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Michelsons Vision – Meisterleistungen in Messgenauigkeit

Als einzige Basisgröße im internationalen Einheitensystem beruht die Masse noch nicht auf einer Naturkonstanten, sondern auf einem von Menschenhand geschaffenen Objekt: dem Urkilogramm in Paris. Neue hochpräzise "Wägungen" von Atomen könnten dies bald ändern.

Kurz vor Ende des 19. Jahrhunderts prophezeite kein Geringerer als Albert Abraham Michelson (1852–1931), durch seine Widerlegung der Äthertheorie zu Berühmtheit gelangter amerikanischer Physiker, seiner Zunft eine wenig aufregende Zukunft. Alles Wichtige sei bereits entdeckt, großartige Erkenntnisse prinzipieller Natur stünden nicht mehr zu erwarten.

Die Hauptaufgabe der Wissenschaftler bestehe nunmehr darin, die vorhandenen Theorien durch hochgenaue Messungen experimentell zu bestätigen. "Die künftigen Erkenntnisse der Physik sind in der sechsten Nachkommastelle zu suchen", verkündete Michelson apodiktisch und degradierte damit sich und seine Kollegen zu bloßen Buchhaltern der Messdaten.

Doch selten hat sich ein Prophet so getäuscht. Nur wenige Jahre später erschütterten Relativitätstheorie und Quantenmechanik die Physik in ihrem Fundament, und binnen kürzester Zeit wurde das Weltbild der Naturwissenschaften gehörig umgekrempelt. So ging denn der Ausspruch Michelsons als amüsante Fehleinschätzung in die Annalen der Physik ein.

Doch trotz aller Bedeutung abstrakter Konzepte wie der aktuellen Stringtheorie kann die Physik auch heute auf exakte Messungen nicht verzichten. Ganz im Gegenteil: Immer raffiniertere Rechenmethoden und kompliziertere Theorien erfordern Messgenauigkeiten, die selbst der Pedant Michelson nicht für möglich gehalten hätte. Über die sechste Nachkommastelle sind die Physiker längst hinaus. Inzwischen drücken sie ihre Messfehler in Milliardsteln (parts per billion, ppb) oder sogar Billionsteln (parts per trillion, ppt) der zu messenden Größe aus – was der neunten oder zwölften Stelle hinter dem Komma entspricht. Und nicht immer erfordern solche hochpräzisen Messungen hohen apparativen Aufwand; manchmal gelingen sie mit ziemlich einfachen Mitteln.

Atome in der Falle

Ein schönes Beispiel dafür lieferten kürzlich zwei Gruppen vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge (USA) und von der Universität Stockholm (Schweden). Sie benutzten eine so genannte Penning-Falle, um Atome mit nie da gewesener Genauigkeit zu "wiegen" und so möglicherweise ein Gewichtsnormal zu kreieren, das auf der atomaren Masse eines natürlich vorkommenden Elements statt auf dem Urkilogramm beruht.

In einer solchen Falle werden geladene Teilchen von einer Kombination aus elektrischem und magnetischem Feld auf einer Kreisbahn gehalten (Bild auf Seite 16). Zudem schwingen sie auf dieser Bahn mit einer Frequenz, die in einfacher Weise von ihrer Masse abhängt – je schwerer die Teilchen, desto geringer die Frequenz. Diese Schwingungen wiederum lassen sich mit Hilfe eines Resonanzkreises, der an die elektrischen Feldelektroden der Falle angeschlossen ist, genau messen. Wie bei einem Radioempfänger wird die Resonanzfrequenz variiert, bis sie mit der Oszillationsfrequenz des gefangenen Teilchens übereinstimmt.

Zählt man nun die Zahl der Schwingungszyklen für eine ausreichend lange Zeit, so kann man diese Frequenz und damit die Masse des Teilchens äußerst genau bestimmen. Allerdings hängt sie auch vom Magnetfeld ab, dessen Stärke nicht so leicht mit derselben Genauigkeit zu messen ist. Deshalb wenden die Forscher einen Trick an: Statt die Masse nur einer Atomart zu messen, bestimmen sie zusätzlich die eines Kontrollatoms – beispielsweise Kohlenstoff. Da das Magnetfeld dessen Schwingungsfrequenz in der gleichen Weise beeinflusst wie die des eigentlich interessierenden Atoms, fällt es aus den Gleichungen heraus – übrig bleibt das Verhältnis der Masse des zu messenden Atoms zum Kohlenstoffatom.

Auf diese Weise gelang es den Physikern am MIT, die Massenverhältnisse einiger Alkali-Atome (zu denen zum Beispiel das Natrium gehört) zum Kohlenstoff auf weniger als ein Milliardstel (ppb) genau zu bestimmen. Umgerechnet entspräche das einer Vermessung der Entfernung Erde-Mond (rund 385000 Kilometer) mit einer Genauigkeit von einigen Zentimetern!

Natürlich ist die Wahl von Kohlenstoff (oder einer seiner Verbindungen) kein Zufall, bildet er doch die Basis der atomaren Masseneinheit: Sie entspricht einem Zwölftel der Masse des Isotops Kohlenstoff-12. Allerdings ist die Nützlichkeit dieser Einheit bislang noch begrenzt, da im internationalen Einheitensystem (S.I.) noch immer das Urkilogramm in Paris als Massenreferenz gilt. Genauere Messungen von atomaren Massen, so hoffen die Forscher vom MIT, könnten zu einem allgemein verbindlichen Massenstandard führen und so das Urkilogramm ablösen helfen. Damit wäre der letzte von Menschenhand geschaffene Baustein des Einheitensystems beseitigt.

Eine alte Konstante auf dem Prüfstand

Den MIT-Forschern ging es bei ihren Präzisionsmessungen jedoch nicht nur um einen verbesserten Massenstandard. Im Visier hatten sie auch die so genannte Feinstrukturkonstante, die in den verschiedensten Bereichen der Physik auftritt. Arnold Sommerfeld führte sie in den Kindertagen der Quantenphysik ein, um die Aufspaltung der Spektrallinien des Wasserstoffs zu beschreiben. Inzwischen spielt  (alpha, das Formelzeichen der Feinstrukturkonstanten) nicht nur in der Atomphysik, sondern auch in der Festkörperphysik und der Quantenelektrodynamik eine große Rolle. Gerade diese Allgegenwart macht für David Pritchard, den Leiter der Arbeitsgruppe am MIT, den Reiz dieser Größe aus: "Durch Messungen von  oder anderen fundamentalen Konstanten können wir eine Abteilung der Physik gegen eine andere testen", meint er und fügt hinzu, dies sei gerade heutzutage wichtig, da sich die Physik in immer kleinere Fachrichtungen aufspalte, die sich mehr und mehr voneinander isolierten.

Mit Hilfe ihrer Präzisionsmessungen möchten David Pritchard und seine Kollegen die Feinstrukturkonstante so genau bestimmen, dass ihre Ergebnisse mit Messdaten beispielsweise aus der Festkörperphysik verglichen werden können, deren Genauigkeit derzeit bei rund 20 ppb liegt.

Ganz so weit sind die Forscher vom MIT noch nicht. Zwar ist ihr Massen-Messfehler von 0,2 ppb verschwindend klein, aber dies allein reicht nicht aus – auch einige andere Größen müssen ebenso präzise ermittelt werden. So steuern Forscher vom Max-Planck-Institut für Quantenoptik in Garching Wellenlängenmessungen bei; sie sind mit einem Fehler von 0,12 ppb gleichfalls extrem genau. Die Unsicherheit kommt von einer dritten Messgröße, hinter der Physiker aus Stanford her sind: dem Verhältnis der Masse eines bestimmten Atoms zur Planckschen Konstante h, bekannt als Proportionalitätsfaktor zwischen der Frequenz eines Lichtquants und seiner Energie (E=hv). Sie ist schuld daran, dass der Messfehler für die Bestimmung von a mit der Penning-Falle bisher noch 40 ppb beträgt. Doch Pritchard gibt sich zuversichtlich, die Ungenauigkeit bald soweit drücken zu können, dass seine Messwerte mit anderen vergleichbar werden.

Ebenfalls in einer Penning-Falle untersuchte ein internationales Team mit Forschern aus den USA, Deutschland und Korea das Verhältnis zwischen den Massen eines Protons und seines negativ geladenen Gegenstücks, des Anti-Protons. Nach dem Standardmodell der Teilchenphysik müssen jedes Teilchen und sein Anti-Teilchen exakt dieselbe Masse haben. Experimentell verifiziert wurde diese Vorhersage allerdings bisher nur in einigen wenigen Fällen.

Nun haben Physiker aus Cambridge (Massachusetts), Bonn und Seoul (Korea) die Massen (genauer gesagt: das Ladungs-Massen-Verhältnis) eines Protons und seines Anti-Teilchens mit einer Genauigkeit von 90 ppt (Billionsteln) gemessen. Das Resultat: kein Unterschied innerhalb dieses verschwindend kleinen Messfehlers. Auch wenn diese Übereinstimmung erwartet wurde, ist es dennoch wichtig, sie zu überprüfen – schließlich könnte ja auch ein Widerspruch zur Theorie herauskommen (worauf viele Physiker insgeheim hoffen, denn Widersprüche sind der Motor der Forschung).

Was würde Michelson von dem halten, was Physiker heutzutage an Präzisionsmessungen betreiben? Sähe er sich trotz aller Umwälzungen in der Physik doch noch in seiner Prognose bestätigt? Die erreichten Messgenauigkeiten würden jedenfalls seinen Beifall finden. Um ihn abschließend zu zitieren: "Hier zeigt sich die Wichtigkeit der Wissenschaft vom Messen – dort, wo quantitative Ergebnisse wünschenswerter sind als qualitative Theorien." Das ist zweifellos noch immer gültig, wenn auch die heutigen Messungen vielfach Größen betreffen, von deren Existenz Michelson nicht einmal träumte.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 2000, Seite 14
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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