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Zoologie: Die Welt der lebenden Fossilien

Eine Reise in die Urzeit
Theiss, Stuttgart 2001. 192 Seiten, € 33,-


Dieses Buch erzählt uns die faszinierendsten Details über die Tierwelt – zum Beispiel – Australiens. Haben Sie gewusst, dass Schnabeltiere Elektrosensoren im Schnabel tragen? Mit ihnen nehmen die Tiere noch Spannungsunterschiede von 1/50000 Volt wahr und orten damit im Schlick verborgene Kleinkrebse, Schnecken und Würmer an ihren Muskelpotenzialen – der bisher einzige bekannte Fall von Elektroortung oberhalb der Klasse der Amphibien.

Die Mutter bebrütet die Eier in einer mit Blättern ausgekleideten Erdhöhle; nach zehn Tagen etwa schlüpfen die Jungen, die noch einen Eizahn tragen. Sie saugen die Milch nicht von Zitzen, sondern lecken sie von zwei Milchfeldern – gesteuert aber wird die Milchproduktion vom Oxytocin wie bei höheren Säugern.

Wir erfahren von den ausgestorbenen Riesenfleischfressern, etwa den bis zu 60 Kilogramm schweren Riesen-Rattenkängurus. Heute umfassen die Raubbeutler alle Größenklassen zwischen Spitzmaus und dem dachsgroßen, jedoch hyänenartig lebenden Beutelteufel, der heute nur noch auf Tasmanien lebt. Sie haben alle Landlebensräume von den Wüsten bis zu den Regenwäldern besiedelt, ebenso wie die Kängurus, unter denen es sogar reine Baumbewohner gibt.

Der Niedergang der Beuteltierfauna in Australien ist nicht auf deren stammesgeschichtliche oder physiologische Unterlegenheit zurückzuführen, sondern auf die durch Kontinentalverschiebung bedingte Austrocknung des Kontinents seit 100000 bis 50000 Jahren, und in jüngster Zeit auf die schnelle Lebensraumzerstörung durch die Europäer. Die Evolution hat in Australien durchaus konkurrenzfähige Innovationen hervorgebracht: eine hohe genetische Änderungsgeschwindigkeit, etwa bei Fuchskusus nachgewiesen, die Muskeln der Kängurus als elastischer, Energie speichernder Sprungfederapparat und die Fähigkeit des Koalas zur Entgiftung hochtoxischer Pflanzenstoffe im Eukalyptus. Am deutlichsten aber zeigt ein amerikanisches Beuteltier, das Nordopossum, dass man als Beutler sehr wohl unter Plazentatieren erfolgreich sein kann. Erst vor 100000 Jahren aus dem mittelamerikanischen Opossum entstanden, breitet es sich beständig immer weiter aus, ist in Südkanada selbst bei 7 Grad unter null noch aktiv und bewohnt Lebensräume von 0 bis 2800 Meter Höhe über dem Meer einschließlich der Großstädte und Vorstadtsiedlungen.

So viel und noch mehr steht in einem einzigen dreißigseitigen Kapitel, das damit die Höhen und Tiefen des Buches besonders verdeutlicht. Der Zoologe und Lehrbuchautor Walter Kleesattel lässt sich von seiner Begeisterung zu einem wilden Parforceritt hinreißen, zu dem keine Überschrift mehr passt.

Das Kapitel über Küsten/Flüsse und Sümpfe beginnt mit den Mangroven, bewegt sich zum Pfeilschwanzkrebs der flachen Meeresküsten, von dort zur Evolutionsgeschichte der Spinnentiere, zu Seekühen, Flussdelfinen, japanischen Riesensalamandern, zu stammesgeschichtlich alten Amphibien, von dort zur Stammesgeschichte der Knochenfische, einer (sehr guten und grafisch illustrierten) Darstellung der Evolution von Lunge und Schwimmblase, dann zu heute lebenden altertümlichen Knochenfischen und von dort zu Flusspferden, Zwergflusspferden, der kurzen Erwähnung fossiler Flusspferde in Europa, schließlich zu den Krokodilen, mit spezieller Betonung auf echtem und falschem Gavial. Nun ist das alles hochspannend, und wenn man in einer Zoo- oder Museumsführung eine solche Fülle von Information erzählen könnte, wäre einem der Erfolg sicher. Aber nur ein kleiner Teil der angeführten Tiere passt selbst in eine weitläufige Definition des Konzeptes "lebende Fossilen", die der Autor in einer Einleitung gibt: Arten, die stammesgeschichtlich schon sehr alt, seit langem unverändert und als letzte Vertreter einer ganzen großen systematischen Gruppe übrig geblieben sind. In manchen Fällen gibt Kleesattel dies auch zu.

Vollends verwässert wird das Konzept dann mit dem letzten Kapitel "Die Letzten ihrer Art", das am Beispiel von Wisent, Bison und Ur-Wildpferd erfolgreiche Artenschutzprojekte vorstellt, dann über einige derzeitige Erhaltungszuchtprogramme zu einer (sehr verknappten) Besprechung der Problematik von Wiederansiedelungen/Wiederausbürgerungen und anschließend über die Genomanalysen des Mammuts zu den eventuellen Möglichkeiten der Gentechnik im Artenschutz führt.

Wohlgemerkt: Das Buch ist eine überaus reichhaltige Fundgrube für alle Interessierten und eine Quelle möglicher Begeisterungsfunken für die noch nicht Faszinierten. Neben den sehr gut lesbaren Texten sind Farbfotos, Verbreitungskarten und Schema-Abbildungen geeignet, das Geschriebene zu veranschaulichen. Einige kleine Detailmängel fallen bei der Materialfülle nicht ins Gewicht. Im Literaturverzeichnis sind die Arbeiten der 1990er Jahre, von etlichen "Spektrum"-Artikeln abgesehen, nur sehr dürftig vertreten.

Ein lesenswertes, gut illustriertes Buch – aber ein anderer Titel hätte ihm besser gestanden.

Aus: Spektrum der Wissenschaft 10 / 2002, Seite 106
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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