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Hirschhausens Hirnschmalz: Des Menschen Pille ist sein Himmelreich

Unser Kolumnist Eckart von Hirschhausen findet: Wer sich die Richtlinien für Waschzettel ausgedacht hat, dem sollte man mal den Kopf waschen und dann klein zusammenfalten.
Eckart von Hirschhausen

"Zu Risiken und Nebenwirkungen lesen Sie die Packungsbeilage und fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker." Diesen Satz kennt jeder, doch was bedeutet er praktisch? Interessant ist das "und": Der Gesetzgeber geht offenbar davon aus, dass man sowohl liest als auch spricht. Weil aber der Arzt oft keine Zeit hat, um ausführlich über Medikamente zu plaudern, bleibt es bei der Lektüre. Und zack – schon hat man das Gefühl, ein extrem gefährliches Präparat in Händen zu halten. Experten schätzen, dass rund die Hälfte aller verordneten Arzneimittel nie eingenommen wird. Eine Verschwendung von fast 20 Milliarden Euro pro Jahr!

Eine australische Forschergruppe wollte wissen, ob die Warnung vor Nebenwirkungen selbst schon schädlich sein kann. Unter dem Vorwand, ein neues Medi­kament zu testen, suchten sie Studierende mit Schlaf­störungen. Die vermeintliche Wunderpille war ­allerdings ein Placebo, also ohne Wirkstoff. Die Hälfte der Probanden erhielt die Information, das Mittel verändere möglicherweise den Appetit: Manche lasen den Hinweis, dass ihr Hunger ansteigen könnte, andere die gegenteilige Aussage. Die Kontrollgruppen bekamen keine solche Warnung oder schluckten erst gar nichts.

Was denken Sie: Medikamente sollten gemäß dem hippokratischen Eid eher nutzen als …?

  1. A) schaden.
  2. B) abnutzen.
  3. C) ausnutzen.
  4. D) nutznießen.

Das erste Ergebnis: Placebos wirken! Die rote Zuckerpille ließ die meisten Teilnehmer besser einschlafen. Und die Nebenwirkungen? Ob der Appetit nach eigener Einschätzung zu- oder abnahm, hing tatsächlich vom Hinweistext ab. Rund 40 Prozent der Teilnehmer erlebten das, was sie erwarteten – kein einziger jedoch das Gegenteil dessen, was auf der Packungsbeilage stand.

Enthält der Waschzettel also lauter selbsterfüllende Prophezeiungen? Die an sich sinnvolle Aufklärung kann offenbar einen "Nocebo"-Effekt hervorrufen. Unterstützt wird das von der verwirrenden Sprache. Im "Deutschen Ärzteblatt" wurden Ärzte, Apotheker und Juristen einmal gefragt, was sie eigentlich unter "häufig" oder "selten" verstehen. Und siehe da, selbst die Profis meinen damit etwas völlig anderes, als die europäische Richtlinie für Patienteninformationen vorgibt. "Häufig" ist darin definiert als ein bis zehn Prozent. Wenn 100 Leute das Mittel nehmen, sollte also bei maximal zehn Personen die entsprechende Nebenwirkung auftreten, vielleicht auch nur bei einer. Im normalen Sprachgebrauch ist "häufig" aber viel häufiger! Die Fachleute ver­standen darunter, dass 75 von 100 Menschen eine Neben­wirkung zu erwarten hätten. "Selten" bedeutet offiziell einer von 1000 bis einer von 10 000, umgangssprachlich denkt man aber an einen von 20. Würde man die letzte Bundestagswahl in der Sprache von Packungsbeilagen beschreiben, wäre die FDP "häufig" gewählt worden! So weit gehen gefühlte und reale Statistik auseinander.

Bevor Sie aus Angst vor Nebenwirkungen ein Medikament wegwerfen, sprechen Sie besser wirklich mit ­Ihrem Arzt oder Apotheker. Wenn das Mittel im konkreten Fall sinnvoll ist, überwiegt der Nutzen – und Sie schaden sich stärker, wenn Sie es nicht einnehmen. Oder Sie hätten es von Anfang an nicht gebraucht. Alles, was effektiv ist, hat erwünschte und unerwünschte Effekte. Falls also jemand behauptet, seine Heilmethode hätte überhaupt keine Nebenwirkungen, liegt das meist daran, dass sie auch keine Hauptwirkung hat.

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