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Eisfreie Arktis: Polare Zeitenwende wohl schon im nächsten Jahrzehnt

Schon in den nächsten zehn Jahren könnte die Arktis eisfrei sein - zumindest für einen Tag. Es wäre das erste Mal seit mindestens 80 000 Jahren. Das symbolische Ereignis steht für den drastischen Wandel im globalen Klima und den arktischen Ökosystemen.
Ein schnurgerader Strandsaum aus dunklem Geröll zieht sich Richtung Horizont.
Wo einst bis weit in den Sommer Land an Eis grenzte, ist nun immer häufiger offenes Wasser zu sehen. Bald könnte das einst ewige Eis der Arktis vollständig verschwinden.

Der Tag, an dem das ewige Eis der Arktis völlig verschwindet, ist nicht mehr fern. Und das ganz buchstäblich, laut einem aktuellen Übersichtsartikel. Schon in den nächsten zehn Jahren könnte der arktische Ozean erstmals frei von schwimmendem Eis sein. Eine eisfreie Arktis würde den Beginn des Übergangs von einer ganzjährigen Meereisbedeckung zu einer nur saisonalen markieren. Der Verlust des arktischen Meereises, selbst für einen kurzen Zeitraum, ist ein eindrückliches visuelles Symbol für den Klimawandel: Die weiße Sommer-Arktis würde zum blauen offenen Ozean übergehen.

»Es gibt ein öffentliches Interesse daran, wann dies geschehen wird, und wir möchten die bestmöglichen Prognosen dafür liefern können«, sagt Alexandra Jahn von der University of Colorado Boulder. Sie ist eine der Autorinnen der in der Fachzeitschrift »Nature Reviews Earth & Environment« erschienenen Veröffentlichung. »Es gibt noch viel, was wir nicht über die Auswirkungen einer eisfreien Arktis verstehen, und eine zeitliche Vorstellung davon, wann wir erstmals eisfreie Bedingungen sehen könnten, kann die Forschung zu den Auswirkungen beschleunigen«, fügt sie hinzu.

Im Jahr 1978 begannen Erdbeobachtungssatelliten mit der Überwachung des Wachstums und des Rückzugs des auf dem Arktischen Ozean treibenden Meereises. Seitdem geht insgesamt das Meereis in der Arktis zurück, besonders auffällig im Sommer, wenn das Eis schmilzt. Dies gipfelt im jährlichen Meereis-Minimum im September, dem Tag im Jahr mit der geringsten beobachteten Menge an Meereis. Diese geringste Meereisausdehnung des Jahres ist seit Beginn des 21. Jahrhundert erheblich gesunken, und die letzten 17 Jahre verzeichneten die 17 geringsten Ausdehnungen des Arktischen Meereises.

»Die Arktis schrumpft um etwa drei Quadratmeter für jede Tonne menschlich verursachter CO2-Emissionen«, sagt Dirk Notz, Klimawissenschaftler und Meereisexperte an der Universität Hamburg. »Es überrascht also nicht, dass wir immer weniger Meereis beobachten«, ergänzt er.

Auf der Suche nach Tag X

Im Jahr 2023 lag das arktische Meereis-Minimum am 19. September bei 4,23 Millionen Quadratkilometern, dem sechstniedrigsten Wert seit Beginn der Aufzeichnungen. Der niedrigste Wert dagegen stammt vom 17. September 2012 – nur 3,39 Millionen Quadratkilometer blieben nach einem Sturm übrig. Wind und Wellen vernichteten auf einen Schlag sehr viel dünnes Eis, das bereits kurz vor dem vollständigen Schmelzen gestanden hatte.

Wann genau also die Arktis das erste Mal eisfrei ist, hängt auch vom Zufall und vom Wetter ab. Doch klar ist: Sobald diese Grenze auch nur kurz überschritten ist, wird die Welt davon erfahren. Satelliten beobachten die Polargebiete täglich. »Es ist also wichtig, dass wir nicht nur den ersten vollständigen Monat mit eisfreien Bedingungen vorhersagen, sondern auch den ersten Tag«, sagt Alexandra Jahn.

Allerdings trügt der Begriff »eisfrei« ein wenig. Was man darunter versteht, hat sich im Lauf der Zeit geändert. Anfangs definierte man es als nahezu vollständiges Verschwinden des Meereises. Aber das erwies sich als nicht sinnvoll. Dickes Meereis würde noch für sehr lange Zeit im Norden Grönlands und in einem Archipel nördlich von Kanada existieren, selbst wenn der Großteil des Arktischen Ozeans längst offenes Wasser wäre. Daher definiert man »eisfrei« heute im Allgemeinen als weniger als eine Million Quadratkilometer Eis. Dies entspricht weniger als 20 Prozent der minimalen Ausdehnung in den 1980er Jahren.

Mit Hilfe von Klimamodellen der aktuellen Generation simulierten Alexandra Jahn und ihre Mitarbeiterinnen verschiedene Treibhausgas-Emissionsszenarien – von hohen bis zu niedrigen Emissionen –, um vorherzusagen, wann die Arktis diesen kritischen Schwellenwert erreicht. Das Team stellte fest, dass die Arktis möglicherweise schon in den 2020er bis 2030er Jahren ihren ersten eisfreien Tag haben wird. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird das aber bis 2050 geschehen. Selbst wenn die Erwärmung auf weniger als 1,5 Grad begrenzt ist oder nur für kurze Zeit über 1,5 Grad hinausgeht, ist die Chance, eine eisfreie Arktis zu verhindern, geringer als zehn Prozent.

»Das Auslöschen dieser Landschaften löscht auch diese Faszination aus«Dirk Notz, Universität Hamburg

Tatsächlich scheint eine eisfreie Arktis nun unausweichlich zu sein. Im Februar 2024 meldete der Copernicus Climate Change Service der Europäischen Union, dass der Zeitraum zwischen Februar 2023 und Januar 2024 die heißeste 12-Monats-Spanne war, die jemals aufgezeichnet wurde. In dieser Zeit stieg die globale Temperatur auf 1,5 Grad über den vorindustriellen Durchschnitt. »Die Tatsache, dass wir mit großer Sicherheit sagen können, dass es ›zu spät‹ ist, um einen Verlust der Eisschicht zu vermeiden, ist eine deutliche Warnung davor, dass in den kommenden Jahren immer mehr Studien mit ›zu spät‹ veröffentlicht werden, wenn wir die CO2-Emissionen nicht schnell reduzieren«, sagt Dirk Notz.

Ohne Meereis ist die Arktis eine andere

Obwohl die ersten eisfreien Tage im September erwartet werden, könnten sie sich langfristig auch auf andere Monate ausdehnen. Ein früheres Schmelzen des arktischen Meereises im Sommer führt zu mehr offenem Wasser, wodurch der Arktische Ozean mehr Wärme aufnehmen kann. Dies könnte das Gefrieren so weit verzögern, dass sich die eisfreie Saison bis in den Herbst verlängert. Der Bericht der Arbeitsgruppe legt nahe, dass die Arktis bei einer globalen Erwärmung unter zwei Grad sogar noch im August und Oktober eisfrei werden könnte. Dieser Zeitraum könnte sich bei 2,5 Grad oder mehr Erwärmung sogar bis in den Juli erstrecken und bei 3,5 Grad oder mehr bis in den November.

Bei weiterhin hohen Treibhausgas-Emissionen erwarten Fachleute, dass regelmäßige eisfreie Zustände in der Arktis in der Zeit zwischen 2035 und 2067 aufzutreten beginnen, bei geringen Emissionen etwas später. Jahn und ihr Team warnen sogar davor, dass bei weiterer Erwärmung die Arktis das ganze Jahr über konsistent eisfrei werden könnte.

Wichtig sei auch, die Auswirkungen einer eisfreien Arktis besser zu verstehen, betonen Fachleute. Laut Steven Amstrup, Chef-Wissenschaftler der gemeinnützigen Organisation Polar Bears International in Bozeman, Montana, ist es entscheidend für das Überleben der Eisbären, die Dauer des Fehlens von Eis in kritischen küstennahen Lebensräumen zu begrenzen. Ihm zufolge nimmt die Anzahl der eisfreien Tage, an denen die Eisbären meistens hungern, zu. »Die Studie zeigt, dass durch weitestmögliche Reduzierung von Emissionen sowohl die Häufigkeit als auch die Dauer eisfreier Bedingungen verringert werden können«, sagt Alexandra Jahn.

James Screen, Professor für Klimawissenschaften an der University of Exeter, UK, warnt davor, dass das, was in der Arktis passiert, nicht in der Arktis bleibt. Der Verlust von Meereis beschleunigt nicht nur die Erwärmung, sondern trägt auch dazu bei, dass Landeis schmilzt und den Meeresspiegel ansteigen lässt. Vermutlich beeinflussen das Meereis und sein Verschwinden auch Wettermuster in Europa und Nordamerika.

Mit dem Verschwinden des Eises wird der Arktische Ozean vermutlich eine attraktive Seeroute zwischen Europa und Asien werden. Ob das eine gute Nachricht ist, darüber gehen die Meinungen auseinander: Die Auswirkungen von mehr Schiffen auf das anfällige arktische Ökosystem sind noch unklar. Und mit dem Meereis verliert der Mensch auch einen Teil seiner Kultur: Dirk Notz glaubt, dass unsere kulturelle Vorstellung von der Arktis als einem Ort des Eises nicht mehr gültig sein wird. »Diese Vorstellung scheint tief in uns Menschen verankert zu sein«, sagt er. »Das Auslöschen dieser Landschaften löscht auch diese Faszination aus.«

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