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Wissenschaftstrends: Neue Drehs der DNA

Die genetische Maschinerie ist weit weniger konservativ in ihrem Verhalten als gedacht. Mehr und mehr tun sich Eigenheiten auf, die den altbekannten Grundregeln neue verblüffende Wendungen geben.

Geduldig harrt Margaret G. Kidwell eines kleinen Wunders. In Zuchtgläsern in ihrem Labor an der Universität von Arizona in Tucson hält sie zwei verschiedene Arten von Taufliegen der Gattung Drosophila in erzwungener Wohngemeinschaft. Da sich beide Spezies nicht kreuzen, sollten sie so verschieden bleiben, wie sie sind. Doch wenn die Forscherin recht hat, dann werden kleine Stückchen der Erbsubstanz DNA irgendwann von einer Art auf die andere übergehen.

Eine solche Vererbung an Nicht-Nachkommen wäre nach den Vorstellungen der klassischen Genetik schlichtweg unmöglich. Aber weder deren Begründer Gregor Mendel (1822 bis 1884) noch dessen Nachfolger konnten mit Erbfaktoren rechnen, die sich über irgendwelche Parasiten verfrachten lassen – in diesem speziellen Falle über Milben, die an beiden Taufliegen-Spezies saugen (Bild 1). Margaret Kidwell und ihre Mitarbeiter haben Hinweise, daß ein solcher Gen-Transfer mindestens einmal in der Natur bereits geschehen ist.

In den Maschen der Mendelschen Gesetze könnte es nach neueren Erkenntnissen faszinierende Schlupflöcher geben. Hilfreich bei den geradezu kriminalistischen Ermittlungen sind die Methoden der Molekularbiologie, mit denen sich Chromosomen und genetische Maschinerie weit genauer als früher analysieren lassen. Sie entbergen Eigenschaften und Vorgänge, die nach den traditionellen, eher vereinfachenden Modellvorstellungen vom Verhalten der DNA nicht zu erwarten waren: Gene springen gelegentlich von einem Chromosom zum anderen oder dehnen und verkürzen sich wie der Balg einer Ziehharmonika. Ganze Chromosomen scheinen eine Art chemisches Etikett zu tragen, das ihnen selbst bei identischer genetischer Ausstattung eine besondere Prägung verleiht, je nachdem, ob sie vom Vater oder von der Mutter stammen. Manche Proteine werden von Geister-Genen codiert – solchen, die es strenggenommen gar nicht gibt. Man hat sogar Anzeichen dafür gefunden, daß Organismen auf Milieuveränderungen mit gezielt anmutenden Mutationen ihrer Gene zu reagieren vermögen.

„Wir müssen uns viel mehr um die vielfältigen Details kümmern, wie Organismen die grundlegenden Eigenschaften von DNA, RNA und Proteinen zu ihren Gunsten ausspielen“, meint Joshua Lederberg, Medizin-Nobelpreisträger des Jahres 1958. Der Molekulargenetiker, heute an der Rockefeller-Universität in New York tätig, hatte sich in den vierziger Jahren einen Namen mit der seinerzeit ziemlich ketzerischen Beobachtung gemacht, daß es bei Bakterien eine quasi-sexuelle Fortpflanzung mit Austausch von genetischem Material gibt; und Anfang der fünfziger Jahre wies er nach, daß Phagen – also Bakterienviren – DNA von einem auf ein anderes Bakterium übertragen können. Längst ist dies alles allgemein anerkannt.

Die zur Diskussion stehenden Ketzereien von heute sind vielleicht der Schlüssel zu einem ähnlich bedeutenden Umdenken innerhalb der Genetik. Fachleuten wird bewußt, daß die DNA durchaus nicht so stabil und so vorhersehbar in ihren Reaktionen ist wie oftmals vorausgesetzt. „Die DNA ist nicht dieses reaktionsträge Ding, das eingeschlossen in einem Glaspalast nach außen Anordnungen erteilt“, betont Jeffrey W. Pollard, Entwicklungsbiologe am Albert-Einstein-College für Medizin in New York. „Sie ist vielmehr aktiver Teil der Zelle und reagiert auf das, was um sie herum vorgeht.“ Salopp bezeichnen Pollard und andere Biologen die DNA gelegentlich auch als ein Stoffwechselmolekül, um deren biochemische Sensitivität zu unterstreichen.

Die Konsequenzen einer als dynamisch zu betrachtenden DNA-Chemie seien, so Lederberg, in weiten Bereichen der Genetik und Evolutionstheorie noch nicht aufgegriffen worden. Er mahnt zwar auch zur Vorsicht, manche der überraschenden neuen Phänomene könnten sich als Irrlichter von allenfalls marginaler Bedeutung erweisen; doch sei jede Ebene molekularer Aktivität zweifellos weit komplexer als ursprünglich angenommen. Keiner gedenke die alten Genetik-Lehrbücher als Makulatur zu verwerfen, man werde aber neue Kapitel schreiben müssen.

Eckpfeiler der Biologie

Zur Wissenschaft wurde die Genetik Mitte des letzten Jahrhunderts im Klostergarten zu Brünn in Mähren, wo Mendel als Augustinermönch Kreuzungsversuche mit Erbsen und später auch Bohnen anstellte (Bild 2). Die mathematischen Regeln der Vererbung, die er und seine Nachfolger entwickelten, wurden zu Eckpfeilern der modernen Biologie.

Keiner der damaligen Forscher wußte, was Erbfaktoren oder Gene (wie sie seit 1909 genannt wurden) eigentlich waren; sie nutzten die Bezeichnung lediglich als bequeme Abstraktion, um die Weitergabe von Merkmalen an die Folgegenerationen zu beschreiben. Erst Mitte unse-res Jahrhunderts wurde die Desoxyribonucleinsäure, die DNA, als primäres ge-netisches Material identifiziert und damit der Grundstein zur Molekularbiologie gelegt.

Mit dem neuen Begriff DNA änderte sich jedoch nichts Wesentliches an den Grundlagen der Genetik. Immer noch wurde in den meisten Diskussionen die Erbsubstanz – abgesehen von gelegentlichen Mutationen – als ein wohlgeordnetes, erfreulich konstantes Etwas inmitten des turbulenten Innenlebens einer Zelle angesehen.

Die genetische Information ist, wie nachfolgende Forschungen ergaben, in der DNA-Doppelhelix in einer Art Vier-Buchstaben-Alphabet aus vier verschiedenen Nucleotidbasen niedergelegt. Ein Strang des Moleküls fungiert als Vorlage für die Herstellung komplementärer Boten-Ribonucleinsäure, die dann – als Bote und Botschaft zugleich – die Produktionsinformation zu den Ribosomen – den Proteinfabriken der Zelle – bringt. Je drei Buchstaben werden dort als Code-Wort für eine Aminosäure gelesen, die der zusammenzubauenden Proteinkette anzufügen ist. Mit immer tieferem Einblick erweisen sich die Tätigkeiten und Eigenschaften des Genoms (der ge-samten genetischen Ausstattung eines Organismus) und der damit assoziierten Moleküle jedoch als weitaus vielfältiger als gedacht (Bild 4).

Springende Gene

Zu den ersten Wissenschaftlern, welche die Dynamik des Genoms erkannten, gehört Barbara McClintock (1902 bis 1992; Bild 3). Im Jahre 1947, noch vor der Entdeckung der DNA-Doppelhelix, stellte sie bei Züchtungsexperimenten mit Mais am Cold-Spring-Harbor-Laboratorium (New York) merkwürdige, mit den bekannten Regeln unvereinbare Vererbungsmuster fest. Nach reiflichen Überlegungen und weiteren Kreuzungsexperimenten kam sie zu dem Schluß, daß einige Gene keinen festen Platz auf den Chromosomen innehatten. Vielmehr schienen sie von einer Generation zur nächsten ihren Standort zu wechseln, und das häufiger unter gewissen Umwelteinflüssen wie zu großer Hitze.

Die Vorstellung von transponierbaren genetischen Elementen, oft auch Transposons oder springende Gene genannt, blieb – wie einst die Mendelschen Regeln – jahrzehntelang unbeachtet; die Befunde wurden allenfalls als Kuriosität in einem anomalen System angesehen. In den frühen siebziger Jahren jedoch erfuhr Barbara McClintocks These spä-te Rechtfertigung: Molekularbiologische Experimente bewiesen, daß kleine DNA-Stücke tatsächlich manchmal innerhalb oder zwischen Chromosomen wandern und dabei die Ausprägung, die Expression von Genen verändern. So kann ein Transposon durch seine Anwesenheit in oder vor einem Gen dieses abschalten. Für ihre 1951 erstmals vorgestellte Entdeckung erhielt Barbara McClintock schließlich 1983 den Nobelpreis (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1983, Seite 16, und August 1984, Seite 36).

Über die Herkunft der Transposons herrscht noch immer keine völlige Klarheit; man nimmt jedoch an, daß viele von ihnen die Überbleibsel von Viren sind, die ihr Erbgut dauerhaft in das des Wirtes integriert haben. Gewisse Viren, die RNA statt DNA als Erbgut haben, produzieren ein bei ihnen erstmals entdecktes Enzym: die Reverse Transkriptase. Damit können sie – in Umkehr des gewohnten Informationsflusses in der Zelle – ihre RNA in DNA umschreiben und so einbauen.

Springende Gene scheinen sich im allgemeinen für ihre Art von Sport eines ganz ähnlichen Mechanismus zu bedienen: Einige produzieren ihre eigenen Reversen Transkriptasen, andere leihen sich solche Enzyme von dazu fähigeren genetischen Elementen oder Viren aus.

Ihre Eskapaden, wie auch immer ausgeführt, können erhebliche Folgen für den betroffenen Organismus haben. Zahlreiche genetische Veränderungen bei verschiedenen Tier- und Pflanzenarten beruhen nachweislich auf solchen Ereignissen. In jüngster Zeit hat man springende Gene auch beim Menschen als Krankheitsursache ausgemacht.

Beispielsweise identifizierten Francis S. Collins und seine Mitarbeiter an der Universität von Michigan in Ann Arbor 1991 bei einem Patienten jene Mutation, die für dessen Erkrankung an Neurofibromatose verantwortlich war. (Namensgebendes Kennzeichen sind Wucherungen am Nervensystem.) Bei ihm war ein Gen, das normalerweise das Zellwachstum reguliert, durch Einbau einer Alu-Sequenz inaktiviert; dies ist ein genetisches Element, das in vielfacher Ausfertigung über das gesamte menschliche Genom verteilt vorkommt. Zwei Monate später verkündete eine Gruppe um Haig H. Kazazian von der Medizinischen Fakultät der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore (Maryland), daß es ihr gelungen sei, ein anderes Transposon sozusagen in flagranti zu ertappen: Bei einem Kind mit Bluterkrankheit war das Gen für einen essentiellen Gerinnungsfaktor inaktiviert, und zwar durch ein Transposon, das praktisch haargenau einem Gen im Genom der Eltern glich, dort aber an ganz anderer Stelle saß.

Transponierbare genetische Elemente werden wie gewöhnliche Gene in vertikaler Richtung, das heißt von einer Generation zur nächsten, weitergegeben. Ihre Fähigkeit zu Sprüngen innerhalb einer Zelle hat jedoch Spekulationen darüber geweckt, ob sie unter bestimmten seltenen Umständen nicht auch in horizontaler Richtung, von einem Artgenossen zum anderen, weitergelangen könnten – vielleicht sogar von einer Spezies zur anderen. Bakterien tauschen ja untereinander Gene aus, und für eine Übertragung zwischen ihnen und Pflanzen oder Insekten gibt es immerhin starke Verdachtsmomente.

Für ein Springen von Transposons zwischen höheren Organismen hingegen fehlen bisher Beweise. Zwar kenne man seit vielen Jahren mehrere Paare von Arten, die sich einen Lebensraum teilen und gewisse eigenartige genetische Ähnlichkeiten aufweisen, ansonsten aber nicht miteinander verwandt sind, konstatiert John F. McDonald, Molekulargenetiker an der Universität von Georgia in Athens; und eine solche Konstellation lege immerhin die Vermutung nahe, daß genetische Information weitergegeben worden ist – „doch die meisten Fachleute haben abgewunken, weil ein genetischer Transfer nicht wirklich bewiesen werden konnte“.

Möglich mittels Milbe?

Die nach Ansicht vieler Wissenschaftler heißeste Spur verfolgen die Milbenspezialistin Marilyn A. Houck, inzwischen an der Texas-Tech-Universität in Lubbock, und Margaret Kidwell: Sie haben Hinweise entdeckt, daß ein als P-Element bezeichnetes springendes Gen vor nicht allzu langer Zeit von einer Taufliegen-Art zu einer anderen gelangt sein dürfte.

In den siebziger Jahren war Margaret Kidwell und anderen Wissenschaftlern aufgefallen, daß sich zwischen freilebenden und im Labor gezüchteten Populationen der Taufliege Drosophila melanogaster eine unerklärliche genetische Unverträglichkeit herausgebildet hatte. Wenn man zwei solche Populationen in einer bestimmten Weise kreuzte, waren die Nachkommen häufig steril oder hatten ihrerseits Nachkommen mit verschiedenen Anomalien.

Diese Inkompatibilität ließ sich schließlich auf transponierbare Elemente der P-Familie zurückführen. Weil nur Stämme, die schon über viele Generationen isoliert in Labors lebten, frei davon waren, schlossen die Wissenschaftler, daß die genetische Epidemie erst innerhalb der letzten 30 bis 50 Jahre ausgebrochen sein mußte. Mehr noch: Wie Stephen B. Daniels von der Universität von Connecticut in Storrs schließlich zeigen konnte, ist das P-Element von D. melanogaster praktisch identisch mit dem von D. willistoni, einer anderen Taufliegen-Art. All dies spricht sehr dafür, daß vor wenigen Jahrzehnten ein Gen-Transfer zwischen den beiden Spezies stattgefunden hat.

Wie das vor sich gegangen sein soll wäre vermutlich noch lange ein Rätsel geblieben, wenn nicht eine besonders üble Sorte von Milben die Fliegenkulturen von Margaret Kidwell befallen hätte. Sie bat Marilyn Houck, die nur ein paar Räume weiter arbeitete, nach Mitteln und Wegen zu suchen, den Parasiten – er entpuppte sich als Proctolaelaps regalis – auszurotten.

Unter dem Elektronenmikroskop fiel Marilyn Houck die verblüffende Ähnlichkeit zwischen den Mundwerkzeugen dieser Milbe und jenen haarfeinen Glaspipetten auf, mit denen man direkt Gene in Zellen injizieren kann (Bild 1). Da drängte sich ihr die Idee auf, die Natur habe womöglich die Schmarotzer für ein eigenes kleines Gen-Transfer-Experiment benutzt: Nach einer Mahlzeit auf D. willistoni könnte eine Milbe sich an einem Ei von D. melanogaster gütlich getan und dabei P-Elemente – quasi als Schmutz – übertragen haben, die sich in die DNA der Eizelle integrierten. Eine daraus hervorgehende Taufliege trüge dann P-Elemente von einer anderen Spezies.

„Ich bezweifle nicht, daß das Ganze auf einen horizontalen Transfer hinauslaufen wird“, sagt Marilyn Houck, und Margaret Kidwell ergänzt: „Das P-Element breitet sich wie verrückt aus, sobald es erst einmal richtig eingebaut ist. Eben dieser erste Schritt, die Integration in das fremde Genom, ist meiner Meinung nach die kritischste Hürde.“

Es gibt etliche offene Wenn und Abers, aber zugunsten der Hypothese spricht, daß die beiden Wissenschaftlerinnen im Verdauungstrakt der auf den Fliegen parasitierenden Milben P-Elemente nachgewiesen haben, die mit der Nahrung aufgenommen worden waren. In getrennten Experimenten wollen sie nun versuchen, den weiteren Übertragungsprozeß nachzuvollziehen. Margaret Kidwell hält dazu milbenbefallene Mischpopulationen beider Arten in der Hoffnung, den Übergang von P-Elementen an Laborstämmen beobachten zu können; Marilyn Houck widmet sich Detailaspekten des Problems.

Nicht auszuschließen ist bislang, daß Viren Beihilfe zur Grenzüberschreitung zwischen den Arten geleistet haben. Seit vielen Jahren sind sie als theoretisch mögliche Vehikel für Transposons im Gespräch; sie könnten ein solches Element zunächst ihrem eigenen Genom einverleiben und dann auf Zellen verschiedener Wirte übertragen. In mindestens einem Fall hat man, so berichtet McDonald, ein integriertes Transposon bei einem Virus gefunden, das verschiedene Insektenarten infiziert.

Falls sich zeigen ließe, daß Transposons Artgrenzen überspringen, spräche dies noch stärker für eine Urheberschaft am evolutionären Wandel. Im Sommer 1992 trafen sich Hunderte von Genetikern in Athens, um die diversen weitreichenden Konsequenzen auszuloten, die Transposons für die Evolutionstheorie haben könnten.

„Die traditionelle darwinistische Ansicht ist, daß die Evolution allmählich fortschreitet, indem sich Punktmutationen ansammeln, und daß durch Selektion alles, was nicht gut ist, verworfen wird“, erklärt McDonald, der Organisator dieser Konferenz. „Mit den Transposons ist die Sache nun aber die, daß sie gewöhnlich innerhalb kürzerer Zeitspannen Makromutationen erzeugen – erkennbar als plötzlich auftretende erhebliche Veränderungen im Erscheinungsbild, im Phänotyp der Organismen.“ Durch Unterdrückung anderer Gene könnten Transposons, so McDonald, als genetische Regulatoren wirken. „Auf molekularer Ebene schaffen sie neue regulatorische Netzwerke, was sich auf phänotypischer Ebene durchaus in einem geänderten Entwicklungsmuster äußern kann.“

Einen Zipfel eines solchen Netzwerks hat möglicherweise Diane M. Robins von der Universität von Michigan entdeckt. Wie sie auf der Konferenz in Athens erläuterte, ähnelt die Regulatorsequenz eines bestimmten Mäuse-Gens stark einem Teil eines Transposons anderswo im Genom. Durch Einbau und Beibehaltung der Transposon-Komponente an jener Stelle scheint das Gen nun auf die Konzentration zirkulierender Hormone anzusprechen.

Unter Umständen könnte ein Transposon beim Menschen einen noch deutlicheren evolutiven Vorteil gehabt haben; darauf deuten Ergebnisse von Linda C. Samuelson aus der Arbeitsgruppe von Diane Robins hin. Bei vielen Säugetieren schüttet die Bauchspeicheldrüse Amylase aus, um Stärke in der Nahrung abzubauen. Menschen haben das Enzym aber auch in ihrem Speichel, was anscheinend mehr Naturprodukte als Nahrung verwertbar macht. Linda Samuelson hat nun gezeigt, daß ein Transposon diese zweifache Nutzung des Enzyms ermöglicht haben mag, indem es die Regulation des Amylase-Gens so veränderte, daß dies auch an einem anderen Ort als in den Zellen der Bauchspeicheldrüse aktiv ist.

Manche Biologen spekulieren sogar über eine mögliche wichtige Rolle von Transposons bei der Artentstehung. So glaubt Pollard, solche mobilen genetischen Elemente könnten für das schubartige, durch längere stationäre Phasen unterbrochene Evolutionsmuster mitverantwortlich sein, das viele Paläontologen beim Vergleich fossilen Materials beobachten. Seiner Ansicht nach ist denkbar, daß Belastungen – etwa infolge des Eintretens ungewohnter Umweltbedingungen – die Häufigkeit von Gen-Sprüngen erhöhen. Davon betroffene Organismen würden leichter mutieren und sich daher vielleicht schneller weiterentwickeln – sichtbar als Evolutionsschub in den Fossilfunden.

Eine vorsichtigere Haltung vertritt Margaret Kidwell: „Im Moment hängt das alles, glaube ich, noch zu sehr in der Schwebe. Ich muß zwar gestehen, daß ich persönlich schon der Auffassung zuneige, daß es hier eine funktionelle Beziehung gibt, sie könnte jedoch äußerst komplex sein. Und bisher haben wir nicht allzuviel, aufgrund dessen sie sich fordern ließe.“

Gen-Kollosse

Das Springen dazu prädestinierter Gene stellt einen Mutationstyp dar, der von den Gründern der Genetik nicht vorherzusehen war. Ein weiterer, erst in den letzten Jahren entdeckter Typ ist in vieler Hinsicht sogar noch eigenartiger: Gewisse anomale Gene schießen plötzlich in die Länge – mit tragischen Folgen. Daraus wird das sonderbare Vererbungsmuster gewisser Krankheiten eher verständlich, so des Marker-X-Syndroms (englisch: fragile X syndrome). Benannt wurde es nach dem kennzeichnenden Aussehen des X-Chromosoms von Betroffenen: Die Spitze seines langen Armes scheint an einem dünnen, brüchigen (englisch: fragile) Faden zu hängen (Bild 5 links).

Dieser Defekt ist die häufigste Ursache erblicher geistiger Behinderung. Wovon er wiederum herrührte, erkannten erst 1991 die Arbeitsgruppen von Jean-Louis Mandel vom französischen Nationalinstitut für Gesundheit und medizinische Forschung in Straßburg, Grant R. Sutherland von der Kinderklinik Adelaide in Australien und Stephen T. Warren von der Medizinischen Hochschule der Emory-Universität in Atlanta (Georgia). Normalerweise enthält das menschliche Gen mit der Bezeichnung FMR-1 höchstens etwa 60 hintereinander aufgereihte Kopien einer bestimmten Dreiersequenz (Bild 5 rechts). Gesunde Überträger des Marker-X-Syndroms können bis zu 200 davon aufweisen; bei erkrankten Personen sind es viele Hunderte oder gar Tausende. Da Kinder mit Marker-X-Syndrom die Nachkommen gesunder Überträger sind, müssen die mutierten Gene von einer Generation zur nächsten weitergewachsen sein.

Gefunden hat man solche dynamischen Mutationen auch bei der myotonen Dystrophie (einer häufigen Form jener angeborenen Muskelschwunderkrankungen, die sich erst im Erwachsenenalter ausprägen) sowie bei einer seltenen Erkrankungsform, der spinalen und bulbären Muskelatrophie. Den Mechanismus dieser explosionsartigen Vervielfachung einer genetischen Sequenz kennt man bislang nicht, vermutet jedoch den Fehler bei einer DNA-Polymerase – einem Enzym, das Nucleotide zu DNA-Strängen verkettet.

Allerdings gebe es eine ganze Menge repetitive Regionen im Genom, und die große Frage sei, warum nicht auch diese massiv expandierten, überlegt Warren. David E. Housman am Massachusetts Institute of Technology in Cambridge hat Hinweise, daß bei Mäusen tatsächlich eine ganze Anzahl von Sequenzen expandiert, wenn auch weniger dramatisch als beim menschlichen FMR-1-Gen, – aber auch wieder schrumpft. (Bei Familien mit myotoner Dystrophie kann die Menge der Dreiergruppen nach neuesten Erkenntnissen kanadischer und amerikanischer Wissenschaftler von einer Generation zur anderen ebenfalls wieder abnehmen.)

Warren vermutet darum irgendeine außergewöhnliche Instabilität bei Varianten – Allelen – von FMR-1, die für ein solch expansives Wachstum prädestiniere. Über eine oder mehrere Generationen wächst demnach das instabile Allel zu der bei gesunden Marker-X-Trägern beobachteten Größe heran. Ab einer bestimmten kritischen Länge ist es schließlich sozusagen zur Explosion bereit, zu einer Ausdehnung auf die bei Erkrank-ten beobachteten spektakulären Ausmaße. Aus bislang ungeklärten Gründen scheint das Gen dann am stärksten zu expandieren, wenn es mütterlicherseits vererbt wurde. Wie auch immer – der erste Schritt sei offenbar eine Veränderung von einem stabilen zu einem instabilen Allel, meint Warren.

Als interessante Folge der Beobachtung solcher expandierender Mutationen wertet Warren, daß sie das Augenmerk wieder auf die quantitative Genetik beim Menschen lenke: „Anders als in einschlägigen Lehrbüchern verzeichnet, müssen wir nun sagen, daß es eine Mutation gibt, die sich nicht auf Nachkommen in der ersten und zweiten Folgegeneration auswirkt, sondern erst irgendwann später.“

Musterbeispiel ist eben das Marker-X-Syndrom. Nach den klassischen Regeln sollten bei einer X-chromosomal vererbten Krankheit alle männlichen Träger des Defekts erkranken, denn Männer haben nur ein X-Chromosom (während das bei Frauen vorhandene zweite – sofern es ein gesundes Gen trägt – einen rezessiven Defekt, aber keinen dominanten kompensieren kann). Tatsächlich sind aber mehr als 20 Prozent der Marker-X-Träger geistig völlig normal, weil sie kürzere Mutationsvorstufen von FMR-1 haben. Gleiches gilt für ihre Kinder; die Wiederholungsregion ihres Gens hat sich nur unwesentlich verlängert. Die Enkelkinder der ursprünglichen Träger, und zwar Mädchen wie Jungen, sind jedoch häufig geistig zurückgeblieben, weil sich bei ihnen die Region spektakulär vergrößert hat, der Effekt sozusagen durchschlägt.

Warren und viele andere Wissenschaftler sehen in dem beobachteten Muster der Gen-Expansion eine ausreichende Erklärung für das Marker-X-Paradoxon. Einige wenige jedoch meinen, daß noch mehr dahinter stecke. „Die Tatsache, daß die massivsten Änderungen stets von der mütterlichen Linie her eintreten, ist immer noch schwer zu erklären“, beharrt Carmen Sapienza vom Ludwig-Institut für Krebsforschung in La Jolla (Kalifornien). Er gehört zu jener Gruppe, die hier noch ein anderes dogma-verletzendes Phänomen am Werk vermutet: die elterliche Prägung von Chromosomen.

Geprägte Genome

Ein nicht geschlechtsgebunden vererbtes Gen sollte sich – so eine der Grundannahmen der klassischen Genetik – immer gleich auswirken, ob es nun vom Vater oder von der Mutter stammt. Inzwischen gibt es jedoch überzeugende Beispiele dafür, daß der männliche wie der weibliche Organismus den Genen, die er weitergibt, seinen Stempel aufzudrücken scheint.

Wenn man bei befruchteten Eizellen extrem ingezüchteter Mäuse den väterlichen Chromosomensatz durch einen zweiten mütterlichen ersetzt oder umgekehrt, dann erreicht keiner der Embryonen Geburtsreife – obwohl alle aufgrund der Inzucht dieselbe genetische Grundinformation tragen wie nicht manipulierte Embryonen. Ohne mütterliche Prägung entwickelt sich in erster Linie der Embryo selbst abnorm, ohne väterliche Prägung bildet sich die Plazenta (der Mutterkuchen) nur kümmerlich aus (Spektrum der Wissenschaft, Dezember 1990, Seite 82).

Beim Menschen resultieren aus einem Ungleichgewicht zwischen mütterlich und väterlich geprägten Chromosomen gelegentlich Krankheiten. Robert D. Nicholls und seine Mitarbeiter an der Universität von Florida in Gainesville haben für zumindest zwei Störungen entsprechende Hinweise: Kinder mit Prader-Willi-Syndrom, zu dessen Merkmalen geistige Behinderung und Fettleibigkeit gehören, haben offenbar beide Exemplare des Chromosoms 15 von der Mutter; umgekehrt zeigen Kinder, denen Teile des mütterlichen Chromosoms 15 fehlen und bei denen deshalb der väterliche Anteil überrepräsentiert ist, die Charakteristika des Angelmann-Syndroms, nämlich geistige Behinderung verbunden mit Stakkato-Bewegungen. Sapienza und andere haben sogar verschiedene Krebserkrankungen im Kindesalter mit anomaler Prägung in Verbindung gebracht.

Wie eine solche Prägung genau erfolgt ist noch unklar, möglicherweise spielt dabei die Anheftung von Methylgruppen an die DNA eine Rolle (Spektrum der Wissenschaft, August 1989, Seite 82). Die damit markierten Gene scheinen inaktiv zu werden. Das Methylierungsmuster bleibt zudem über die Zellteilungen hinweg erhalten. Eine Prägung im befruchteten Ei kann somit an alle Zellen des entstehenden Organismus weitergegeben werden.

Charles D. Laird von der Universität von Washington in Seattle ist der Ansicht, daß auch beim Marker-X-Syndrom Prägung und nicht Expansion der Schlüssel zu dessen paradoxem Vererbungsmuster sei (Bild 6). Das von ihm entwickelte Modell der Krankheit, meint er, beschriebe deren Verhalten genauer, als die molekularen Befunde es allein vermöchten.

Bei weiblichen Säugern ist jeweils eines der beiden X-Chromosomen in den Zellen durch Prägung abgeschaltet. (Im weiblichen Embryo wird zwar eines der beiden X-Chromosomen inaktiviert, aber nicht in jeder Zelle dasselbe.) Vor Beginn der Meiose – jener Kern- und Zellteilung, aus der schließlich reife Eizellen hervorgehen – wird die Markierung normalerweise vollständig beseitigt. Laird schlägt nun die Hypothese vor, daß bei Marker-X-Trägerinnen manchmal eine Mutation in diesem Chromosom das Tilgen an eben der brüchigen Stelle verhindere. Folglich würde eine gesunde Trägerin mit einem solchen genetischen Defekt im Schnitt der Hälfte ihrer Söhne ein teilweise, aber dauerhaft inaktiviertes X-Chromosom vererben. Die Betroffenen wären dann geistig behindert. Ein Teil ihrer Töchter zeigte, wenn diese das partiell inaktivierte brüchige X-Chromosom erben, ebenfalls Symptome. Nach Lairds Ansicht könnten die von Warren und seinen Kollegen beschriebenen Expansionen nur mehr ein Sekundäreffekt der inaktivierenden Prägung an der brüchigen Stelle sein.

Sapienza preist Lairds Analyse als „detektivische Meisterleistung“. Warren und seine Kollegen hingegen sind nicht übermäßig beeindruckt. Sie bemängeln, daß Laird seine Theorie mehrmals nachbessern mußte, um den tatsächlichen Gegebenheiten gerecht zu werden. Weitere Forschungen werden die Kontroverse möglicherweise beenden: Zur Zeit versucht Warren, eine expandierte repetitive Sequenz in ein Chromosom einzubauen, um zu sehen, ob das allein schon ausreicht, das FMR-1-Gen zu destabilisieren.

Gelenkte Mutationen

Noch heftiger wird derzeit über mögliche umweltgelenkte Mutationen diskutiert. Allbekannt ist, daß Strahlung, gewisse Stoffe (insbesondere krebserregende) und zu hohe Temperatur Zufallsmutationen auslösen. Einige Biologen suchen nun jedoch zu ergründen, ob die Umwelt manchmal einen lenkenden Einfluß auf die Art der Mutationen habe. Oft wird allein schon die bloße Idee als zutiefst ketzerisch verworfen, da sie die längst totgeglaubte Abstammungstheorie des französischen Naturforschers Jean-Baptiste Lamarck (1744 bis 1829) wieder aufzugreifen scheint: Evolution durch gerichtete Mutationen und die Vererbung erworbener Eigenschaften.

Die Vorstellung, die Umwelt könne das Erbgut gestalten, wurde um die Jahrhundertwende hauptsächlich durch die Keimbahntheorie obsolet. Diese besagt, daß die Zellenfolge vom befruchteten Ei bis zu den Keimzellen eines neuen Vielzellerorganismus – eben die Keimbahn – eine eigenständige Linie ist, von der die körperbildenden Zell-Linien abzweigen. Gewöhnliche Körperzellen – wie etwa die eines Organs oder Immunsystems – würden möglicherweise ihre Gene in Reaktion auf die Umwelt verändern, die Keimbahnzellen jedoch nicht. Dieser Verallgemeinerung stünden aber, so Pollard, viele biologische Beobachtungen entgegen: Bei den meisten Organismen seien die Keimzellen nicht von den übrigen getrennt; bei Blütenpflanzen etwa entstammen die Gewebe des Geschlechtsapparates gewöhnlichen Körperzellen, und für einzellige Organismen gelte die Theorie ohnehin nicht.

Diese Ausnahmen werfen die Möglichkeit auf, daß zumindest bei manchen Spezies überlebensförderliche genetische Veränderungen sogleich bevorzugt an die Nachkommenschaft weitergegeben werden. Aus teleologischer Sicht sähe es dann so aus, als hätte der Organismus mutiert, um sich seiner Umwelt besser anzupassen.

Angefacht wurde die gegenwärtige Debatte über gerichtete Mutationen hauptsächlich durch einen Artikel, den John Cairns, damals an der Fakultät für Öffentliches Gesundheitswesen der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) 1988 publiziert hatte. Den Krebsforscher interessierte die Mutationsweise von Organismen. Er kultivierte defekte Bakterien unter Bedingungen, bei denen die für sie verwertbare Zuckerart knapp, dafür aber eine andere normalerweise verwendbare – nämlich Lactose (Milchzucker) – reichlich vorhanden war. Aus den Ergebnissen schloß er, daß Mutationen, die das defekte bakterielle Gen für ein lactose-abbauendes Enzym reaktivieren, tatsächlich häufiger waren, als es der Zufall erlaubt. (Wenn Erbänderungen ein reines Zufallsprodukt sind, dann können günstige nicht häufiger auftreten als ungünstige.) Es schien, als ob der künstliche Selektionsdruck ungeeignete Bakterien nicht einfach nur der Auslese unterwarf, sondern ihre Mutationen aktiv in günstige Richtung lenkte.

Einige Monate später präsentierte Barry G. Hall, inzwischen an der Universität Rochester (US-Bundesstaat New York), noch überzeugendere Hinwei- se auf selektionsinduzierte Mutationen (Bild 7). Bei seinen Experimenten benötigten Bakterien zwei Mutationen, die jeweils für sich allein keinen ersichtlichen Vorteil boten, um eine alternative Nahrungsquelle zu erschließen. Nach Halls Berechnungen war die Chance für ein rein zufälliges Zusammentreffen dieser beiden Mutationen geradezu lächerlich gering, dennoch fand er eine überraschend hohe Zahl von Bakterien, die sich der Nahrungssituation angepaßt hatten.

Inzwischen haben mehrere andere Wissenschaftler über selektionsinduzierte Mutationen bei Bakterien berichtet, und Hall vermeldete im letzten Sommer sogar, so etwas auch bei Hefepilzen gefunden zu haben. Über die Mechanismen wisse man leider noch gar nichts, bedauert er, „ich glaube aber, unsere Daten reichen aus, einige der vorgeschlagenen Erklärungsmodelle auszuschließen“. Experimentell widerlegt sei bereits die Vermutung von Cairns, eine Reverse Transkriptase überschreibe sozusagen die Information für eine günstige Mutation von einer anomalen RNA auf Bakterien-DNA.

Wesentlich plausibler schien zwar das Modell von der transkriptionellen Mutagenese – daß die DNA aktiver Gene vielleicht deshalb außerordentlich schnell mutieren könnte, weil sie zur Transkription einzelsträngig und damit wesentlich verwundbarer wird. Aber die Indizien, so Hall, sprächen auch gegen einen solchen Mechanismus. Unter den verbliebenen Ideen sieht er immer noch eine Chance für seine eigene, daß nämlich unter Stress vielleicht ein paar Zellen in einer Population einen hypermutablen Zustand zu erreichen vermögen. Unter diesen würden dann nur diejenigen mit zufällig vorteilhaften Mutationen überleben, der Rest könne nicht weiterbestehen. „Das würde erklären, warum man keine Zellen mit Mutationen an anderer Stelle findet – sie sterben ab.“

Wie plausibel auch solche hypothetischen Mechanismen anmuten mögen, viele Wissenschaftler stehen dem Konzept der gerichteten Mutationen ausgesprochen skeptisch gegenüber. „Ich halte die Indizien nicht für sehr überzeugend“, bemerkt Richard E. Lenski von der Staatlichen Universität von Michigan in East Lansing. Er ist Mitautor einiger Artikel gegen die Überlegungen von Cairns, Hall und anderen und behauptet, bei vielen ihrer Experimente fehlten ausreichende Kontrollen; es sei zudem extrem schwierig, die Anzahl von Mutationen abzuschätzen, die einer beobachteten Population zugrunde liegen. Durchaus denkbar sei hingegen, daß biochemische Phänomene die Mutationsraten verschöben und damit den Eindruck gerichteter Mutation erweckten – nur kenne er bislang keinen ihn überzeugenden Beleg, daß solche Phänomene signifikante Effekte zeitigten.

Dennoch betrachtet Lenski die von ihm kritisierten Arbeiten keineswegs als wertlos. „In einigen Fällen“, räumt er ein, „scheint die Mutationsrate in der Tat zu steigen, wenn Zellen belastenden Be-dingungen ausgesetzt werden. Das ist jedoch keine gerichtete Mutation, wie behauptet wird, sondern es scheint eine physiologische Abhängigkeit für bestimmte Mutationsraten zu geben.“ Daß Wissenschaftler sich den möglichen molekularen Mechanismen dahinter und deren evolutionären Konsequenzen widmen, betrachtet er als durchaus positiv.

Das Redigieren von RNA

Was sich auf der Ebene der DNA an biochemischen Winkelzügen auftut, läßt sich nicht losgelöst von den begleitenden Entdeckungen beim Umsetzen der genetischen Information in Proteine betrachten. Im Gegensatz zu anfänglichen Theorien müssen die von Genen abgeschriebenen RNA-Moleküle vielfach erst noch ausgiebig weiterbearbeitet werden, ehe sie als Vorlage zur Proteinsynthese dienen können.

Beispielsweise ist bei allen über den Bakterien stehenden Organismen die Bauanweisung in der Regel kein kontinuierlich lesbarer Text; sie ist auch noch auf der primären RNA-Abschrift von langen, im großen und ganzen bedeutungslosen Sequenzen unterbrochen. Während der Weiterbearbeitung, der sogenannten Prozessierung oder Reifung der RNA, werden diese Introns herausgeschnitten und die informationshaltigen Exons zu einem kürzeren Molekül verknüpft. Wie Thomas R. Cech von der Universität von Colorado in Boulder und Sidney Altman von der Yale-Universität in New Haven (Connecticut) 1982 entdeckten, verfügen manche der Intronsequenzen in der RNA über enzymatische Eigenschaften, die es ihnen erlauben, sich selbst herauszuschneiden und die losen Enden zu verknüpfen. Dafür wurden beide 1989 mit dem Nobelpreis ausgezeichnet.

Die wohl ungewöhnlichste Form der Weiterbearbeitung ist das Redigieren des RNA-Textes, nach dem englischen Begriff als RNA-Editing bezeichnet. Dabei werden wichtige Informationen eingefügt, die in der DNA nicht eindeutig festgelegt sind. Genaugenommen faßt man unter dem Begriff verschiedene Phänomene zusammen, die in so unterschiedlichen Organismen wie Säugetieren, Amphibien, Pflanzen, Protozoen (Einzellern) und Viren auftreten. Stets werden dabei im RNA-Molekül gezielt Basen (genauer: Nucleotide) ergänzt oder gewisse vorhandene Basen umgewandelt; vermutlich ist aber mehr als ein Mechanismus am Werk.

Das bestverstandene Beispiel – und vielleicht auch das verblüffendste – entstammt Untersuchungen an parasitischen Einzellern der Gattung Trypanosoma, zu denen die Erreger der Schlafkrankheit gehören. Dazu muß man wissen, daß die Mitochondrien – die Kraftwerke der Zellen – eigene DNA enthalten. Bei Trypanosomen hat sie nun eine sehr merkwürdige Struktur: ein ineinandergreifendes Geflecht aus einigen Dutzend großen und Tausenden von kleineren Ringen, das an ein schlampig gefertigtes Kettenhemd erinnert.

Der Großteil der üblichen Mitochondrien-Gene ließ sich zwar auf den Maxiringen nachweisen; wichtige Gene jedoch, etwa die für Transfer-RNA, fehlten. Die Miniringe selbst schienen überhaupt keine verwertbare Information zu enthalten.

Noch verblüffter waren die Molekularbiologen über die Boten-RNAs: Viele davon waren länger als die DNA, von der sie abgeschrieben worden waren, in einem Fall sogar doppelt so lang. Überall in diesen Molekülen fanden sich Uridin-Nucleotide in einer Weise eingefügt, daß aus dem auf DNA-Ebene noch sinnlosen Text auf RNA-Ebene ein sinnvoller wurde. Für solche DNA-Abschnitte hat Larry Simpson von der Universität von Kalifornien in Los Angeles den Begriff Krypto-Gene, Geister-Gene, geprägt.

Eine Erklärung für das Ergänzen bot er 1990 zusammen mit Beat Blum und Norbert Bakalara an: Mini- wie Maxiringe produzieren kleine „Leit-RNAs“, die Auslassungen im Boten-RNA-Text finden und korrigieren. Eine Leit-RNA und ihre Boten-RNA passen zueinander wie die beiden Hälften eines Reißverschlusses. Immer dort, wo ein Zahn – ein Uridin-Nucleotid – im Boten-Strang fehlt, wird er ergänzt. „Das RNA-Editing erzeugt überhaupt erst die Sequenz der reifen Boten-RNA“, erläutert Kenneth D. Stuart vom Biomedizinischen Forschungsinstitut in Seattle.

Warum sich ein solches System im Laufe der Evolution herausgebildet hat, ist rätselhaft; vielleicht kontrollieren die parasitischen Einzeller damit in verschiedenen Stadien ihres komplexen Lebenszyklus die Expression von Genen.

Wie die Leit-RNAs das Schneiden und Spleißen steuern, ist ebenfalls nicht vollständig klar. Einem Modell zufolge – es wurde zuerst von Cech publiziert, unabhängig davon jedoch auch von Blum und Simpson entwickelt – erledigen die Leit-RNAs die ganze Arbeit selbst und spenden die fehlenden Uridine sozusagen aus ihrem eigenen Bestand. Stuart und seine Mitarbeiter konnten dann sogar an Boten-RNA gebundene Leit-RNAs nachweisen – ein wichtiges Indiz zugunsten ihrer Theorie.

Der nicht ganz so universelle Code...

Am Ende all dieser verschiedenen Bearbeitungsschritte steht die fertige, reife Boten-RNA, die nun an den Ribosomen in ein Protein übersetzt werden soll. Aber auch dieser Schritt hat sich als komplizierter erwiesen als zunächst gedacht. Für die Übersetzung, die Translation, muß ein Ribosom die codierte Information entschlüsseln. Jeweils drei Basen stehen als Codewort, als Codon, für einen Befehl; einige bedeuten, eine bestimmte Aminosäure anzufügen, andere, den Bau des Proteins zu beenden.

Weil der genetische Code eine so grundlegende Bedeutung für das Leben hat, sollte man meinen, er sei universell. Dem ist aber nicht so: Der Code für die Entschlüsselung von Boten-RNA aus dem Zellkern ist etwas verschieden von dem, der für Mitochondrien und Chloroplasten gilt (diese chlorophyllhaltigen Organellen von photosynthese-treibenden Zellen enthalten ebenfalls eigene DNA). In mitochondrialer RNA steht das Codon Adenin-Guanin-Adenin für die Aminosäure Valin, in Kern-RNA hingegen als Stopp-Signal, sozusagen als Punkt am Ende der Information.

Gelegentlich kann der Code auch flexibler gehandhabt werden. Für manche Proteine muß ein Ribosom zum Beispiel bestimmte Codons innerhalb eines Boten-RNA-Strangs unterschiedlich übersetzen. So werden bei der Herstellung eines bestimmten Blutproteins von Säugetieren manche Stopp-Codons, aber beileibe nicht alle, als Befehl für das Anfügen der Aminosäure Selenocystein interpretiert.

Hinzu kommt, daß die informationshaltigen Codons der Boten-RNA nicht immer säuberlich im Raster der Dreierschritte liegen. Ribosomen müssen deshalb manchmal das Leseraster etwas verschieben, sozusagen ihren Lesekopf um eine oder mehrere Basen vor- oder zurückstellen, um ein Codon zu suchen. In einem Fall – entdeckt von Wai Mun Huang vom Medizinischen Zentrum der Universität von Utah in Salt Lake City – ignorieren die Ribosomen eine Folge von 50 Basen in einer Boten-RNA. John F. Atkins und seine Mitarbeiter vom College der Universität Cork (Irland) haben für diese Uminterpretation der Boten-RNA durch die Ribosomen den Begriff RNA-Recoding, Umcodieren von RNA, geprägt.

... und dennoch generelle Regeln

Nur einige der Phänomene, die augenblicklich die Molekulargenetik neu beleben, sind hier vorgestellt. Das sich daraus abzeichnende Bild eines dynamischen Genoms setzt jedoch keineswegs das altvertraute Modell herab, das nach wie vor eine bemerkenswerte intellektuelle Leistung darstellt.

Die Genetiker hatten Vererbungsregeln gesucht und gefunden, die sich auf so verschiedene Organismen wie Bakterien, Rosen, Rhinozerosse und Menschen anwenden lassen. „Wir sollten froh sein, überhaupt irgend etwas Generalisierbares entdecken zu können“, meint Lederberg. „Es ist unwahrscheinlich, daß wir jemals ein Prinzip von wirklich universeller Gültigkeit finden.“

Es war ihre Schlichtheit, die der traditionellen Genetik eine solche Potenz verliehen hat. Ihre Verallgemeinerungen beschreiben die meisten genetischen Phänomene, wie sie in den meisten Organismen meistens vor sich gehen. Ohne sie hätte sich die Biologie niemals zu ihrem heutigen Verständnis des Lebens entwickeln können. Jetzt ist die große Herausforderung, die Ausnahmen von den Regeln und deren Folgen zu erforschen und neue noch allgemeiner gültige Regeln zu finden – so es diese überhaupt gibt.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1993, Seite 32
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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