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Michael P. Murphy und Luke A. J. O’Neill (Herausgeber):: Was ist Leben? Die Zukunft der Biologie.

Aus dem Englischen von Susanne Kuhlmann-Krieg,
Juliane Meyerhoff, Ina Raschke und Michael Stöltzner.
Spektrum Akademischer Verlag, Heidelberg 1997. 208 Seiten, DM 48,–.

Erwin Schrödinger (1887 bis 1961) – der Name ist jedem Physikstudenten durch die Schrödinger-Gleichung bekannt und jedem Österreicher durch sein Konterfei auf dem (alten) Tausendschillingschein. Schrödinger war Physiker. Ein Physiker entwirft physikalische Gleichungen, Lichtjahre entfernt von den wirklichen Problemen des Lebens, und experimentiert gelegentlich. Macht er seine Sache gut, bekommt er den Nobelpreis (wie Schrödinger 1933), und die Nation ist stolz auf ihn.

Wenn nun ein solcher Physiker auch einen Gedichtband schreibt – eine Marotte vielleicht? Wenn er sich zur Philosophie äußert und zur Biologie – eine andere Marotte? Jedenfalls begibt er sich in ernsthafte Gefahr, sich lächerlich zu machen oder – wahrscheinlicher – als Ketzer und Wilderer auf fremden Erbhöfen angeklagt zu werden. So kleinkariert ist heute allzuoft die big science.

Nun hat sich die Geschichte, die Anlaß zu vorliegendem Buch gab, bereits einige Jahre vor dem Aufkommen des Wissenschaftsbetriebs im heutigen Maßstab abgespielt: Im Februar 1943, während seiner Dubliner Zeit, hielt Schrödinger eine Vorlesung mit dem Titel „What is Life?“. Aber schon damals war diese Wortmeldung aus dem Munde eines Physikers eine Provokation, und die Reaktionen reichten von Entrüstung bis Begeisterung. Um sich selbst ein Bild machen zu können, muß man – soweit es eben geht – Schrödinger kennenlernen.

Deswegen wird der eigentliche Inhalt des Büchleins durch zwei Beiträge umrahmt. Am Ende stehen „Erinnerungen“ seiner Tochter Ruth Braunizer, die es – im Rahmen eines Gesellschafts- und Kulturbildes jener Zeit – meisterhaft versteht, die Geistes- und Empfindungswelt eines Erwin Schrödinger erahnen zu lassen. Ein wundervoller Beitrag, den man zuerst lesen sollte. Den Anfang macht eine kurze historische Darstellung samt Inhaltsangabe des Buches durch die Herausgeber, die Biochemiker Michael P. Murphy von der Universität von Otago in Dunedin (Neuseeland) und Luke A. J. O’Neill vom Trinity College in Dublin (Irland).

Im Zentrum der Betrachtungen Schrödingers zur Biologie stehen zwei Themen: das Wesen der Vererbung („Ordnung aus Ordnung“, Information und Kommunikation) und die Thermodynamik lebender Wesen („Ordnung aus Unordnung“, thermodynamisches Ungleichgewicht). „In What is Life? waren die Grübeleien eines Physikers nachfolgenden Wissenschaftlergenerationen eine Inspiration“, schreiben Murphy und O’Neill. „In diesem Geiste wollten wir an Erwin Schrödingers wichtige Vortragsreihe von vor 50 Jahren erinnern. Wir haben zu diesem Anlaß eine Reihe von Beiträgen zusammengestellt, in denen Wissenschaftler ihre Spekulationen über die Zukunft der Biologie anstellen. Viele der hier vertretenen Ideen mögen sich am Ende als falsch erweisen; doch wir sind der Ansicht, daß diese Art von Erkundungsgeist die beste ist.“

Der so motivierte Leser wird angenehm überrascht schon durch die Themenvielfalt des schmalen Bandes – kein Sammelsurium, sondern eine Fundgrube! Die Reihe der Beiträge beginnt mit einem hervorragenden Aufsatz von Manfred Eigen vom Göttinger Max-Planck-Institut für biophysikalische Chemie, einer Art Bestandsaufnahme und Zukunftsperspektive mit Ausflug in die Ethik Immanuel Kants (1724 bis 1804). Diese ist untrennbarer Bestandteil des Themas für eine Gesellschaft, deren Mitglieder (angeblich) nicht nur das Vertrauen in die Technik verloren, sondern statt dessen Angst vor ihren Nebenwirkungen und ihrem Mißbrauch entwickelt haben – nicht gänzlich zu Unrecht, aber wohl doch zu einseitig. „Die Zukunft der Menschheit wird“, so Eigen, „nicht auf der genetischen Ebene entschieden. Wir brauchen eine für alle Menschen verbindliche Ethik“, die den Mißbrauch aller Technik – im Sinn von Anwendungen aller Wissenschaften – ächtet.

Man könnte daran denken, den Mißbrauch abzuschaffen, indem man die Technik selbst abschafft; aber abgesehen von der Irrealität dieses auch heute oft wiederholten Gedankens ist Technik zum Leben notwendig. Es bleibt also wirklich nichts übrig als eine Ethik (das ist weit mehr als eine politische Kontrollinstanz), und die setzt ein Verstehen der Technik – mehr: ein Verstehen der zugrundeliegenden Naturtatsachen – voraus.

Nichts anderes haben Wissenschaftler aller Gebiete über Jahrhunderte angestrebt. Die dabei angesammelte Fülle von Erkenntnissen wäre im Laufe der Zeit unübersehbar und damit unbrauchbar geworden, wäre es ihnen nicht gleichzeitig gelungen, wenigstens die meisten Gesetzmäßigkeiten in einer Art Über-Theorie, in einem Prinzip zu vereinen. Dieses Vorgehen hat – trotz einzelner Fehlschläge, versteht sich – insgesamt die wissenschaftlichen Methoden so mächtig gemacht, daß sie weit in ihre Nachbargebiete hineinwirken konnten; das gilt auch für die Quantenmechanik mit ihrem Herzstück, der Schrödinger-Gleichung.

Kann man daraus folgern, daß eine universelle Theorie (theory of everything) existiert? Werner Heisenberg (1901 bis 1976; Nobelpreis für Physik 1932) hat Jahre seines Lebens vergeblich nach einer „Weltformel“ gesucht. Der Wiener theoretische Physiker Walter Thirring greift diesen Gedanken auf und mahnt zu Vorsicht und Bescheidenheit – wie sich das gehört. Es ist ja mit der „Urformel“ wie mit der Suche nach der absoluten Wahrheit. Aber als Arbeitsschema für interdisziplinäre Probleme ist derartiges Komprimieren prädestiniert, wenn nicht gar als einziges praktikabel.

Das geht nicht ohne oft schwer verständliche Abstraktion ab. Damit wächst die Gefahr, daß Vertreter verschiedener Fächer mangels Verständnis aneinander vorbeireden. So deutet der Paläontologe Stephen J. Gould Schrödingers Aussage, „daß wir erst jetzt beginnen, verläßliches Material zu sammeln, um unser gesamtes Wissensgut zu einer Einheit zu verbinden“, als Streben nach einer reduktionistischen Einheitswissenschaft „mit einer Tendenz zur Normierung in einer Welt von solch wundervoller Vielfalt“.

Hier kommt Zündstoff in die Diskussion. Aber man sollte Schrödingers Aussage eher so verstehen: Zwischen Physik, Chemie und Biologie bestehen so enge Beziehungen, daß man sie als Ganzes betrachten muß. Dabei liefern Erscheinungen wie Chaos und selbstorganisierte Musterbildung eine „Basis für das Verständnis der Organismen und ihrer Beziehung zu der Umgebung“, wie die Physiker Hermann Haken aus Stuttgart und Scott Kelso aus Baton Rouge (Florida) sie diskutieren. Und makroskopisches Chaos, dessen Unvorhersagbarkeit durch zeitlich wiederkehrende Entscheidungspunkte charakterisiert ist, gibt der Paläontologie ihre Daseinsberechtigung als historische Wissenschaft zurück.

Man muß also keineswegs Schrödingers Gedanken in die Schubladen damaliger Meinungsströmung ablegen. Aber man darf, denn solche Schubladen spiegeln die Kultur ihrer Zeit wider und liefern damit neue Aspekte und Querverbindungen.

Die Themenvielfalt des Buches ist viel größer, als ich andeuten kann. Ich möchte auch allen Interessierten die Spannung nicht verderben, sondern einfach die Lektüre empfehlen. Das Lesevergnügen wird nirgends durch sprachliche Holpersteine getrübt. Das ist nicht mehr selbstverständlich – ein Kompliment den Übersetzern.



Aus: Spektrum der Wissenschaft 6 / 1998, Seite 104
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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