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Alte DNA: Wie das genetische Erbe die Europäer bis heute prägt

Vor allem drei große Einwanderungswellen prägten das Genom der Europäer. Doch Genvarianten, die einst von Vorteil waren, erhöhen heute das Risiko, beispielsweise an multipler Sklerose zu erkranken.
Illustration zur Einwanderung der Steppenhirten vor 5000 Jahren.
Viehhirten, die vor zirka 5000 Jahren mit Pferden und Wagen aus der pontischen Steppe nach Europa kamen, brachten ihr genetisches Erbe mit. Die Illustration ist auf alt gemacht, stammt aber aus dem Jahr 2024.

Wie kam das genetische Erbe der Europäer zu Stande? Formte es sich durch Vermischung vieler Einwanderer, die in den vergangenen Jahrzehntausenden auf den Kontinent gekommen waren? Oder wurde es durch Anpassung an die örtlichen Lebensumstände geprägt, also durch natürliche Selektion? Welche Genvarianten von einst haben sich in Europa durchgesetzt, und in welchen Regionen jeweils? Erhöhen sie heute das Risiko, zu erkranken – etwa an multipler Sklerose, Alzheimer oder Diabetes? Um diese Fragen zu klären, hat ein großes Forschungsteam mehr als 1600 menschliche Genome aus einem Zeitraum von rund 10 000 Jahren analysiert. Die gewonnenen Daten legen nahe, dass bereits Menschen, die während der Vorgeschichte nach Europa einwanderten, bestimmte vererbbare Merkmale hatten, die uns noch heute prägen – etwa ein erhöhtes Risiko für multiple Sklerose. Das Erbgut der Europäer wurde demnach maßgeblich in den zurückliegenden 45 000 Jahren geprägt, insbesondere durch drei Einwanderungswellen.

Die Arbeitsgruppe um Eske Willerslev von der Universität Kopenhagen hat ihre Ergebnisse nun in vier Artikeln im Fachblatt »Nature« veröffentlicht.

Laut den Studien gehen zahlreiche Genvarianten, die in Europa regional unterschiedlich stark ausgeprägt sind, auf vorgeschichtliche Einwanderer und ihre Ansiedlung in Europa zurück. Dies widerspricht der Annahme, genetische Unterschiede zwischen den Europäern seien vor allem dadurch entstanden, dass sich die Menschen evolutionär an örtliche Bedingungen angepasst hätten.

Die Forschungsergebnisse seien »eine Meisterleistung«, urteilt Lluís Quintana-Murci vom Institut Pasteur in Paris, der nicht an der Studie beteiligt war. Die Erkenntnisse würden neue Einsichten dazu liefern, wie die Herkunft vorgeschichtlicher Ahnen das Krankheitsrisiko heutiger Menschen beeinflussen kann, so der Populationsgenetiker. »Es ist ein schönes Beispiel dafür, wie man an relevante medizinische Informationen kommt, indem man sich mit sehr grundlegenden anthropologischen und genomischen Fragen befasst.«

Dreierlei Migration

Die Besiedlung Europas durch den anatomisch modernen Menschen erfolgte in drei großen Wellen: Vor etwa 45 000 Jahren erreichten Jäger und Sammler Europa, die ursprünglich aus Afrika stammten. Dann vor zirka 11 000 Jahren gelangten die ersten Bauern aus Anatolien in den Südosten Europas und breiteten sich relativ rasch über den Erdteil aus. Und vor ungefähr 5000 Jahren zogen nomadische Viehzüchter aus den eurasischen Steppen der Schwarzmeerregion nach Westen. Viele Archäologen und Historiker gingen bislang davon aus, dass sich diese Gruppen im Lauf der Jahrtausende auf dem gesamten Kontinent miteinander vermischten. Unterschiedliche Genvarianten hätten sich dann entwickelt, je nachdem an welchen Orten die Menschen lebten – in Anpassung an ihre lokale Umgebung.

Doch als der Archäogenetiker Eske Willerslev von der University of Cambridge und sein Team begannen, die DNA früherer Menschen zu untersuchen, fiel ihnen auf, dass die Gengeschichte der Europäer nicht vorrangig auf natürlicher Selektion beruhen kann. Die Forschenden sammelten Proben von 317 menschlichen Überresten aus Europa, von denen der Großteil zwischen 3000 und 11 000 Jahre alt ist, und sequenzierten deren DNA. Anschließend kombinierten sie die erhaltenen Gendaten mit vorhandenen Erbgutinformationen von mehr als 1300 weiteren Eurasiern der Vorgeschichte.

Willerslev und sein Team sortierten die Daten nach bestimmten Kriterien: Aus welchen Epochen stammten die Überreste, wo waren sie ausgegraben worden, welche Genvarianten weisen sie auf und so weiter. Auf diese Weise erstellten sie einen europäischen Stammbaum, rekonstruierten die einstigen Migrationswege und erschlossen, wie sich das Genom örtlicher Populationen im Lauf der Zeiten gewandelt hat. So zeigte sich beispielsweise, dass die Steppenhirten hauptsächlich in die nördlichen Regionen Europas gezogen waren, während die neolithischen Bauern aus dem Vorderen Orient den Süden und Westen des Kontinents angesteuert hatten.

In Folge dieser Migrationsbewegungen verschwanden einige ansässige Populationen vollständig. In Dänemark zum Beispiel hinterließ das genetische Erbe der steinzeitlichen Jäger und Sammler kaum Spuren im Genom der nachfolgenden Bauernkulturen. Neolithiker tauchten in Nordeuropa erst deutlich später auf als auf dem übrigen Kontinent – vor ungefähr 5900 Jahren. Diese archäologisch als Trichterbecherkultur bekannte Bevölkerung verschwand dann aber weitgehend zirka 1000 Jahre später, als die Steppenhirten einwanderten und die so genannte Einzelgrabkultur gründeten. Auf dem Gebiet von Dänemark ereigneten sich also zwei große Bevölkerungsverschiebungen in relativ kurzer Zeit. Dieses Ergebnis und die archäologischen Funde würden zeigen, so Willerslev, dass die jeweiligen Neuankömmlinge die ansässige Bevölkerung weder vertrieben noch sich mit ihr vermischt, sondern sie ausgelöscht hatten.

Wie wirkt sich das genetische Erbe heute aus?

Laut den empirischen Daten tragen viele Menschen der heutigen europäischen Bevölkerung ein genetisches Erbe in sich, das sich aus allen drei Migrationswellen zusammensetzt. Der jeweilige Anteil variiere allerdings je nach Herkunftsort, erklärt Willerslev.

In einem nächsten Schritt verglichen die Forscher und Forscherinnen die vorgeschichtlichen Genome mit denen von rund 410 000 heutigen Personen, deren genetische Profile in der UK Biobank gespeichert sind, einer umfangreichen Datenbank mit medizinischen und genetischen Informationen. Das Ergebnis war eindeutig: Viele Genvarianten ließen sich direkt auf eine der drei Migrationswellen zurückführen.

»Es ist einfach sehr, sehr schwer herauszufinden, was die Selektion antreibt«Tony Capra, Evolutionsgenetiker, University of California in San Francisco

So sind die heutigen Nordeuropäer im Durchschnitt größer und hellhäutiger als die Menschen in südlichen Regionen – weil in ihrem Erbgut, wie sich nun zeigte, ein höherer Anteil des Genoms ehemaliger Steppenbewohner steckt. Die größten Ähnlichkeiten mit dem Erbgut steinzeitlicher Jäger und Sammler weisen Menschen in Nordosteuropa auf. Dadurch können sie auch Genvarianten tragen, die ein höheres Risiko mit sich bringen, an Diabetes und Alzheimer zu erkranken.

»Ein großer Teil dieser Geschichte wurde außerhalb Europas geschrieben«, sagt Willerslev. Doch als sich die Einwanderer in geografisch isolierten Gebieten Europas niederließen, verblieben bestimmte genetische Varianten in einzelnen Populationen, zementierten sich regelrecht.

Hunger auf Milch

Die neuen Studien tragen auch zur Klärung der Frage bei, warum erwachsene Menschen die Fähigkeit entwickelten, Milchzucker zu verdauen – bevor die Europäer überhaupt mit der Tierhaltung begonnen hatten. Vermutlich wirkten daran Mutationen im Umfeld des DNA-Abschnitts mit, der für die Laktase codiert. Jenes Enzym, das Säuglinge von Natur aus produzieren, spaltet den Milchzucker und ermöglicht so die Verdauung von Milch. Für steinzeitliche Menschen waren diese Genvariante und die damit einhergehende Laktosetoleranz womöglich nützlich, um Hungersnöte zu überstehen – lange bevor die Steppenhirten einwanderten. Die Menschen stellten in kargen Zeiten wohl ihre Ernährung um, wechselten von Getreide und Fleisch auf mehr Milchprodukte.

Die anfänglichen Mutationen könnten, einfach gesprochen, weitere Veränderungen angestoßen haben. Es entwickelte sich eine Genvariante, die auch im Erwachsenenalter die Laktaseproduktion ankurbelt. Unklar ist laut Willerslev bislang aber, ob außerdem andere genetisch bedingte Merkmale wie die Körpergröße damals einen Vorteil verschafften.

Tony Capra ist nicht überrascht, dass selbst im Zuge dieser Mammutstudie noch Fragen offen blieben. »Es ist sehr, sehr schwer herauszufinden, was die Selektion antreibt«, sagt der Evolutionsgenetiker von der University of California in San Francisco. Es sei zwar verlockend anzunehmen, dass eine Genvariante auf eine evolutionäre Anpassung an eine bestimmte Umgebung zurückgehe, doch manchmal liege es schlicht daran, wer zu einer bestimmten Zeit am entsprechenden Ort lebte, so Capra. »Selbst diese erstaunlichen Einblicke in die Vergangenheit, die uns die alte DNA bietet – sie bestätigen nur, wie komplex der Prozess der menschlichen Evolution ist.«

Eine Genvariante allerdings, die einen großen evolutionären Vorteil in früheren Zeiten vermuten lässt, erhöht heute das Risiko, an multipler Sklerose zu erkranken. Bereits die Hirtenvölker der eurasischen Steppe besaßen diese Variante und brachten sie mit nach Europa. In den folgenden Jahrtausenden verbreitete sie sich in Nordeuropa, trat somit sogar häufiger in der Bevölkerung auf.

Einstiger Schutz vor Infektionskrankheiten

Multiple Sklerose ist eine Autoimmunkrankheit, die das zentrale Nervensystem angreift. Das eigene Immunsystem zerstört die Nervenfasern und -zellen in Gehirn und Rückenmark, was zu meist schubweise auftretenden Lähmungen führt. Die Krankheit geht mit einer Überreaktion des Immunsystems einher. Womöglich waren die Symptome früher vorteilhaft, weil sie zur vorübergehenden Stärkung der Immunabwehr führten und somit der Vermeidung von Krankheiten dienten.

Willerslev und sein Team nehmen an, dass sich die entsprechenden Genvarianten als nützlich erwiesen »in der Zeit, die auf die Phase des Jagens und Sammelns folgte, als Landwirtschaft, Tierdomestizierung und eine höhere Bevölkerungsdichte die Ansteckung mit Krankheitserregern wahrscheinlicher machten«, schreibt Samira Asgari von der Icahn School of Medicine at Mount Sinai in New York in einem begleitenden Kommentar in »Nature«, den sie gemeinsam mit dem Wissenschaftsjournalisten Lionel Pousaz verfasst hat. »Das ist die beste Erklärung, die uns einfällt«, sagt Studienleiter Willerslev. Vermutlich auch deshalb fordert Asgari, die die Ergebnisse der vier Fachartikel grundsätzlich positiv beurteilt, dass die These in Zukunft durch weitere Arbeiten untermauert werden müsse – um den Zusammenhang zwischen Infektionskrankheiten und multipler Sklerose zu erhärten.

Evolutionsgenetiker Tony Capra ergänzt, Willerslevs Team habe einen »cleveren« Ansatz gewählt, indem es nicht einfach nur alte DNA untersucht habe, sondern versuchte herauszufinden, wie sich die vorgeschichtlichen Genvarianten auf heutige Menschen auswirken. In einem nächsten Schritt sei nun wichtig, so betonen es Capra, Quintana-Murci und Asgari, dass die von Willerslev und seinen Kollegen entwickelten Methoden auch auf die Genome anderer Bevölkerungen angewendet werden, etwa in Südostasien und Amerika.

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