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News: Körner unter Spannung

Schon die Reibung einzelner großer Objekte gibt zahllose Rätsel auf, da wundert es kaum, dass das Phänomen bei vielen kleinen Teilchen, wie etwa Sand, noch einmal deutlich komplizierter ist. Und so kommen nun zwei Wissenschaftler zu ganz neuen unerwarteten Ergebnissen.
Spannungsnetzwerk
Schon früh mussten sich Menschen mit dem Phänomen der Reibung auseinandersetzen. So suchten bereits die alten Ägypter nach Möglichkeiten, ihre tonnenschweren Pyramidenquader leichter zu bewegen, und Leonardo da Vinci entwarf erste Kugellager, um den Rollwiderstand zu minimieren. Eine ganze Reihe von Wissenschaftlern und Gelehrten befasste sich über die Jahrhunderte mit dem Thema, und viele, auch heute noch gültige Gesetze wurden aufgestellt.

So fand Charles Augustin Coulomb im 18. Jahrhundert heraus, dass die Reibungskraft eines einmal in Bewegung gesetzten Körpers unabhängig von seiner Geschwindigkeit ist. Das gleiche, so nahm man lange Zeit an, sollte auch für granulare Materialien, wie etwa Sand oder Getreide in Silos, gelten – die Spannung zwischen den Körnern sollte vollkommen unabhängig von ihrer Geschwindigkeit zueinander sein.

"Das hört man heute auch noch in vielen Anfängervorlesungen", erzählt Robert Behringer von der Duke University. Doch verschiedene Experimente in den frühen Achtzigern brachten eine andere Wahrheit ans Licht. Demnach bleiben die Reibungskräfte zwischen den Körnern nicht konstant, sondern es hat den Anschein, dass mit schnellerer Bewegung die Reibung immer geringer wird. Das, so meint Behringer, wäre schließlich auch nicht verwunderlich: "Bei größerer Geschwindigkeit sollten die Körner auch nicht mehr so dicht in Kontakt miteinander stehen."

Um sich mit seinem Kollegen Robert Hartley die Kräfteverteilung zwischen den Körnern genauer anzusehen, konstruierten die Wissenschaftler im Prinzip eine Art Rührgerät, bestehend aus zwei konzentrisch ineinander gelagerten Ringen, zwischen die sie Kunststoffscheiben oder fünfeckige Plastikstücke füllten. Der innere Ring ließ sich dabei in Rotation versetzen, und die Kunststoffteilchen waren lichtdurchlässig und photoelastisch. Das heißt, mit polarisiertem Licht, das die Körner durchschien, ließ sich ihre innere Spannungsverteilung sichtbar machen.

Die Überraschung war groß, als die Forscher das innere Rad des Geräts rotieren ließen. Denn schnell zeichnete sich ein fein verflochtenes Netzwerk unter Spannung stehender, aneinander angrenzender Körner durch ihren Farbkontrast ab – die Forscher nennen das "Kraftkette". Und dieses Netzwerk machte keine Anstalten, sich bei größeren Geschwindigkeiten aufzulösen. Im Gegenteil, die Körner organisierten sich um, und das Netz begann regelrecht zu wuchern. Offensichtlich, so vermuten Behringer und Hartley, saugt dieses Netzwerk förmlich alle Spannungen auf, die im System existieren.

Interessanterweise bleiben diese Kräfte zwischen den Kunststoffkörnern nicht bestehen, wenn das Rad der Rührmaschine wieder angehalten wird. Stattdessen baut sich die Spannung in den Ketten ab – zuerst schnell, dann immer langsamer, bis nach mehreren Stunden wieder der Ursprungszustand hergestellt ist. "Eigentlich sollte dieses Netzwerk über die Zeit erhalten bleiben. Aber die Natur macht etwas anderes", wundert sich Behringer. "Irgendwelche subtilen Prozesse bestimmen das Verhalten der Körner in einer Weise, in der wir es überhaupt nicht erwartet haben", ergänzt er.

Wenngleich die Beobachtungen neue Rätsel aufgeben, so ist doch gewiss, dass die Erkenntnisse weitreichende Bedeutung haben. Denn granulare Materie ist kein ungewöhnliches Material, dass die Forscher für weltfremde Experimente nutzen. Vielmehr spielt es bei vielen industriellen Prozessen und auch in der Natur eine große Rolle. So kennt man beispielsweise Fälle, bei denen ein Getreidesilo mehr oder minder aus heiterem Himmel zusammenstürzte, vermutlich weil sich die Körner im Inneren in bestimmter Weise umlagerten. Was genau jedoch dabei passierte, weiß man nicht. Vielleicht helfen Experimente wie die von Hartley und Behringer, das Rätsel zu lösen.

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