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News: Genetisch verkümmerte Weibchen

Ausnahmen bestätigen die Regel - auch in der Biologie. Normalerweise enthält die Erbinformation jeder tierischen Zelle eine charakteristische Anzahl von Chromosomenpaaren, die sich einander wie Zwillinge ähneln. Doch nun bringt eine nur aus Weibchen bestehende Milbenart diese gängige Lehrmeinung gehörig ins Schwanken. Denn sie ist der erste bekannte Organismus, der gänzlich ohne die entsprechenden Pendants zu seinen Erbfäden existieren kann.
Jede typische tierische Zelle ist mit einem doppelten Satz von Chromosomen ausgestattet und somit diploid. Beide Partnerchromosomen – eines vom Vater und das andere von der Mutter – ähneln sich äußerlich wie ein Ei dem anderen: Sie sind gewöhnlich gleich groß und tragen einander entsprechende Gene. Das Vorhandensein zweier Pendants ist für die Zelle durchaus von Vorteil, denn die zusammengehörigen Paare können sich parallel aneinanderlagern und passende Stücke austauschen. Neben diesem partnerschaftlichen "Tauschhandel", der zur Wahrung der Chromosomenstruktur und -identität lebenswichtig ist, können mithilfe einer Sicherheitskopie Defektmutationen verdeckt und ausgeglichen werden, die sonst möglicherweise schwerwiegende Folgen hätten.

Ein einfacher Chromosomensatz (Haploidie) ist in der Regel nur für die Keimzellen charakteristisch, bevor sie während der Befruchtung zu einem neuen Lebewesen verschmelzen. Doch im Laufe der Evolution traten mehrfach Abweichungen von dieser strengen Regelung auf. Bei dem Sonderfall "Haplodiploidie" weisen die Weibchen einer Art Chromosomen in zweifacher Ausführung auf, während den Männchen hingegen die passenden Gegenstücke zu ihren Erbfäden fehlen.

Die Milbenart Brevipalpus phoenicis rückt noch ein weiteres Stück von diesem grundlegenden biologischen Prinzip ab. Jene Art besteht nur aus weiblichen Individuen, die sich jungfräulich fortpflanzen: Aus unbefruchteten Eiern entwickeln sich jeweils weibliche Nachkommen. Die Eizellen sowie die anderen Zellen der ausgewachsenen Milben weisen lediglich zwei Chromosomen auf, die Andrew Weeks und seine Kollegen von der Universiteit van Amsterdam nun näher unter die Lupe nahmen.

Mithilfe von DNA-Anfärbungen und genetischen Fingerabdrücken enthüllten sie Erstaunliches: Die beiden Milben-Chromosomen sind genetisch nicht miteinander "verwandt", da jeder Erbfaden andere Informationen trägt. Somit handelt es sich um keine "Zwillingschromosomen" und die Zellen des Milbenweibchens sind demnach eindeutig haploid. Doch wie ist diese merkwürdige Ausnahme zu erklären?

Auch dieser Frage gingen die Forscher nach und entdeckten dabei, dass die Milben-Eizellen voll beladen mit Bakterien sind. Der Einsatz von Antibiotika, der jene Mikroorganismen abtötete, brachte Seltsames zu Tage: Die behandelten Eizellen entwickelten sich zu männlichen Milben, während aus den infizierten Keimzellen wie erwartet Weibchen hervorgingen. Vermutlich verhindern demnach die Bakterien die Entstehung von Männchen und wandeln diese in weibliche Individuen um, denn nur die Eizellen – und damit die Weibchen – gewährleisten den Mikroorganismen den Fortbestand über Generationen hinweg. Wahrscheinlich – so spekulieren die Forscher – existierten einst männliche Milben mit einfacher Chromosomenausstattung und weibliche mit der doppelten Ausführung, wie es ja im Laufe der Evolution des öfteren der Fall war.

Die bakterielle Überlebensstrategie machte jedoch die genetisch kümmerlich ausgestatteten Milbenweibchen unabhängig von den Männchen und stach letztendlich die sich geschlechtlich fortpflanzenden Vorfahren der Milben aus. Der haploide Zustand könnte den Milben auch dabei helfen, die Fallstricke der jungfräulichen Vermehrung zu umgehen: "Organismen mit einfachem Chromosomensatz entledigen sich äußerst effizient schädlicher Mutationen", betont Philippe Jarne von der Université Montpellier.

Auch den doppelten Chromosomensatz sehen Forscher nun mit anderen Augen: Vielleicht handelt es sich hier nur um einen "eingefrorenen Unfall", der sich vor vielen Millionen Jahren zufällig ereignete und ab dann zur lebensnotwendigen Grundausstattung gehörte. "Tierische Zellen sind eventuell nicht diploid, weil es für sie besonders günstig ist, sondern weil sie diesen Zustand nicht wieder verlieren können", spekuliert Sally Otto von der University of British Columbia.

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  • Quellen
Nature Science Update
Science 292: 2479–2482 (2001)
Science 292: 2441–2443 (2001)

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