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Masse des Neutrinos: Der Wettkampf um die präziseste Neutrinowaage nimmt Fahrt auf

Es gibt zunehmend Zweifel, dass sich mit dem Experiment KATRIN die Neutrinomasse so präzise bestimmen lässt, wie erforderlich. Doch Alternativen stehen bereits in den Startlöchern.
Blick in den Neutrino-Detektor KATRIN
Mit dem »Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment« (kurz: KATRIN) wollen Physikerinnen und Physiker die Masse des Elektron-Antineutrinos direkt bestimmen.

Derzeit gibt es auf der ganzen Welt nur ein einziges Labor, das eine Chance hat, der Masse des geheimnisvollsten aller Elementarteilchen auf die Spur zu kommen: das zeppelinförmige »Karlsruhe Tritium Neutrino Experiment« (kurz: KATRIN) in Karlsruhe. Doch es gibt zunehmend Zweifel daran, dass KATRIN die Erwartungen der Physikerinnen und Physiker erfüllen kann. Beobachtungen von kosmischen Strukturen deuten darauf hin, dass Neutrinos extrem leicht sind und eine Masse von höchstens 0,12 Elektronvolt besitzen – vier Millionen Mal weniger als die Masse eines Elektrons. Sollten diese Schätzungen zutreffen, würde die wahre Masse des Neutrinos außerhalb der Reichweite von KATRIN liegen.

»Wir befürchten, dass KATRIN – obwohl es ein großartiges Experiment ist – nicht in der Lage sein wird, die Masse des Neutrinos zu bestimmen«, sagt der Physiker Matteo Borghesi von der Universität Mailand-Bicocca. Auf einer Fachkonferenz im italienischen Genua stellte er im Februar 2024 die Fortschritte seines Teams mit einer alternativen experimentellen Technik vor. »Wir müssen auf diesen Fall vorbereitet sein.« Borghesi ist nicht der Einzige, der sich schon jetzt Gedanken über die Zeit nach KATRIN macht. Einige weitere internationale Arbeitsgruppen haben nach eigenen Angaben bereits Experimente im kleinen Maßstab durchgeführt, die zeigen, dass ihre jeweiligen Ideen funktionieren. Die Forscher hoffen, demnächst größere Versionen dieser Geräte bauen zu können, die schließlich mit KATRIN konkurrieren oder das Experiment sogar übertreffen könnten.

Um Neutrinos zu wiegen, nutzen Physiker und Physikerinnen den Zerfall radioaktiver Isotope. Die bei solchen Zerfällen entstehenden Neutrinos lassen sich zwar nicht direkt beobachten, aber ihre Masse lässt sich berechnen, indem die Energie der verbleibenden Teilchen gemessen wird.

Winzig kleine Masse

KATRIN nutzt den Betazerfall von Tritium, einem schweren, radioaktiven Isotop des Wasserstoffs. Dabei wird eines der beiden Neutronen in seinem Kern in ein Proton umgewandelt, wobei ein Elektron (auch Betateilchen genannt) und ein Neutrino (genauer gesagt das Antiteilchen mit der gleichen Masse, ein so genanntes Antineutrino) emittiert werden. Beim Zerfall wird eine bekannte Gesamtenergiemenge frei, von der das Elektron und das Neutrino den größten Teil in Form von kinetischer Energie sowie der in ihnen steckenden Masseenergie mitnehmen. Das Neutrino kann den Kern mit einer Reihe möglicher Energien verlassen, muss jedoch mindestens die in seiner Masse enthaltene Menge mit sich führen. KATRIN will dieses Minimum abschätzen, indem es den gesamten Energiebereich der ausgestrahlten Elektronen misst.

Bisher hat KATRIN eine Obergrenze von 0,8 Elektronvolt für die Masse des Neutrinos festgelegt. Die bestmögliche Empfindlichkeit der Messung liegt bei 0,2 Elektronvolt. Die Experimente laufen noch bis Ende 2025 weiter. Wenn die KATRIN-Kollaboration somit nach 2026 ihre endgültigen Ergebnisse veröffentlicht, kann sie also nur dann eine eindeutige Messung vornehmen, wenn die Neutrinomasse zwischen 0,2 und 0,8 Elektronvolt beträgt. Ein solches Ergebnis stünde allerdings in eklatantem Widerspruch zu den Schätzungen der Kosmologie, sagt die Astrophysikerin Olga Mena von der Universität Valencia in Spanien. Damit die Masse des Neutrinos in dem Bereich liegt, den KATRIN messen kann, bedürfte es »exotischer, nichttrivialer Physik«, sagt Mena. Beispiele dafür wären bisher unbekannte Grundkräfte, die Neutrinos beeinflussen oder Änderungen der einsteinschen Gravitationstheorie hervorrufen.

Die Fachleute wollen deshalb neuartige Techniken entwickeln, mit denen sich die Empfindlichkeit auf leichtere Massen ausdehnen lässt und die einen Quervergleich zwischen Experimenten ermöglichen. Laut der Physikerin Loredana Gastaldo von der Universität Heidelberg findet die Fachkonferenz in Genua zu einem extrem spannenden Zeitpunkt statt. Einige der vorgebrachten Ideen seien inzwischen so weit ausgereift, dass sie zu vollwertigen Experimenten ausgebaut werden könnten.

Eine Möglichkeit besteht beispielsweise darin, den Zerfall von Holmium-163, einem radioaktiven Isotop des Seltenerd-Elements Holmium, zu nutzen. Im Gegensatz zu Tritium durchläuft Holmium-163 keinen Betazerfall. Stattdessen wird ein Hüllenelektron des Atoms von einem Proton in seinem Kern »eingefangen«. Dadurch wird das Proton in ein Neutron umgewandelt, wobei ein Neutrino und Photonen emittiert werden. Das eingefangene Elektron hinterlässt eine Lücke in der Elektronenkonfiguration des Atoms, wodurch sich die anderen Elektronen schnell neu anordnen und dabei Energie freisetzen. Wäre das ursprüngliche Holmiumatom in ein Material eingebettet, würde die gesamte Energie gefangen bleiben und eine winzige Wärmemenge erzeugen, die mit einem ausreichend empfindlichen Detektor messbar ist.

Die Idee zum Elektroneneinfang kam dem theoretischen Physiker Álvaro de Rújula 1981 während eines Aufenthalts in Rio de Janeiro

Die Idee zu diesem Ansatz, dem so genannten Elektroneneinfang, kam dem theoretischen Physiker Álvaro de Rújula vom CERN erstmals 1981 während eines Aufenthalts in Rio de Janeiro. Er befand sich am Strand des Copacabana-Viertels, so erzählt er heute, als er plötzlich die Form des Zuckerhuts betrachtete – der habe »die Form des Elektroneneinfang-Spektrums«. Das ist ein Diagramm, das den Bereich der Energien zeigt, die man als Restwärme des Zerfalls messen kann.

Er gab die Idee nach einigen anfänglichen Versuchen auf, doch Ende der 1990er Jahre griffen Loredana Gastaldo und der Physiker Angelo Nucciotti von der Universität Mailand-Bicocca sie wieder auf. Obwohl beide Teams erheblich unterfinanziert und unterbesetzt waren, hätten sie viele Jahre lang »heldenhaft« und mit wenig Anerkennung weiter daran gearbeitet, sagt de Rújula.

Die beiden Gruppen wenden verschiedene Ansätze an, um Holmium-163 in Metallspäne zu injizieren, die wiederum in empfindliche Wärmedetektoren eingebettet sind. Beide Teams haben mittlerweile gezeigt, dass sie die Energie mit hoher Präzision messen können. 2019 haben Gastaldo und ihre Mitarbeiter eine Obergrenze von 150 Elektronvolt für die Masse des Neutrinos festgelegt. Derzeit arbeiten sie daran, diese Grenze um den Faktor 10 zu verbessern. »Wir können jetzt zeigen, dass auch Holmium mit im Rennen ist«, sagt Gastaldo.

Analyse von Radiowellen

Einen anderen Ansatz stellte die Physikerin Juliana Stachurska vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge bei der Konferenz vor. In einem Experiment mit der Bezeichnung »Project 8« füllen sie und ihre Mitarbeiter Tritiumgas mit geringer Dichte in eine Flasche, die die Elektronen aus dem Betazerfall durch Magnetfelder einfängt. In einer 2023 veröffentlichten Arbeit zeigten die Forschenden, dass sie die Energie der Elektronen mit hoher Präzision über die Analyse von Radiowellen messen können. Das Team plant, künftig auf atomares Tritium umzusteigen, das zwar schwieriger zu handhaben ist, aber einige experimentelle Unsicherheiten beseitigen würde, die die Präzision früherer Experimente, einschließlich KATRIN, eingeschränkt haben. »Bisher hat noch niemand mit atomarem Tritium gearbeitet«, sagt Stachurska.

Der MIT-Physiker Joseph Formaggio, ein Sprecher von »Project 8«, hofft eines Tages eine große Version des Experiments zu bauen. Die Empfindlichkeit könnte damit auf 0,04 Elektronvolt gesenkt werden – klein genug, um die strengen Grenzwerte der kosmologischen Experimente zu unterbieten.

Ein noch weiter in der Zukunft liegendes Experiment mit der Bezeichnung PTOLEMY sieht die Verwendung von festem statt gasförmigem Tritium vor, das an Schichten von Graphen, einem einlagigen Kohlenstoffmaterial, gebunden ist. Auf diese Weise könnten die Forscher viel mehr Tritium einlagern und eine höhere Anzahl radioaktiver Zerfälle erzielen.

Im Moment wartet die Forschungsgemeinschaft noch gespannt auf die endgültigen Ergebnisse von KATRIN, sagt Borghesi. Selbst wenn das Experiment an die Grenzen seiner Empfindlichkeit stößt, planen die beteiligten Forschenden, es weiterzuentwickeln und zu verbessern. Der Physiker Magnus Schlösser vom Karlsruher Institut für Technologie sagt, seine wichtigste Botschaft auf der Konferenz sei gewesen, dass »KATRIN die Türen nach der aktuellen Kampagne nicht schließen wird«.

Anmerkung: In der ursprünglichen Version dieses Artikels hieß es, die endgültigen Ergebnisse der KATRIN-Kollaboration würden noch im Lauf des Jahres 2024 veröffentlicht.

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