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Zusatzbeitrag: Radiologische Folgen des Tschornobyl-Unglücks


Durch den Reaktorunfall von Tschornobyl wurden größere Flächen von Belarus, Rußland und der Ukraine stark radioaktiv kontaminiert; besonders betroffen sind die Umgebung des Unglücksreaktors selbst sowie die Gegend um Nowosybkow (Rußland) östlich von Gomel (Belarus), wo die radioaktive Wolke teilweise ausregnete (Bild 1). Der Kartenausschnitt umfaßt alle sogenannten engeren Kontrollgebiete, also jene 10300 Quadratkilometer, bei denen die Cäsium-137-Belastung 555000 Becquerel pro Quadratmeter (15 Curie pro Quadratkilometer) überschreitet. Mit mehr als 185000 Becquerel pro Qudratmeter (5 Curie pro Quadratkilometer) wurden in Rußland 7900, in der Ukraine 4700 und in Belarus 16000 Quadratkilometer verseucht. In Deutschland, wohin ein Teil der radioaktiven Wolke trieb, registrierte man Cäsium-137-Spitzenwerte bis zu 100000 Becquerel pro Quadratmeter; die deutsche Strahlenschutzkommission hat als damalige repräsentative Kontamination für das am höchsten belastete Gebiet, den Voralpenraum, 32000 Becquerel pro Quadratmeter angegeben.

In den engeren Kontrollgebieten, in denen zum Zeitpunkt des Unglücks 273000 Menschen lebten, wird die Aktivität in der Nahrung systematisch kontrolliert; nicht belastete Lebensmittel werden von außerhalb eingeführt. Eine Umstellung der landwirtschaftlichen Produktionsweisen soll die Kontamination der produzierten Nahrungsmittel reduzieren. Einige Orte in diesen Gebieten wie zum Beispiel Saborje im russischen Bezirk Brjansk weisen mittlere Cäsium-137-Flächenaktivitäten bis zu vier Millionen Becquerel pro Quadratmeter auf.

Auch Iod-131 hat zur Strahlenexposition der Bevölkerung beigetragen. In der Umgebung von Tschornobyl war die Iod-131-Flächenaktivität dreißigfach höher als diejenige von Cäsium-137. Mit zunehmender Entfernung vom Kernkraftwerk nahm das Verhältnis dieser Flächenaktivitäten ab und erreichte in mehr als hundert Kilometer entfernten Gebieten mit überwiegend trockener Ablagerung Werte um eins.


Strahlenexposition

Nur drei Kilometer vom Unglücksreaktor entfernt liegt die Stadt Pripjat, deren 49000 Einwohner am 27. April 1986, 36 Stunden nach Beginn der Katastrophe, evakuiert wurden. Bis dahin hatten die Menschen bereits Iod-131 eingeatmet, das sich in der Schilddrüse ansammelt. Kaliumiodat-Tabletten zur Reduktion der Schilddrüsenexposition wurden nur an 62 Prozent der Personen verteilt, und nur 45 Prozent erhielten sie am ersten Tag, an dem sie erforderlich gewesen wären. Im Mai und Juni 1986 wurde bei etwa einem Zehntel der Evakuierten die Iod-131-Aktivität in der Schilddrüse ermittelt, doch nur 2159 Einzelmessungen erfüllten die Qualitätskriterien, um daraus die mittleren Strahlenexpositionen verschiedener Altersklassen ableiten zu können (Bild 2 oben). Kurzlebige Radionuklide wie Iod-133 mit einer Halbwertszeit von 20,8 Stunden trugen bei den Evakuierten bis zu einem Drittel zur Strahlenexposition der Schilddrüse bei.

In den stärker mit Iod-131 kontaminierten Gebieten von Belarus und der Ukraine außerhalb der 30-Kilometer-Zone, die 10000 bis 20000 Quadratkilometer umfassen, war die Schilddrüsenexposition der Bevölkerung ähnlich hoch. Eine kürzlich erstellte Studie für die Ukraine basiert auf mehr als 100000 Einzeluntersuchungen. Demnach liegen die mittleren Schilddrüsendosen von Kindern in größeren Gebieten der zwei am stärksten betroffenen Bezirke Kyiw und Shytomir zwischen 75 und 1600 Millisievert. Im Gegensatz zu den evakuierten Personen nahm die Bevölkerung der kontaminierten Gebiete Iod-131 über einen längeren Zeitraum und hauptsächlich durch den Verzehr von kontaminierter Milch auf. Ein erheblicher Teil dieser Strahlenexpositionen hätte sich durch rechtzeitige Information und durch Verzehrsbeschränkungen vermeiden lassen.

Die externe Strahlenexposition der Bewohner der kontaminierten Gebiete ist wesentlich durch die Cäsium-137-Flächenaktivität bestimmt. Die bereits stattgefundenen und die noch zu erwartenden Expositionen lassen sich aus umfangreichen Messungen in Rußland und in der Ukraine abschätzen beziehungsweise anhand eines international abgestimmten Rechenmodells prognostizieren (Bild 3). Hochexponierte Personen wie etwa Waldarbeiter können bis zu dreimal so hohe Dosen erhalten. Zur Dekontamination wurden in einigen Dörfern die oberen Erdschichten abgetragen und Plätze und Straßen mit Asphalt abgedeckt. Diese Maßnahmen reduzierten die externe Strahlenexposition der Bevölkerung allerdings nur um maximal 30 Prozent. In der Ukraine wurde in einigen Jahren der Schulbesuch auf neun Stunden täglich und sechs Tage in der Woche verlängert, was die externe Strahlenexposition der Schulkinder um 40 Prozent verringerte.

Die Kontamination der in den betroffenen Gebieten erzeugten Nahrungsmittel hängt sehr von der Bodenart und dem damit verbundenen Transferfaktor ab. Abschätzungen der internen Strahlenexposition lassen sich demnach immer nur für eine spezielle Bodenart mit einem mittleren Transferfaktor angeben (Bild 4); in anderen Gegenden können die Belastungen weit geringer oder höher sein. Es gibt sogar Gebiete mit Moorböden, die extrem hohe Transferfaktoren aufweisen wie zum Beispiel jenes im nördlichen Teil des Bezirks Rowno in der Ukraine, das in der Literatur schon zur Zeit des Fallouts von atmosphärischen Kernwaffentests diskutiert wurde. Obwohl dort die Cäsium-137-Flächenaktivitäten nur um 100000 Becquerel pro Quadratmeter betragen, wurden in einigen Dörfern noch 1992 mittlere interne Strahlenexpositionen von zwei Millisievert gemessen.

Schätzungen zufolge haben die im Nordteil des Bezirks Rowno getroffenen Gegenmaßnahmen die Ingestionsdosen in verschiedenen Dörfern 1986 auf die Hälfte bis ein Siebtel, und 1992 auf ein Viertel bis ein Zwölftel reduziert. Der lange Zeitraum, über den die Effektivität der Gegenmaßnahmen nur wenig gesteigert werden konnte, reflektiert die Schwierigkeiten, unter den herrschenden beschränkten ökonomischen Verhältnissen die Folgen des Unfalls zu bewältigen. In einigen hoch kontaminierten Gebieten ist sogar die Effektiviät der Maßnahmen rückläufig. Konnte so anfangs die vermehrte Verwendung von Dünger auf kaliumarmen Böden die Kontamination der Pflanzen und der Milch beträchtlich verringern, stehen gegenwärtig in einigen Gebieten nicht mehr genügend Mittel zum Einsatz von Kaliumdünger zur Verfügung.

Weil sich deponiertes Cäsium mit der Zeit immer stärker an Bodenpartikel bindet, nimmt der Transfer in die Vegetation ab. So wurde im russischen Bezirk Brjansk von 1986 bis 1995 eine Abnahme des Cäsiumtransfers in die Milch auf ein Achtzigstel festgestellt. In Moor- und Waldböden ist dieser Effekt allerdings von untergeordneter Bedeutung. So ist die Kontamination von Pilzen in diesem Zeitraum gleich geblieben, wodurch der relative Beitrag von Waldprodukten zur Ingestionsdosis steigt. In weißrussischen Dörfern beispielsweise, die in Waldnähe liegen, ergab sich 1993 ein Beitrag von Pilzen und Beeren von 35 Prozent zur gesamten Ingestionsdosis. Trotz offizieller Verbote greift die Bevölkerung wegen der sich verschlechternden wirtschaftlichen Verhältnisse zunehmend auf Waldfrüchte zurück; darum ist anzunehmen, daß deren relativer Beitrag zur Ingestionsdosis weiter steigen wird. In den besonders belasteten Gebieten liegt die Cäsium-137-Kontamination der Pilze und Beeren zumeist über dem gegenwärtig gültigen Grenzwert von 600 Becquerel pro Kilogramm.

Bei den genannten Abschätzungen von internen Strahlenexpositionen sind außer Iod und Cäsium auch radioaktive Isotope anderer Elemente wie Strontium und die verschiedenen Transurane berücksichtigt. Wegen der relativ geringen Ablagerung von Strontium-89 und -90 außerhalb der 30-Kilometer-Zone liegt der Beitrag dieser Radionuklide zur Ingestionsdosis bei weniger als zehn Prozent. Die Inhalation von Transuranen wie Plutonium-238, -239 und -240 sowie von Americium-241 trägt weniger als ein Prozent bei.

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß einige Bevölkerungsgruppen mit Schilddrüsendosen um 1000 Millisievert und mit effektiven Dosen um 100 Millisievert belastet wurden; einzelne Personen waren teilweise einer weitaus höheren Dosis ausgesetzt. Trotz Gegenmaßnahmen gibt es noch immer Dörfer mit mittleren jährlichen Strahlenexpositionen von fünf Millisievert. Somit erhielten Bevölkerungsgruppen durch den Reaktorunfall von Tschornobyl innerhalb relativ kurzer Zeit effektive Dosen, die größer sind als die während der Lebenszeit akkumulierte natürliche Dosis. Schilddrüsendosen lagen sogar um eine Größenordnung darüber. (Weltweit wie auch in Deutschland beträgt die mittlere effektive Dosis von Erwachsenen durch natürliche Strahlung 2,4 Millisievert pro Jahr. Regionale Schwankungen sind hauptsächlich auf unterschiedliche Konzentrationen des Gases Radon in den Häusern zurückzuführen; je nach Wohnort betragen in Deutschland die effektiven Dosen zwischen 1,5 und 5 Millisievert pro Jahr.)


Schilddrüsenkrebs

Die Inzidenz von spontanem Schilddrüsenkrebs ist bei kleinen Kindern gering. Den vier größten Registern (für die USA, Kanada, die frühere DDR sowie für England und Wales) zufolge traten je Million Kinder unter zehn Jahren von 1983 bis 1987 nur 0,1 bis 0,8 Fälle pro Jahr auf. Für ältere Kinder hingegen nimmt die Inzidenz zu. So beträgt sie für 15- bis 20jährige in England und Wales drei und in den USA 20 Fälle je Million Kinder und Jahr. Weil nach dem Reaktorunfall von Tschornobyl die höchsten Schilddrüsenexpositionen bei kleinen Kindern beobachtet wurden, ist darum für diese Kohorte die stärkste Erhöhung der Inzidenz zu erwarten.

In der Ukraine und in Belarus bestehen zentrale Register für die Schilddrüsenkrebsfälle von Personen, die zur Zeit des Tschornobyl-Unfalls Kinder waren. In Belarus wurde 1989 beginnend ein linearer Anstieg beobachtet. Traten in jenem Jahr in der Kohorte der zum Unglückszeitpunkt 0- bis 14jährigen sieben Fälle neu auf, waren es 1994 bereits 116 (insgesamt 422 seit dem Reaktorunfall); die Inzidenz stieg somit über 3,5 im Jahre 1989 auf 57 Fälle pro Million Kinder im Jahre 1994. In der Ukraine begann der Anstieg der Schilddrüsenkrebsinzidenz etwas später. Dort wurden in der Kohorte der zum Zeitpunkt des Unfalls 0- bis 18jährigen im gleichen Zeitraum 537 Fälle beobachtet. Für den Bezirk Brjansk in Rußland wurden mittlerweile 60 Fälle berichtet.

Diese Häufung ist nur teilweise durch das Älterwerden der jeweiligen Kohorten zu erklären. Es ist anzunehmen, daß der überwiegende Teil der mehr als 1000 Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern in ursächlichem Zusammenhang mit dem Tschornobyl-Unfall steht. Ein weiteres Indiz dafür ist, daß in der Ukraine und in Belarus die Inzidenz in den höher kontaminierten Gebieten stärker stieg als im Landesdurchschnitt.

Es gibt gegenwärtig mehrere bilaterale Projekte zwischen westlichen Staaten einerseits sowie der Ukraine und Belarus andererseits zur humanitären und medizinischen Hilfe bei diesen Fällen. Man sucht die Dosis zu rekonstruieren, um die noch vagen Prognosen für den weiteren Verlauf der Schilddrüsenkrebsinzidenz zu präzisieren und das Wissen über Strahlenrisikofaktoren zu verbessern.


Andere Gesundheitseffekte

Außer über die beobachteten Schilddrüsentumoren wurde über die unterschiedlichsten Gesundheitseffekte in der Bevölkerung durch den Reaktorunfall von Tschornobyl berichtet (vergleiche den voranstehenden Artikel). Die Strahlenschutzexperten hatten am ehesten eine Erhöhung der Leukämiefälle erwartet, doch konnte dies, wie eine kürzlich veröffentlichte Analyse der Krebsinzidenzdaten in der Ukraine und in Belarus zeigt, nicht bestätigt werden. Die berichteten Gesundheitseffekte sind überwiegend Krankheiten, die in anderen Kohorten strahlenexponierter Personen wie den Überlebenden der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki nicht beobachtet wurden. Eine endgültige Entscheidung über die berichtete Häufung dieser Krankheiten und einen Zusammenhang mit dem Tschornobyl-Unfall muß künftigen epidemiologischen Studien und statistischen Analysen überlassen bleiben.

Literaturhinweise


– 10 Jahre nach Tschernobyl. Information der Strahlenschutzkommission zu den radiologischen Auswirkungen und Konsequenzen insbesondere in Deutschland. Berichte der Strahlenschutzkommission des Bundesministeriums für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, Heft 4. Gustav Fischer Verlag, Stuttgart 1996.

– The Radiological Consequences of the Chernobyl Accident. Report EUR 16544. Europäische Kommission, Brüssel 1996.

– Analysis of the Effectiveness of Emergency Countermeasures in the 30-km-Zone During the Early Phase of the Chernobyl Accident. Von I. A. Likhtarev, V. V. Chumak und V. S. Repin in: Health Physics, Band 67, Seiten 541 bis 544, 1994.

– Thyroid Cancer in the Ukraine. Von I. A. Likhtarev und anderen in: Nature, Band 375, Seite 365, 1. Juni 1995.

– Tschernobyl. Katastrophe und Langzeitfolgen. Von R. Koepp und T. Koepp-Schewyrina. B. G. Teubner, 1996.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 5 / 1996, Seite 90
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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