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Was vor dem Urknall geschah

Das Weltall birgt offenbar weniger Materie – und expandiert darum schneller –, als die herkömmliche Theorie der Inflation vorhersagt. Doch das Modell der offenen Inflation vermag die neuen Beobachtungen zu erklären.

Die Kosmologie hat den Ruf, eine schwierige Wissenschaft zu sein. Dabei ist es in vielerlei Hinsicht einfacher, das gesamte Universum zu verstehen als ein einzelliges Lebewesen. Denn auf kosmischer Skala sind Sterne, Galaxien und sogar Galaxienhaufen vernachlässigbar kleine Abweichungen von einer ansonsten gleichförmigen Materieverteilung, und die einzige Kraft von Bedeutung ist die Gravitation. Auf diesen beiden Umständen basiert das Urknall-Modell, dem zufolge das Weltall vor etwa zwölf Milliarden Jahren entstanden ist und seitdem expandiert. Trotz des einfachen Ausgangspunkts ist das Modell äußerst erfolgreich: Es erklärt die Fluchtbewegung der Galaxien, die anfängliche relative Häufigkeit der leichten Elemente, die kosmische Mikrowellen-Hintergrundstrahlung sowie die Bildung von Galaxienhaufen und -superhaufen. Die Entwicklung des Kosmos vollzieht sich offenbar fast völlig unabhängig von den Details seiner Zusammensetzung. Zum Nachteil der Biologen gilt Vergleichbares selbst für die einfachsten Organismen nicht.

Aber die Urknall-Kosmologie ist nicht frei von Paradoxien. Um diese zu beseitigen, verbanden die Forscher die Kosmologie mit Ideen der Teilchenphysik und schufen die Theorie der Inflation. Doch nun gerät dieses Modell seinerseits in eine Krise, denn das Universum hat aufgrund neuester Beobachtungen eine niedrigere Materiedichte, als die Theorie zuläßt. Ist das Weltall doch komplizierter als bisher angenommen? Offenbar müssen die Theoretiker entweder eine neue exotische Energie akzeptieren, die mit der kosmologischen Konstanten zusammenhängt, oder die Theorie der Inflation komplizierter gestalten. Wir folgen in diesem Artikel dem zweiten Weg.

Genaugenommen beschreibt die Urknall-Kosmologie nicht die Entstehung der Welt, sondern nur ihre Entwicklung. Sie geht von einem extrem heißen und dichten Anfangszustand aus, der nicht weiter begründet wird. Aus einem kleinen Raumgebiet, das ausschließlich von Strahlung erfüllt war, ging demnach das gesamte von uns beobachtbare Universum hervor; es macht vielleicht nur einen winzigen Teil des gesamten Kosmos aus, denn die übrigen Bereiche sind zu weit entfernt, als daß ihr Licht Zeit gehabt hätte, uns zu erreichen.

 

Paradoxien des Anfangs

Durch die fortwährende Expansion entfernen sich die Galaxien von uns und voneinander – ähnlich wie Rosinen in einem aufgehenden Hefeteig. Die Fluchtbewegung gehorcht einer einfachen Beziehung: Je weiter eine Galaxie von der Erde (oder einem beliebigen anderen Punkt des Alls) entfernt ist, desto schneller flieht sie. Diese Regel gilt allerdings nicht unterschiedslos für alle Objekte im Universum, denn ihre gegenseitige Gravitationsanziehung wirkt der Expansion entgegen; zum Beispiel bewegen sich Erde und Sonne nicht immer weiter voneinander weg. Doch im großen und ganzen expandiert das Universum seit Jahrmilliarden mit gleicher Geschwindigkeit.

Mit fortschreitender Expansion kühlte das junge Universum ab, verdünnte sich und wurde immer komplexer. Ein Teil der Strahlung wandelte sich in die bekannten Atombausteine und andere Elementarteilchen um. Nach etwa 300000 Jahren war die Temperatur auf 3000 Grad Celsius gesunken – kühl genug, damit sich Elektronen und Protonen zu Wasserstoffatomen verbinden konnten. Dadurch wurde das Universum transparent: Die restliche Strahlung konnte sich ungehindert ausbreiten und erfüllt noch heute das All mit bestimmten Frequenzen im Mikrowellenbereich. Dieser kosmische Strahlungshintergrund ist sehr gleichmäßig; die lokalen Abweichungen betragen typischerweise nur ein tausendstel Prozent. Die Schwankungen in der anfänglichen Materieverteilung können darum nicht größer gewesen sein. Dennoch sind aus ihnen später durch weitere Verdichtung Galaxien und Galaxienhaufen hervorgegangen.

Trotz überzeugender Erfolge vermag die Standardtheorie des Urknalls einige grundlegende Fragen nicht zu beantworten. Die erste lautet: Warum ist das Universum so gleichförmig? Betrachten wir die Hintergrundstrahlung in zwei entgegengesetzten Richtungen des Himmels, so sind die beiden Quellgebiete der Strahlung jeweils rund zwölf Milliarden Lichtjahre von uns entfernt; sie haben also einen gegenseitigen Abstand von ungefähr 24 Milliarden Lichtjahren – deutlich mehr als das Weltalter in Jahren. Da sich keine Wirkung schneller als das Licht ausbreiten kann, vermochten die beiden Quellgebiete bisher weder Licht noch Materie auszutauschen. Wie konnte sich dann aber ein Materie- und Strahlungsgleichgewicht zwischen den beiden Gebieten einstellen? Irgendein Prozeß muß schon vor der Expansion für Gleichförmigkeit gesorgt haben (siehe Abbildung Seite 56); doch die Standardtheorie verrät nicht welcher.

Mit gleicher Berechtigung läßt sich umgekehrt fragen: Warum gab es überhaupt Inhomogenitäten im frühen Kosmos? Glücklicherweise waren sie da, denn ohne Keime weiterer Verdichtung wäre das Weltall heute noch genauso homogen wie am Anfang – und es gäbe weder ein Milchstraßensystem noch Sonne und Erde.

Die dritte Frage ist: Warum besitzt unser Universum eine nahezu flache Raumzeit (siehe Kasten Seite 60)? Oder anders ausgedrückt: Warum hat die kinetische Energie der kosmischen Expansion fast exakt den gleichen Betrag wie die Gravitationsenergie der gesamten Materie? Ein winziges Ungleichgewicht in der Frühphase des Urknalls hätte sich im Laufe der Zeit verstärkt. Ein kleiner Überschuß an kinetischer Energie hätte das All so schnell aufgebläht, daß es heute praktisch leer wäre. Andererseits hätte ein leichtes Übergewicht der Gravitationsenergie das Universum schon längst kollabieren lassen – und Sie könnten jetzt nicht diesen Artikel lesen.

Das Verhältnis aus Gravitations- und kinetischer Energie wird mit dem griechischen Buchstaben W (Omega) bezeichnet. Diese Größe ist proportional zur mittleren kosmischen Materiedichte, denn je mehr Materie pro Raumelement vorhanden ist, desto höher ist die Gravitationsenergie. Ist W anfangs exakt eins, so bleibt dieser Wert während der gesamten Expansion bestehen. Jede kleine Abweichung wird jedoch im Laufe der Jahrmilliarden immer größer, so daß sich W praktisch entweder null oder unendlich nähert. Da der Wert von W heute – zum Glück – weder null noch unendlich ist, darf er während des Urknalls höchstens um 10–18 von eins abgewichen sein. Die Standardtheorie liefert dafür keine Erklärung, sondern muß sich auf einen grandiosen Zufall berufen.

Solche Mängel widerlegen zwar nicht die Standardtheorie, die den Kosmos von der Phase der Protonen- und Neutronenentstehung an durchaus zutreffend beschreibt, doch sie zeigen an, daß ihr etwas fehlt. Darum entwickelten Alan H. Guth, Katsuhiko Sato, Andrei D. Linde, Andreas Albrecht und Paul J. Steinhardt Anfang der achtziger Jahre die Theorie der Inflation (siehe "Das inflationäre Universum" von Alan H. Guth und Paul J. Steinhardt, Spektrum der Wissenschaft, Juli 1984, Seite 80).

Der Preis, den die Kosmologie für das Beseitigen der Paradoxien zu zahlen hatte, war eine kompliziertere Theorie. Demnach durchlief das Universum zwischen den ersten 10–34 und 10–32 Sekunden eine Phase inflationärer Expansion, während der sein Durchmesser exponentiell auf insgesamt das 1029-fache anwuchs. Zwei beliebige Raumpunkte vergrößerten dabei ihren Abstand mit zunehmendem Tempo – schließlich sogar über die Lichtgeschwindigkeit hinaus. Dies ist keineswegs ein Widerspruch zur Speziellen Relativitätstheorie, der zufolge sich kein materieller Gegenstand schneller als Licht zu bewegen vermag: Während der Inflation expandierte der Raum selbst mit Überlichtgeschwindigkeit, und die darin ruhende Materie wurde mitgerissen.

Die Inflation erklärt die Gleichförmigkeit des beobachteten Universums, denn vor der exponentiellen Expansion war sein Volumen klein genug zur Etablierung eines Gleichgewichtszustands. Erst im Laufe der Inflation verloren einst zusammenhängende Gebiete ihre Verbindung. Später wiederum vermochte das Licht die langsamere Standard-Expansion gleichsam zu überholen und Informationen zwischen vordem separaten Gebieten zu übertragen.

Die geringen Inhomogenitäten der Hintergrundstrahlung erklärt die Theorie durch Quantenfluktuationen, die durch die Inflation auf makroskopische Größe anschwollen; solch mikrophysikalische Fluktuationen sind eine Folge der Heisenbergschen Unbestimmtheitsrelation.

Schließlich erklärt die Inflation, warum unser Universum kaum eine Krümmung seiner Raumzeit aufweist: Egal wie seine Geometrie zuvor aussah, die Inflation blähte sie zu gigantischer Größe auf. Unser beobachtbares Universum umfaßt nur einen sehr kleinen Teil davon. Und wie uns die Erdoberfläche, wenn wir auf ihr stehen, eben erscheint, so ist der von uns überschaubare Teil der Raumzeit fast nicht gekrümmt.

Um die exponentielle Expansion zu erklären, führt die Inflationstheorie in die Kosmologie eine quantenfeldtheoretische Komponente ein: das sogenannte Inflaton-Feld. Unter Feld verstehen die Physiker eine Funktion von Ort und Zeit, die – wie beispielsweise das elektromagnetische oder das Gravitationsfeld – für die Übermittlung einer Kraft verantwortlich ist. Aus Sicht der modernen Physik besteht die gesamte materielle Welt aus Quantenfeldern, und Elementarteilchen sind lediglich bestimmte Schwingungszustände darin.

Das Inflaton-Feld wirkt gewissermaßen wie eine "Anti-Schwerkraft", die den Raum dehnt. Einem bestimmten Inflaton-Wert entspricht eine potentielle Energie. Ähnlich wie eine Kugel, die in einer Mulde herabrollt, sucht das Inflaton-Feld den tiefstmöglichen Potentialwert einzunehmen (siehe Kasten auf der folgenden Doppelseite). Doch die Expansion des Universums erzeugt eine Art kosmologische Reibung, die das Herabrollen in die Potentialmulde hemmt. Solange die Reibung dominiert, kommt das Inflaton-Feld sozusagen kaum voran: Sein Wert bleibt fast konstant, und deshalb nimmt die Antigravitation relativ zur Gravitation, die sich aufgrund der Expansion verringert, an Stärke zu. Dadurch wiederum beschleunigt sich die Ausdehnung des Alls immer mehr – bis das Inflaton-Feld schließlich doch schwächer wird und seine Restenergie in Strahlung umwandelt. Danach geht die Expansion unbeschleunigt weiter, gemäß dem Standard-Szenario des Urknalls.

 

Kosmische Blasen

Nach der konventionellen Inflationstheorie müßte das beobachtbare Universum, das ja nur einen winzigen Teil des Kosmos umfaßt, eine extrem flache Raumzeit aufweisen und nahezu perfekt homogen sein. Die beobachtete Abweichung des Dichteparameters W von eins darf demnach nicht stärker ausfallen als die im Mikrowellenhintergrund beobachteten Fluktuationen von einem tausendstel Prozent. Dies galt während der vergangenen zwanzig Jahre als zwangsläufige Vorhersage der Theorie.

Und genau da liegt das Problem. Die Beobachtungen von Galaxienhaufen und fernen Supernovae weisen auf eine Materiedichte hin, die einem W von nur etwa 0,3 entspricht – und somit einem offenen Universum. Die konventionelle Inflationstheorie ließe sich nur retten, wenn eine zusätzliche Energieform, die mit einer kosmologischen Konstanten verbunden sein könnte, für einen Gesamtwert von W gleich eins sorgt. In diese Richtung deuten die Supernova-Beobachtungen (siehe den Artikel in diesem Heft auf Seite 40). Doch bevor man etwas so Schwerwiegendes macht, wie eine neue Naturkonstante einzuführen, sollten die Beobachtungen zunächst fortgesetzt und sorgfältig auf mögliche Fehlerquellen hin überprüft werden.

Ist das Universum aber tatsächlich offen, so gibt es zwei Möglichkeiten: Erstens könnte die Inflationstheorie völlig falsch sein. Aber dann würden die schwerwiegenden Paradoxien erneut auftauchen und eine völlig andere Theorie erfordern – doch eine solche zeichnet sich nirgends ab. Zweitens läßt sich fragen, ob die Inflation tatsächlich notwendigerweise zu einer flachen Raumzeit führt. Könnte nicht vielleicht eine erweiterte, komplexere Inflationstheorie ein W kleiner als eins erlauben?

Diesen zunächst wenig beachteten Ansatz verfolgten Anfang der achtziger Jahre Sidney R. Coleman und Frank de Luccia von der Harvard-Universität in Cambridge (Massachusetts) sowie J. Richard Gott III. von der Universität Princeton (New Jersey). Kürzlich hat ihn einer von uns (Bucher) weiterentwickelt – zusammen mit Neil G. Turok, inzwischen an der Universität Cambridge (England), und Alfred S. Goldhaber von der State University of New York in Stony Brook sowie Misao Sasaki und Takahiro Tanaka, inzwischen an der Universität Osaka, und Kazuhiro Yamamoto von der Universität Kioto. Auch Andrei Linde von der Universität Stanford (Kalifornien) hat konkrete Modelle und Erweiterungen dieser Ideen vorgeschlagen.

Hätte die potentielle Energie des Inflaton-Feldes eine andere Form, dann könnte die Inflation tatsächlich zu einer leicht gekrümmten Raumzeit geführt haben. Angenommen, die potentielle Energie weise neben dem Hauptminimum noch ein "falsches" Nebenminimum auf (siehe Kasten auf dieser Seite): Während das Inflaton-Feld längs der Potentialkurve abwärts rollt, expandiert das Universum und wird gleichförmig. Doch dann bleibt das Feld im Nebenminimum hängen. Die Physiker nennen diesen Zustand "falsches Vakuum": Nahezu die gesamte Materie und Strahlung im Kosmos wird von der Energie des Inflaton-Feldes aufgesogen. Durch Quantenfluktuationen schwankt das Inflaton-Feld um seinen "falschen" Minimalwert, bis es irgendwann daraus zu entkommen vermag – wie eine im Flipperautomaten hängengebliebene Kugel, die durch vorsichtiges Rütteln befreit wird.

Diese Befreiung, der sogenannte Zerfall des falschen Vakuums, geschieht nicht überall gleichzeitig, sondern zunächst an irgendeinem zufälligen Ort. Der Vorgang gleicht dem Sieden von Wasser: Am Siedepunkt geht es nicht überall gleichzeitig in den Dampfzustand über. Zunächst bilden sich aufgrund der Zufallsbewegung der Wassermoleküle nur hier und da kleine Bläschen; unterhalb einer bestimmten Minimalgröße fallen sie aufgrund der Oberflächenspannung wieder zusammen. Nur bei größeren Blasen überwindet der Dampfdruck die Oberflächenspannung, und sie wachsen mit der Geschwindigkeit des Schalls in Wasser.

Beim Zerfall des falschen Vakuums spielen Quantenfluktuationen die Rolle der zufälligen Molekülbewegungen. So entstehen Blasen echten Vakuums, von denen die meisten aufgrund der Oberflächenspannung wieder kollabieren. Doch einige wachsen, bis die Quantenfluktuationen ihnen nichts mehr anhaben können; nun nimmt ihr Radius ungehemmt zu, das heißt mit Lichtgeschwindigkeit. Passiert die Außenwand einer Blase einen Raumpunkt, so schubst sie dort das Inflaton-Feld aus dem falschen Minimum, und es setzt seinen Abstieg zum Hauptminimum fort. Danach verhält sich das Innere der Blase im großen und ganzen gemäß der konventionellen Inflationstheorie. Das Blaseninnere entspricht unserem Universum, und der Augenblick, in dem das Inflaton-Feld aus dem falschen Minumum ausbricht, entspricht dem Urknall in den älteren Modellen.

Der wichtigste Unterschied zur konventionellen Inflationstheorie ist, daß der Urknall nicht überall gleichzeitig einsetzt, sondern – je nach Abstand vom Ursprung der Blase – zu unterschiedlichen Zeiten. Für diesen höchst seltsamen Umstand ist das Inflaton-Feld verantwortlich. Es wirkt wie eine Uhr: Sein Wert an einem bestimmten Punkt gibt die Zeit an, die dort seit dem Urknall verstrichen ist. Am Rand der Blase ist der Inflaton-Wert am größten, im Zentrum am kleinsten. Mathematisch ausgedrückt bilden die Punkte der Raumzeit, an denen das Feld einen konstanten Wert annimmt, einen hyperbolisch gekrümmten dreidimensionalen Raum (siehe Kasten auf dieser Seite).

Der Inflaton-Wert ist keine bloße Abstraktion. Er legt die fundamentalen Eigenschaften des Universums innerhalb der Blase fest: die mittlere Dichte sowie die Temperatur der kosmischen Hintergrundstrahlung von gegenwärtig 2,7 Kelvin. Längs einer hyperbolischen Fläche sind Dichte, Temperatur und verstrichene Zeit konstant. Diese Flächen sind das, was ein Beobachter innerhalb der Blase als konstante "Zeit" wahrnehmen würde. Sie ist von der außerhalb der Blase erlebten Zeit verschieden. Daß die Zeit vom Beobachterstandpunkt abhängt, widerspricht zwar unserer Alltagserfahrung, folgt aber aus der Allgemeinen Relativitätstheorie.

Von innen erscheint ein Blasenuniversum hyperbolisch: Wenn wir in den Raum hinaus reisen, bewegen wir uns auf einer Hyperbel. Schauen wir in der Zeit rückwärts, so blicken wir zur Wand der Blase. Im Prinzip könnten wir über die Blase hinaus und vor den Urknall zurück schauen, doch das dichte, undurchsichtige frühe Universum würde die Sicht versperren.

Durch diese Eigenheiten von Raum und Zeit paßt ein ganzes hyperbolisches Universum mit unendlichem Volumen in eine expandierende Blase, deren Volumen stets endlich bleibt. Der Raum innerhalb der Blase ist ein hyperbolischer Schnitt durch die außerhalb der Blase erfahrbare Raumzeit. Weil die äußere Zeit unendlich ist, ist der innere Raum ebenfalls unendlich.

 

Gefangen im Blasenuniversum

Das scheinbar bizarre Modell einer Vielzahl von Blasenuniversen ermöglicht, daß die Inflation nicht mehr zwangsläufig ein flaches Universum zur Folge hat: W muß nicht unbedingt gleich eins sein. Vielmehr entwickelt sich in der Blase ein hyperbolisch gekrümmter Raum, bei dem die Stärke der Krümmung von den Details des Inflaton-Potentials abhängt. Zudem ändert sich die Krümmung im Laufe der Zeit, abhängig vom aktuellen Wert von W: Anfangs hat W im Inneren der Blase den Wert null, dann wächst es während der Inflation an, bis sein Wert sich eins annähert.

Der hyperbolische Raum beginnt also mit einem scharfen Knick und wird mit der Zeit immer flacher. Das Inflaton-Potential bestimmt, wie rasch dieser Prozeß abläuft und wie lange er andauert. Schließlich hört die Inflation auf, und W hat zu diesem Zeitpunkt einen Wert sehr knapp unterhalb eins. Danach nimmt W wieder ab. Je nachdem, wie lange die Inflation gedauert hat, stellt sich schließlich in unserer Epoche ein gewisser Wert von W ein. So vermag die erweiterte Inflationstheorie jeden beobachteten Wert von W zu reproduzieren.

Auf diese Weise sind Gleichförmigkeit und Geometrie des Universums nicht mehr notwendig miteinander verknüpft, sondern können aus unterschiedlichen Stadien der Inflation hervorgehen: Die Gleichförmigkeit resultiert aus der Inflation vor Entstehung der Blase; die Geometrie entsteht durch Inflation innerhalb der Blase. Darum legt in dem erweiterten Modell die Gleichförmigkeit nicht die Dauer der Inflation fest; diese währt gerade so lange, daß die Hyperbeln die gewünschte Flachheit annehmen.

Die Kosmologen hatten die konventionelle Inflationstheorie eingeführt, um zu beschreiben, was vor der normalen Expansionsphase geschah. Die erweiterte Theorie – die sogenannte offene Inflation – fügt eine weitere Epoche vor der konventionellen Inflationsphase hinzu. Um die ursprüngliche Schöpfung des Kosmos zu beschreiben, müssen die Forscher sogar noch tiefer in die Vergangenheit vorstoßen (siehe Kasten Seite 61).

Das Blasenuniversum hat eine Reihe interessanter Eigenschaften. So könnte ein exotischer Raumfahrer zwar theoretisch von außen in unsere Blase eindringen, doch der Rückweg wäre ihm (und uns) versperrt, denn dazu müßte er sich schneller als Licht bewegen. Zudem ist unser Universum nur eine unter unendlich vielen Blasen in einem riesigen Meer aus immerfort expandierendem falschem Vakuum. Falls zwei Blasen kollidierten, würde ihre Berührung eine kosmische Explosion auslösen, die in der Nähe des Berührungspunktes innerhalb beider Blasen eine gigantische Zerstörungskraft entwickelte. Doch da sich überhaupt nur extrem selten Blasen bilden, sind solche Katastrophen äußerst unwahrscheinlich. Und selbst wenn sich eine ereignen sollte, hätte sie auf den größten Teil des Blasenvolumens keinen Einfluß. Aus sicherer Entfernung würden Beobachter im Blaseninneren lediglich ein sehr heißes Gebiet im Mikrowellenhintergrund wahrnehmen.

Wie läßt sich die erweiterte Inflationstheorie testen? Daß sie das Konzept der Inflation mit einem offenen Universum verbindet, reicht zu ihrer Rechtfertigung nicht aus. Die Kosmologen brauchen quantitative Vorhersagen, die sich durch astronomische Beobachtungen überprüfen lassen. Spezifische Effekte der offenen Inflation sind 1994 von den beiden Gruppen errechnet worden, welche die erweiterte Inflationstheorie ausgearbeitet haben, sowie von Bharat V. Ratra und P. James E. Peebles von der Universität Princeton (New Jersey).

Das konventionelle wie das erweiterte Inflationsmodell treffen bestimmte Vorhersagen aufgrund von Quanteneffekten, die zu einer örtlich etwas unterschiedlichen Inflation führten. Nach dem Ende der Inflation muß sich die Restenergie des Inflaton-Feldes in gewöhnliche Strahlung verwandelt haben – quasi der Treibsatz für die anschließende Urknall-Expansion. Weil die Inflationsdauer von Ort zu Ort variierte, schwankte auch die Restenergie und somit die Strahlungsdichte.

Die kosmische Hintergrundstrahlung ist eine Momentaufnahme dieser Schwankungen. Sie wird bei der offenen Inflation nicht nur von den Fluktuationen beeinflußt, die sich innerhalb des Universums entwickeln, sondern auch von solchen, die außerhalb der Blase entstehen und sich nach innen ausbreiten. Weitere Inhomogenitäten werden von der nicht perfekten Symmetrie des Blasenkeims verursacht. Derlei Unterschiede zur konventionellen Inflation sollten sich in der Hintergrundstrahlung vor allem auf großen Skalen bemerkbar machen. Gewissermaßen erlauben uns diese Strukturen einen Blick über die Grenzen unseres Blasenuniversums hinaus. Wie außerdem kürzlich einer von uns (Spergel) – zusammen mit Marc Kamionkowski, der inzwischen an der Columbia-Universität in New York arbeitet, und Naoshi Sugiyama von der Universität Tokio – herausgefunden hat, sollte die offene Inflation auch rein geometrische Effekte mit sich bringen (siehe Kasten auf Seite 60).

Bei der bisher erreichbaren Präzision ließ sich in der Hintergrundstrahlung noch kein Unterschied zwischen den Vorhersagen der beiden Inflationsmodelle beobachten. Der Augenblick der Wahrheit könnte Ende nächsten Jahres kommen, wenn die US-amerikanische Luft- und Raumfahrtbehörde NASA wie geplant ihren Satelliten MAP (Microwave Anisotropy Probe) in die Umlaufbahn schicken wird. Von 2007 an will die europäische Raumfahrtagentur ESA mit ihrem Satelliten namens Planck noch höhere Meßgenauigkeit erreichen. Beide Satelliten werden ähnliche Messungen durchführen wie COBE (Cosmic Microwave Background Explorer) vor fast zehn Jahren, aber mit viel höherer Auflösung. Damit sollte sich entscheiden lassen, welches Modell nun stimmt: entweder das mit einer kosmologischen Konstanten oder das mit offener Inflation. Vielleicht paßt auch keines von beiden. Dann würden die Theoretiker buchstäblich wieder ganz von vorn anfangen müssen – mit neuen Ideen für den Beginn des Universums.


Aus: Spektrum der Wissenschaft 3 / 1999, Seite 54
© Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH

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