfernung von 75 bis 150 Astronomischen Einheiten von der Sonne befinden; doch die bisher von den Bordinstrumenten gesammelten Daten weisen auf erheblich kleinere Werte hin. Somit ist nicht ausgeschlossen, daß einer oder mehrere der Flugkörper innerhalb der nächsten zehn Jahre bis zum Grenzbereich des Sonnensystems gelangen.

Wissenschaftler der NASA sorgten darum dafür, daß während der Durchquerung der Heliopause die geeigneten Messungen vorgenommen werden können. Sie hoffen sogar, diese Passage mehrmals registrieren zu können, weil sich die Lage der Stoßfront infolge von Böen und Turbulenzen im Sonnenwind wiederholt nach innen und außen verschieben dürfte. Jenseits dieser dünnen Zone wird der Wind abflauen; dann könnte erstmals in der Geschichte der Menschheit ein Instrumentensystem direkt die Zusammensetzung und die Eigenschaften des interstellaren Mediums erforschen.

Im 21. Jahrhundert werden die vier Raumsonden ihre Reise zu fremden Sternen weiter fortsetzen. Wie lange sie dabei noch Daten zu senden vermögen, ist ungewiß. Pioneer 10 sollte bis zum Jahre 2000 funktionstüchtig bleiben (die Sonde befindet sich dann in einer Entfernung von 70 Astronomischen Einheiten), und Voyager 2 hat sogar genügend Energievorrat, um mindestens bis 2015 zu funktionieren (dann ist sie etwa 130 Astronomische Einheiten entfernt). Aber selbst wenn die Steuerungs- und Kommunikationsmöglichkeiten schließlich verlorengehen, wird diese erste von Menschen ausgesandte interstellare Flaschenpost für alle Zeit ihrem vorbestimmten Kurs durch unsere Galaxis folgen.

Literaturhinweise


– Physics of the Outer Heliosphere. Herausgegeben von S. Grzedzielski und D. E. Page. COSPAR Colloquia Series, Band 1. Pergamon Press, 1990.

– Solar Wind Seven. Herausgegeben von Eckart Marsch und Rainer Schwenn. COSPAR Colloquia Series, Band 3, Pergamon Press, 1992.

– The Heliopause. Von Steven T. Suess in: Reviews of Geophysics, Band 28, Heft 1, Seiten 97 bis 115, Februar 1990.

– Exploring the Sun. Von Karl Hufbauer. Johns Hopkins University Press, 1991.

– Forschung an den Grenzen des Sonnensystems. Von Hans Jörg Fahr in: Sterne und Weltraum, Januar 1992, Seiten 24 bis 28.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1995, Seite 50
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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