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Ökosystem Ostsee



Die Ostsee reagiert sehr empfindlich auf die von uns Menschen verursachten Veränderungen in ihrem Einzugsgebiet. Bis heute ist es jedoch nicht möglich, eindeutig vorherzusagen, wie sich diese Einflüsse künftig auf das Ökosystem Ostsee auswirken werden. Eine übergreifende Systemanalyse soll nun die ökologischen Grundlagen aufzeigen. Dieses Wissen wird auch benötigt, um effektive Maßnahmen zum Schutz der Ostsee einleiten zu können.

In ihrer kurzen nacheiszeitlichen Geschichte entwickelte sich die Ostsee vor etwa 6000 Jahren zu einem der größten Brackwassermeere unserer Erde. Sie liegt in der gemäßigten Klimazone mittlerer geographischer Breite, in der jährlich mehr Niederschlag fällt als verdunstet. Daher führen die einmündenden Flüsse der Ostsee große Mengen Süßwasser zu. Hieraus resultiert ein Überschuß an Süßwasser, der oberflächennah in die Nordsee ausströmt. Gleichzeitig dringt von dort durch die Belte und den Sund salzreiches Tiefenwasser über die unterseeischen Schwellen in die Ostsee ein. Im langjährigen Mittel sind Ein- und Ausstrom ausgeglichen.

Die ausgeprägten vertikalen Unterschiede im Salzgehalt beeinflussen die Schichtung der Wasserkörper und damit die Austauschprozesse zwischen dem salzarmen Wasser der Deckschicht und dem salzreichen Tiefenwasser. Infolgedessen wird die Artenvielfalt von Flora und Fauna durch horizontale und vertikale Gefälle im Salzgehalt geprägt, die von klimatischen Veränderungen und Schwankungen der vorherrschenden Wetterlagen (wie Wind und Niederschläge) abhängen. Insofern sind in der Ostsee Artenveränderungen sowie Sauerstoffschwund in Bodennähe natürliche Ereignisse.

Das Ökosystem Ostsee reagiert aufgrund dieser Eigenschaften besonders empfindlich auf anthropogene (durch den Menschen verursachte) Veränderungen in ihrem großen Einzugsgebiet, in dem etwa 80 Millionen Menschen in 14 Staaten leben. Deren Einwirkungen, von der Überdüngung (Eutrophierung) über Schadstoffeinleitungen, Fischerei, Verkehr, Tourismus bis zum Küsten- und Wassermanagement, sind besonders deutlich in den küstennahen Gewässern zu beobachten, aber zunehmend auch in der offenen Ostsee. Die damit verbundenen Veränderungen des Ökosystems laufen nicht allmählich, sondern sprunghaft ab und werden häufig durch die natürlichen Schwankungen verdeckt.

Die Ostsee gilt als eines der am besten erforschten Meeresgebiete der Welt. Seit 1979 wird sie entsprechend der 1974 verabschiedeten Ostseeschutz-Konvention von Helsinki in einem alle Anrainerstaaten verpflichtenden Programm (HELCOM, Helsinki Commission on Baltic Marine Protection) ständig überwacht. Trotz dieser Anstrengungen ist es jedoch bis heute nicht möglich, eindeutig vorherzusagen, wie das Ökosystem Ostsee auf die unterschiedlichen Einflüsse seines Einzugsgebiets reagiert. Das gilt sowohl für zu- wie auch für abnehmende Belastungen.

Die Vertreter der Anrainerstaaten haben sich das Ziel gesetzt, den Zustand der Ostsee von vor etwa 50 Jahren wiederherzustellen. Die Kommission beschloß deshalb, die Einleitungen in das Meer um 50 Prozent zu verringern. Ein entsprechendes Aktionsprogramm soll die Verschmutzungsquellen an 132 Brennpunkten im Ostseeraum beseitigen oder reduzieren. Diesen Plänen stehen allerdings mögliche neue Belastungen entgegen, wenn die in der Agenda BALTIC 21 (für die Ostsee-Region) vorausgesagte dynamische wirtschaftliche Entwicklung im Ostseeraum wie beschrieben stattfindet. (Die Agenda 21 ist ein auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro 1992 aufgestellter Entwurf für das 21. Jahrhundert. BALTIC 21, die entsprechende Version für den Ostseeraum, wurde im Juni 1998 in Nyborg verabschiedet.)

Deshalb wird die Verwirklichung der Absichten von Helsinki davon abhängen, inwieweit es gelingt – wie in der Agenda vorgeschlagen –, die ökologischen Notwendigkeiten mit der ökonomischen und sozialen Entwicklung abzustimmen. Dafür ist es jedoch erforderlich, die Entwicklung dieses Ökosystems beurteilen zu können – nicht zuletzt auch, um die öffentliche Akzeptanz zu schaffen für die enormen Kosten, die für den Schutz der Ostsee nötig sein werden.

Deshalb ist es notwendig, über die bisherigen Forschungsansätze hinaus, eine übergreifende Systemanalyse der ökologischen Grundlagen zu entwickeln. Dies strebt das von der Europäischen Union (EU) geförderte Forschungsprojekt BASYS (Baltic Sea System Study) an. Beteiligt sind 50 Forschungsinstitute aller marinen Disziplinen aus 13 europäischen Ländern. Die Ziele von BASYS sind langfristig: Die Forscher wollen die Reaktionen der Ostsee auf äußere Einflüsse besser verstehen, um die damit zusammenhängenden Schlüsselprozesse – gegenwärtige wie zukünftige – besser bewerten zu können. Das im August 1996 gestartete Projekt hat eine Laufzeit von drei Jahren und verfolgt die gesteckten Ziele mit unterschiedlichen Forschungsansätzen.


Zirkulationsmodell



Um die längerfristigen Auswirkungen der von Menschen zugeführten Stoffe beurteilen zu können, ist es erforderlich, diese Stoffe zu bilanzieren sowie ihre Quellen und Senken zu erforschen. Dazu werden einerseits die Einträge aus der Atmosphäre, den Flüssen und der Nordsee (Quellen) untersucht, andererseits die Prozesse analysiert, welche die Stoffe wieder aus dem Ökosystem entfernen (Senken), etwa Ablagerungen am Boden. Die Wissenschaftler beobachten daher intensiv, wie die Stoffe aus den Küstengewässern bis in die tiefen Einlagerungsbecken transportiert werden.

Veränderungen im Ökosystem vollziehen sich zeitlich und räumlich verschieden. In den küstennahen Bereichen und den tieferen Becken treten stärker kurzfristige und lokale Veränderungen auf. Es gilt künftig noch zu prüfen, wie sich diese auf die längerfristigen und großräumigen Veränderungen im Gesamtsystem auswirken. Offen ist auch, wie insbesondere die Materialien transportiert werden und die Senken funktionieren.

Um die Reaktionen des Ökosystems Ostsee auf äußere Einwirkungen besser abschätzen zu können, müssen kurzfristige Schwankungen und längerfristige Veränderungen den jeweiligen natürlichen (zum Beispiel klimatischen) beziehungsweise anthropogenen Ursachen zugeordnet werden. Dafür werden lange Zeitreihen von Daten und Ablagerungen am Boden – dem Geschichtsbuch der Ostsee – ausgewertet. Parallel dazu entwickeln die Forscher Rechenmodelle, welche die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen den äußeren Antriebskräften und dem Ökosystem auf verschiedenen Raum- und Zeitebenen mathematisch darstellen. Diese verbesserten Modelle sollen dazu beitragen, die Reaktionen und zukünftigen Veränderungen der Ostsee genauer abschätzen und vorhersagen zu können.

Die Ergebnisse zum Eintrag aus der Atmosphäre werden in ein europaweites Zirkulationsmodell integriert. Damit lassen sich erstmals realistische saisonale und regionale Muster dieser wichtigen Quellen von Nährstoffen (50 Prozent der gesamten Stickstoffzufuhr) und Schadstoffen ermitteln. Erhebliche Lücken bestehen dagegen noch beim Verständnis, in welchen Mengen molekularer Stickstoff biologisch fixiert wird (eine wichtige Quelle) und durch bakterielle Freisetzung aus Salzen der Salpetersäure (Denitrifikation) aus dem System entweicht (eine wichtige Senke). Auch über die ostseeweite Ablagerung von Nähr- und Schadstoffen in den Sedimenten (ebenfalls eine wichtige Senke) ist noch wenig bekannt.


Sichtbare Folgen der Umweltbelastung



Die Folgen der Umweltbelastung sind besonders stark in den Bodden, Haffen und Buchten der Ostsee ausgeprägt, da hier die vom Menschen eingeleiteten Stoffe umgewandelt und teilweise abgelagert werden. Die Pufferfunktion dieser Gewässerbereiche scheint nun in weiten Teilen der Ostsee überfordert zu sein, so daß die Küstengewässer, die bisher als Senken für die Einträge galten, nun zu Quellen für die offene Ostsee werden. Der Wasseraustausch zwischen Ostsee und Nordsee wird sehr stark durch Veränderungen des Luftdrucks über dem Nordatlantik beeinflußt. Sie entscheiden über die Stärke der Westwinde und damit über das Wasserstandsgefälle zwischen Nord- und Ostsee.

So haben die Forscher in der Wassersäule in hochauflösenden Zeitreihen aus der jüngsten Vergangenheit Salzwassereinbrüche beobachtet. Diese bewirkten, daß das Ostseebecken nachhaltig mit Sauerstoff versorgt wurde. Derartige Ereignisse treten gewöhnlich in Abständen von Jahrzehnten auf. Sie sind über Jahrhunderte hinweg in den Bodenablagerungen der Ostsee dokumentiert. Daraus lassen sich auch Veränderungen in der Zusammensetzung der Arten und ihres Vorkommens erkennen.

Die küstennahen Gewässer der Ostsee haben sehr schnell auf die Aktivitäten des Menschen reagiert: Dort veränderten sich Artenvielfalt und Lebensraum, es kam zur Verschlickung. Die offene Ostsee hingegen zeigt eine um 10 bis 20 Jahre verzögerte Wirkung. So reagierte sie erst Ende der sechziger Jahre – dann allerdings schlagartig – auf die seit den vierziger Jahren intensivierte Landwirtschaft. Die angereicherten Bodenablagerungen scheinen hier als Puffer zu wirken, der die Ostsee für längere Zeiträume auf einem bestimmten Eutrophierungsniveau hält. Dieses hat sich seit 1990 kaum verändert, obwohl deutlich weniger Nährstoffe in das Gewässer eingetragen wurden.

Sind erst alle Ergebnisse des BASYS-Projekts vollständig ausgewertet, werden diese die Systemanalyse der Ostsee erheblich verbessern. Dennoch müssen die Forschungen intensiv weitergeführt werden, bis gesicherte Vorhersagen zum Verhalten des Ökosystems Ostsee möglich sind.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 2 / 1999, Seite 933
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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