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Open Source Intelligence: Amateurdetektive auf der Jagd nach Kriegsverbrechern

Dank einer immer besseren Vernetzung erreicht uns täglich eine Flut aus Daten. Aber woher weiß man, ob das Gezeigte wahr ist? Online-Ermittler nutzen Open Source Intelligence, um Informationen zu prüfen – und haben so erstaunliche Wahrheiten ans Licht gebracht.
Ein mit grüner Maske vermummter Soldat schaut zur Decke. Er steht inmitten der Trümmer eines Gebäudes.
Ein ukrainischer Soldat inspiziert den Schaden nach dem Einschlag einer russischen Rakete in das Kharkiv Polytechnic Institute der Nationalen Technischen Universität in Kiew am 24. Juni 2022.

Marie Colvin war für ihre unerschrockene Berichterstattung bekannt. 1999 begab sich die damals 43-jährige Journalistin nach Osttimor, als indonesische Milizen nach einem Unabhängigkeitsreferendum eine Gewaltwelle auslösten, durch die tausende Menschen starben. Anders als ihre Kolleginnen und Kollegen vor Ort weigerte sie sich, das von proindonesischen Angreifern belagerte Gelände der Vereinten Nationen zu verlassen. Durch ihren Widerstand lenkte sie die internationale Aufmerksamkeit auf die Notlage von 1500 eingekesselten Frauen und Kindern, die daraufhin gerettet wurden. Zwei Jahre später verlor Colvin auf Sri Lanka während des dort tobenden Bürgerkriegs ihr linkes Auge: Als sie das Rebellengebiet der Tamilen durchquerte, griff die Armee mit Panzerabwehrraketen an; ein Schrapnell traf ihren Kopf.

Unter all den erschütternden Ereignissen, welche die Kriegsberichterstatterin erlebt hatte, beschrieb sie den 2011 ausgebrochenen Bürgerkrieg in Syrien als den schlimmsten Konflikt, dem sie je beigewohnt habe. Das Assad-Regime hatte ausländischen Journalisten zwar die Einreise verboten, doch Colvin schaffte es im Februar 2012, das Land heimlich auf einem Motorrad bis zu Stadt Homs zu durchqueren, wo damals heftige Kämpfe stattfanden. »Es ist eine Lüge, dass sie nur hinter Terroristen her sind. Die syrische Armee beschießt eine Stadt mit hungernden Zivilisten«, schrieb sie in einem ihrer letzten Berichte. Kurz darauf, am 22. Februar, beschoss das Militär das provisorische Medienzentrum, in dem sich die Journalistin und andere Pressevertreter befanden. Colvin und der damals 28-jährige Fotojournalist Rémi Ochlik kamen ums Leben.

»Mein Job ist es, Zeugin zu sein«Marie Colvin, Kriegsberichterstatterin

Dieses und weitere schockierende Ereignisse, wie etwa die Entführung des britischen Journalisten James Foley im November 2012, den Anhänger des selbst ernannten Islamischen Staats zwei Jahre später vor laufender Kamera köpften, führten dazu, dass ausländische Medien ihre Korrespondenten aus Konfliktregionen abzogen. Man konnte ihre Sicherheit nicht mehr gewährleisten. Das war ein herber Schlag für die unabhängige Berichterstattung. »Mein Job ist es, Zeugin zu sein«, lautet ein berühmtes Zitat von Colvin. Doch wer übernimmt diese Aufgabe, wenn die Lage vor Ort zu gefährlich wird? Im Januar 2014 gaben die Vereinten Nationen bekannt, nicht länger die Menge an getöteten Personen (deren Anzahl damals bereits 200 000 übertraf) in dem Konflikt zählen zu können, weil sie keinen Zugang mehr zu verlässlichen Informationen hatten.

Leider ist das während kriegerischer Handlungen weniger ein Einzelfall als vielmehr die Regel. Viele Gräueltaten kommen meist erst später ans Licht, wie auch das Massaker in der syrischen Stadt Hama im Jahr 1982. Damals ließ der amtierende Präsident Hafez al-Assad (der Vater des jetzigen Herrschers Bashar al-Assad) den Aufstand der dortigen Muslimbruderschaft äußerst brutal niederschlagen, wobei tausende Zivilisten getötet und große Teile der Stadt zerstört wurden. Bis heute variieren die Opferzahlen zwischen 2000 und 40 000 Toten. Ohne verlässliche Quelle vor Ort ist es so gut wie unmöglich, herauszufinden, was damals genau geschah. Und damit bleibt das ultimative Ziel der Krisenberichterstattung auf der Strecke: Verbrechen offenzulegen, in der Hoffnung, dass sich die Täter für ihre Handlungen verantworten müssen.

Wie lässt sich die Informationsflut bewältigen?

Angesichts des 2022 ausgebrochenen Kriegs in der Ukraine ist diese Thematik wieder in den Fokus gerückt. Was die Informationsdichte angeht, unterscheiden sich die heutigen Konflikte deutlich von jenen in der Vergangenheit. Denn der Arabische Frühling hat eine Zeitenwende in der Berichterstattung eingeleitet: In den 2010er Jahren besaßen zahlreiche Syrer ein Smartphone mit Internetzugang – und scheuten sich nicht, davon Gebrauch zu machen. Erstmals gelangten somit enorm viele Informationen aus erster Hand und ungefiltert nach draußen. In den sozialen Medien stieß man täglich auf unzählige Fotos und Videos, welche die schrecklichen Ereignisse dokumentierten.

Volksnah | Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zeigt sich immer wieder im Dialog mit Soldaten und Bürgern: hier in Butscha, einem Vorort von Kiew, in dem nach dem Abzug der russischen Truppen zahlreiche getötete Zivilisten gefunden wurden.

Einerseits eröffnet das ungeahnte Möglichkeiten für Journalistinnen und Journalisten, um die Lage vor Ort einzuschätzen, ohne sich selbst in Gefahr zu begeben. Andererseits stellt es die Medien, die fundiert und unabhängig berichten möchten, vor eine Herausforderung: Welchen Informationen kann man glauben? Wie vergewissert man sich, dass die Aufnahmen nicht gestellt oder gefälscht sind, um einer anderen Konfliktpartei zu schaden? Mit solchen Fragen sehen wir uns heute wieder konfrontiert. Denn unter den Inhalten, die mutmaßlich aus der Ukraine stammen, findet sich auch Propaganda: Das russische Militär inszeniert sich als möglichst stark, während die ukrainische Seite versucht, mit erfolgreichen Gegenschlägen zu glänzen. Ebenso wissen sich die Staatschefs medienwirksam in Szene zu setzen: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj präsentiert sich volksnah in Militäruniform und bespricht sich vertraut mit Soldaten. Putin setzt hingegen auf das Bild eines unantastbaren Staatsmannes, der selbst andere Regierungschefs nicht an sich heranlässt.

Unantastbar | Kremlchef Wladimir Putin wahrt selbst anderen Staatsoberhäuptern gegenüber Distanz. Der riesige Tisch, an dem Putin den französischen Präsidenten Emmanuel Macron empfangen hat, ist inzwischen weltberühmt.

Zu Beginn des Arabischen Frühlings schien es für Medienschaffende noch so gut wie unmöglich, online verbreitete Inhalte ohne vertrauenswürdige Quellen vor Ort zu prüfen. Selbst für große Zeitungen mit zahlreichen Kontakten gestaltete sich das Fact-Checking angesichts der chaotischen Zustände schwierig. Doch nach und nach entwickelte die Presse immer bessere Methoden, um die Authentizität von Aufnahmen aus der Ferne sicherzustellen. Aber es schien ausgeschlossen, die enorme Menge an Daten zu bewältigen.

»Es war mehr Information verfügbar als jemals zuvor, wodurch die Stellen, die Fakten prüfen und verbreiten sollen, heillos überfordert waren«, erklärt Eliot Higgins in seinem 2021 erschienenen Buch »Digitale Jäger«. »Wer hatte schon Zeit, all das Material zum Syrienkonflikt durchzugehen, das das Internet überschwemmte?« Wie sich herausstellte, war Higgins – ebenso wie viele andere Personen – dazu bereit.

Damit konnten sich erstmals zahlreiche Privatpersonen der so genannten Open Source Intelligence (kurz: OSINT) widmen. Der Begriff stammt aus der Welt der Geheimdienste und scheint sich selbst zu widersprechen. Während sich »open source« auf frei verfügbare und nachverfolgbare Quellen bezieht, zielt »intelligence« meist darauf ab, geheime Informationen zu sammeln und diese für sich und seine Organisation zu behalten. Ähnlich arbeiten investigative Journalisten der alten Schule, die sich an unbeobachteten Orten mit Informanten treffen und auf geheime Dokumente zugreifen. In solchen Fällen muss sich die Öffentlichkeit darauf verlassen, dass die Reporter gewissenhaft recherchiert haben.

Im Open-Source-Journalismus ist das hingegen anders: Die Leserinnen und Leser können die Beiträge anhand der angegebenen Quellen eigenständig nachprüfen. Dadurch entsteht eine neue Art der Berichterstattung. »Angesichts der Informationsflut ist es wichtig, Fakten zur Verfügung zu stellen, damit man sich selbst eine Meinung bilden kann«, sagt die Journalistin Sophie Timmermann, Faktencheckerin beim deutschen Recherchezentrum »Correctiv«.

Einer der bekanntesten internationalen Nachrichtendienste für investigative Open-Source-Beiträge ist »Bellingcat«, das Higgins 2014 gegründet hat. Dabei handelt es sich um ein nicht gewinnorientiertes Netzwerk, das aus etwa einem Dutzend festen Mitarbeitern und zahlreichen freiwilligen Helferinnen und Helfern besteht. Überraschenderweise sind viele dieser Online-Detektive weder gelernte Journalisten noch Politikwissenschaftler oder Nahost-Experten. »Die Leute kommen aus ganz verschiedenen Bereichen. Ein Kollege war vorher beim Militär. Eine Kollegin war ursprünglich Polizistin. Manche arbeiteten zuvor bei NGOs, andere waren Analysten. Die unterschiedliche Expertise hilft uns bei der Recherche enorm«, so Johanna Wild, eine Mitarbeiterin von Bellingcat, in einem Interview mit »Spektrum.de«. »Uns eint, dass wir Missstände wie Kriegsverbrechen oder Menschenrechtsverletzungen aufdecken wollen.«

Auch Higgins ist nicht vom Fach. Auf den ersten Blick gab es nichts, das ihn dafür qualifizierte, eine besondere Rolle bei der Krisenberichterstattung des Arabischen Frühlings zu spielen: Er hatte sein Studium zu Medienwissenschaften abgebrochen und ging unter anderem administrativen Aufgaben im Finanzbereich nach. Weil seine Jobs ihn langweilten, verfolgte er während der Arbeitszeit immer wieder die Nachrichten und informierte sich auf verschiedenen Youtube-Kanälen und Twitter-Profilen über die aktuelle Lage im Nahen Osten. Dabei fielen ihm die vielen Beiträge und Videos auf, welche die Medien häufig erst Tage später – wenn überhaupt – aufgriffen. Er machte sich einen Spaß daraus, immer wieder relevante Inhalte in den Kommentarspalten der britischen Zeitung »The Guardian« zu veröffentlichen. Bis ein anderer Leser ihn irgendwann fragte, woher er denn wisse, dass eines der geposteten Videos echt sei.

Amateure begeben sich auf digitale Spurensuche

So rutschte Higgins ganz unabsichtlich in den Open-Source-Journalismus: Er nahm die aufgezeichneten Bilder genau unter die Lupe, indem er Merkmale in der Landschaft mit öffentlich zugänglichen Satellitenbildern abglich, die in dem Video durchlaufenen Straßen nachzeichnete und sie mit Karten auf Google Maps verglich. So konnte er die Aufnahme auf fünf mögliche Orte eingrenzen. Um sich festzulegen, nutzte er sein Netzwerk: Inzwischen hatte er viele Follower auf Twitter, die sich ebenfalls für den Arabischen Frühling interessierten. Zusammen mit weiteren Online-Detektiven gelang es ihm, zahlreiche Belege dafür zu sammeln, dass das Video nur aus einem bestimmten Ort stammen konnte.

Die Frage war nun, was er mit all diesen Informationen anfangen sollte. Damit sie nicht verloren gingen, gründete Higgins den »Brown Moses«-Blog (benannt nach einem Song von Frank Zappa), in dem er seine Arbeit sammelte. Anstatt seine Fundstücke aus den sozialen Medien in Kommentarsektionen von Nachrichtenseiten zu veröffentlichen, nutzte er nun seinen Blog. Das gab ihm die Möglichkeit, die Authentizität der Social-Media-Beiträge zu prüfen. Bald erregte er damit die Aufmerksamkeit etablierter Medien wie der »New York Times«, aber auch von Menschenrechtsorganisationen, die seine Recherchen aufgriffen. Angesichts der Menge an Inhalten und der vielen Freiwilligen, die dazu bereit waren, in ihrer Freizeit als Online-Detektive zu ermitteln, gründete Higgins schließlich das Nachrichtennetzwerk Bellingcat.

Es ist beeindruckend, was sich alles aus frei zugänglichen Informationen herausfinden lässt. Bellingcat half etwa dabei nachzuweisen, dass Assad 2013 im syrischen Ghouta Giftgas gegen die Zivilbevölkerung einsetzen ließ. Des Weiteren konnten die Online-Ermittler die Herkunft der Flugabwehrrakete nachverfolgen, die 2014 das malaysische Passagierflugzeug MH 17 abschoss – und erkannten, dass sie von Russland aus in die ukrainischen Separatistengebiete transportiert worden war. Zudem konnten sie die russischen Geheimdienstler identifizieren, die 2018 den ehemaligen Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter Yulia in Großbritannien mit dem Nervengift Novichok vergiftet haben. Andere Open-Source-Beiträge legen Kriegsverbrechen in weiteren arabischen und afrikanischen Ländern offen. Auch der Sturm auf das Kapitol in Washington D. C. am 6. Januar 2021 motivierte zahlreiche Online-Ermittler, darunter die Recherchegruppe »Deep State Dogs« dazu, die Aufrührer zu enttarnen, um das FBI bei seiner Arbeit zu unterstützen.

Aber wie ist das überhaupt möglich? Ein entscheidender Faktor von OSINT ist die Schwarmintelligenz: Was ein Einzelner übersieht, wird ein anderer womöglich bemerken. Da zudem alle Quellen öffentlich einsehbar sind, verringert sich dadurch die Wahrscheinlichkeit, unbemerkt auf Falschinformationen hereinzufallen. Seit dem Arabischen Frühling haben Online-Ermittler ihre Methoden immer weiter verfeinert, um die Authentizität von Inhalten zu überprüfen. Das macht sich nun im Ukraine-Konflikt bezahlt.

Syrien und Ukraine: Ähnlicher als gedacht

Trotz viele Unterschiede weisen der Krieg in Syrien und jener in der Ukraine einige Gemeinsamkeiten auf. Ersterer begann 2011 als Bürgerkrieg, nachdem die Regierung mit Gewalt auf Proteste reagiert hatte. Wegen der gesellschaftlichen Verwerfungen spaltete sich die Bevölkerung in zahlreiche Lager auf, die verschiedene Ziele verfolgten. So gab es prostaatliche Akteure, die sowohl gegen islamistische Radikale als auch gemäßigtere Oppositionelle kämpften. Die regierungsfeindlichen Gruppen unterteilten sich ebenfalls in Interessengemeinschaften, die sich gegenseitig bekriegten: Einige unterstützten Al Kaida, manche den IS, andere wandten sich prokurdischen Kämpfern zu oder der »freien syrischen Armee«, die ebenso inhomogen war. Hinzu kam die Einmischung weiterer Staaten wie Russland und Iran, die Bodentruppen nach Syrien schickten, um das Assad-Regime zu unterstützen. Nicht zuletzt ihnen verdankt der Regierungschef es, dass er noch an der Macht ist.

In der Ukraine begann der Konflikt 2014, nachdem Russland die Halbinsel Krim völkerrechtswidrig annektiert hat. Innerhalb der ostukrainischen Gebiete Donezk und Luhansk, die sich vom Rest des Landes abspalten wollten, entwickelte sich daraufhin auch hier ein Bürgerkrieg. Am 24. Februar 2022 gab der Kremlchef Wladimir Putin bekannt, eine »militärische Operation« gegen die Ukraine zu beginnen: Es marschierten russische Truppen ein. Die Fronten (mit russischen und prorussischen Gruppen auf der einen und ukrainischen und proukrainischen auf der anderen Seite) sind in diesem Fall etwas übersichtlicher als im syrischen Krieg – auch wenn die Geschichte und die Gründe, die dazu führten, ebenfalls vielschichtig sind.

In beiden militärischen Konflikten hat Russland die Rolle des Aggressors inne, der mit großer Brutalität zuschlägt. Mit Erschrecken erkannten Expertinnen und Experten bereits während der ersten Kriegstage in der Ukraine einige Angriffsweisen wieder, die sie an das Vorgehen in Syrien erinnerten. Doch die wohl größte Gemeinsamkeit beider Kriege bildet die außergewöhnliche Dokumentation der dortigen Handlungen: Dank Smartphones und einer umfangreichen Netzabdeckung, können die Menschen die Geschehnisse vor Ort aufzeichnen und mit einem Klick um die ganze Welt schicken.

Möchte man herausfinden, ob eine Aufnahme echt ist, sollte man zuerst ihren Ursprung prüfen: Wo wurde sie erstmals veröffentlicht? Dafür kann man zum Beispiel die umgekehrte Bildsuche nutzen, die sowohl Google als auch andere Suchmaschinen anbieten. Die Suchanfrage besteht dann aus dem Bild, und als Ergebnis erhält man ähnliche Aufnahmen – oder die gleiche, falls sie schon einmal irgendwo aufgetaucht ist. So kann man feststellen, ob ein Inhalt älter ist beziehungsweise in einem anderen Kontext entstand.

Mit dieser einfachen Technik lassen sich bereits einige Falschinformationen entlarven. Zum Beispiel machte am 28. Februar 2020, zu Beginn der Covid-19-Pandemie, ein Video auf der Social-Media-Plattform TikTok die Runde, in dem eine riesige Menschenmenge zu sehen ist, die einen Supermarkt belagert. Das Video behauptete, es zeige einen Aldi-Markt in der niederländischen Stadt Haarlem, wo die Bürger offenbar aus Angst vor den Auswirkungen der Pandemie Panikkäufe tätigten. Innerhalb kürzester Zeit war es vier Millionen mal abgespielt worden und hatte mehr als 10 000 Kommentare. Das befeuerte die Befürchtungen der Menschen, während Regierungen auf der ganzen Welt der Bevölkerung versicherten, dass es keine Lebensmittelknappheit geben werde und man von Hamsterkäufen absehen solle.

Als die Aufnahme zu Chantal Verkroost gelang, einer Mitarbeiterin von Bellingcat, vermutete sie eine Fälschung. Indem sie ein Standbild in die inverse Suche eingab und weitere Details analysierte, stellte sie fest, dass das Video bereits 2011 auf Youtube zu finden war und eigentlich aus Kiel stammt. Damals hatte Aldi einen besonders attraktiven Sonderverkauf gestartet, der viele Kunden anlockte.

Leider lässt sich eine Falschmeldung nicht immer so schnell aufdecken. Daher sollte man sich in einem zweiten Schritt den Nutzer oder das Medium vornehmen, das einen Inhalt hochgeladen hat. Scheint die Quelle vertrauenswürdig? Vorige Veröffentlichungen sowie Personen, die dem Medium oder dem Profil folgen, beziehungsweise von diesem gefolgt werden, können Hinweise auf deren Verlässlichkeit liefern. Stößt man etwa auf extremistische oder verschwörungstheoretische Hintergründe, sollte man die Glaubwürdigkeit der verbreiteten Information anzweifeln.

Wie man einen Standort ermittelt

Als dritten Schritt kann man sich der bekanntesten und wahrscheinlich beliebtesten Disziplin von Open-Source-Ermittlungen widmen: die Geolokalisierung. Inzwischen gibt es viele Menschen, die diese Tätigkeit als Hobby betreiben. Das verdeutlichen unter anderem die zahlreichen Gruppen, die sich dem Thema verschrieben haben, sowie Online-Games wie »Geoguessr«. Letzteres setzt einem Spieler ein zufällig auf Grundlage von Google Street View gewähltes Panorama vor. Ziel ist es, möglichst genau herauszufinden, welchen Ort es abbildet. Wenn man Glück hat, kann man sich in der gezeigten Gegend bewegen, doch manchmal muss man anhand eines statischen Bilds den Standort ermitteln.

Zunächst kann man sich auf die Umgebung fokussieren und die wichtigsten Eigenschaften ausmachen: Gibt es besondere landschaftliche Merkmale wie Berge, Vegetation oder Flüsse? Wenn eine Stadt zu sehen ist, kann man anhand der Architektur oder der Bauwerke wie Kirchen, Moscheen, Türme oder Brücken manchmal auf ein Land oder gar einen genauen Ort schließen. Auch Straßenmarkierungen, Verkehrsschilder oder Fahrzeuge können viel über eine Lage verraten. Hat man eine Vermutung, lässt sich das Gesehene mit Daten von Google Street View vergleichen. Wenn das nicht ausreicht, gibt es noch Satellitenbilder, Datenbanken und Archive, die man durchstöbern kann, um dort nach bestimmten Kennzeichen zu suchen, etwa einer Brücke. Eine weitere gute Quelle ist OpenStreetMap, das Aufnahmen enthält, die über jene von Google Maps hinausgehen.

Möchte man ein Video analysieren, in dem sich Personen entlang verschiedener Straßen bewegen, kann man den Weg nachzeichnen und mit Straßenkarten oder Satellitenaufnahmen abgleichen. Auf diese Weise gelang es Higgins 2011, eine Aufnahme zu orten, welche die angebliche Übernahme der libyschen Stadt Brega durch oppositionelle Rebellen zeigte. In dem mehrere Minuten andauernden Video fahren Kämpfer durch eine Wohnsiedlung ohne markante Eigenschaften. Doch das Straßennetz wies ein ungewöhnliches Muster auf: eines, das zu einem östlichen Wohngebiet in Brega passt. Indem er schließlich die Details der Videoaufnahme mit Satellitenbildern der Gegend verglich, konnte er belegen, dass die Personen wirklich vor Ort waren.

Es ist erstaunlich, wie viele Informationen man aus einer einzigen Aufnahme herausziehen kann – selbst ohne über weit reichende technische Kenntnisse zu verfügen. Wenn man die Authentizität eines Inhalts prüfen möchte, spielt aber nicht nur der genaue Aufnahmeort eine Rolle, sondern auch der Zeitpunkt, an dem er entstand. Das war beispielsweise entscheidend, als Bellingcat den Transport der Flugabwehrrakete, die das Passagierflugzeug MH 17 abgeschossen hatte, rekonstruierte. Nur so ließ sich in minuziöser Recherchearbeit die Route nachzeichnen, deren Startpunkt nach Russland führte.

Grundlage für solche zeitlichen Untersuchungen bietet die Chronolokalisierung. Bevor man allerdings damit beginnen kann, muss man den genauen Entstehungsort einer Aufnahme kennen. Daher gehen Chrono- und Geolokalisierung immer Hand in Hand. Ist die geografische Lage geklärt, kann man zunächst im Internet nach weiteren Bildern der Gegend Ausschau halten: Haben sich die landschaftlichen Merkmale verändert? Wie sieht die Vegetation aus, wie die umliegenden Gebäude? Anhand dieser Vorarbeit lässt sich manchmal schon auf ein bestimmtes Jahr schließen. Zudem kann man einem Bild oft entnehmen, in welcher Jahreszeit es entstand – sofern es am betreffenden Ort solche gibt.

Geolokalisierung |

Um den Entstehungsort und den Zeitpunkt eines Fotos zu ermitteln, gibt es zahlreiche Tricks, die sich auch ohne umfangreiche technische Kenntnisse umsetzen lassen. Das Bild entstand beispielsweise bei einem Ausflug, den ich irgendwann Mitte Mai 2021 in die Schwanheimer Dünen bei Frankfurt unternommen habe. Doch wo genau und um wie viel Uhr ich das Foto aufgenommen habe, weiß ich nicht mehr auswendig. Anhand der Datei kann man diese Informationen aber rekonstruieren.

Dafür muss man zunächst die GPS-Koordinaten bestimmen, an denen das Bild entstanden ist. Das ist in diesem Fall nicht allzu schwer, da es in den Schwanheimer Dünen glücklicherweise Google Street View gibt. Auf meinem Foto ist ein hölzerner Steg zu sehen, was den Aufnahmeort eingrenzt. Der Steg besitzt zudem an der linken Seite ein Geländer, das an einer Rechtskurve beginnt. Im linken Hintergrund des Bilds lassen sich Strommasten erkennen. Zusammen mit der Platzierung der Bäume genügen diese Merkmale bereits, um die genauen Koordinaten der Position anhand von Google Maps und Google Street View zu bestimmen: 50° 05' 13,3'' Nord, 8° 33' 30,9'' Ost.

Hat man den Zeitraum eingegrenzt, kann man vergangene Wetterdaten heranziehen und mit den Witterungsbedingungen auf der Aufnahme vergleichen. Dadurch lässt sich mit etwas Glück der genaue Tag festlegen. Zu guter Letzt kann man sogar die Uhrzeit bestimmen. Denn durch die Ausrichtung der Schatten lässt sich der Sonnenstand und damit – sofern der Ort und das Datum bekannt sind – der exakte Zeitpunkt berechnen. Dafür gibt es frei zugängliche Programme wie SunCalc.

Chronolokalisierung |

Damit lässt sich nun herausfinden, wann ich an diesem Ort war. Dafür muss man sich zunächst die Schatten des Bilds ansehen. Anhand ihrer Ausrichtung und des Kompasses bei Google Maps stellt man fest, dass die Sonne aus westlicher Richtung scheint und schon relativ tief über dem Himmel steht. Das Foto muss also am frühen Abend oder späten Nachmittag entstanden sein. An diesem Tag war es zudem leicht bewölkt. In einem weiteren Schritt kann man die Wetterverhältnisse Mitte Mai 2021 online einsehen, um den Tag der Aufnahme zu finden. Tatsächlich hat es am 13., 14., 15., 17., 18. Mai des betreffenden Jahres nachmittags geregnet. Das lässt den 16. als mögliches Datum zu.

Auch die genaue Uhrzeit kann man ermitteln. Dafür gibt es Software wie SunCalc, ein frei zugängliches Browser-Programm. Anhand geografischer Koordinaten und eines Datums berechnet es den Sonnenstand und die entsprechenden Schattenlängen und -ausrichtungen zu verschiedenen Zeitpunkten. Auf dem Bild zeigt der Schatten ziemlich genau senkrecht vom Steg weg. Das entspricht bei SunCalc einer Zeit von etwa 17 Uhr. Doch besonders präzise ist das auf diese Weise bestimmte Ergebnis nicht.

Möchte man es genauer wissen, gibt es eine weitere Methode. Sie funktioniert allerdings nur, wenn die Schatten auf dem Bild parallel zum Horizont verlaufen und auf eine möglichst gerade Ebene fallen, wie es auf dem Foto der Fall ist. Mit einem Bildbearbeitungsprogramm (oder einem Lineal) kann man die Länge eines Pfostens (256 Pixel) messen und die des dazugehörigen Schattens (330 Pixel). Wie groß der Pfosten in Wirklichkeit ist, spielt dabei keine Rolle, nur das Verhältnis zwischen einem Objekt und seinem Schatten ist für die Zeitbestimmung entscheidend. Wenn man die Daten in SunCalc einträgt, berechnet das Programm daraus die passende Uhrzeit – in diesem Fall 16.56 Uhr.

Daneben gibt es einen weiteren effektiven Trick, um etwas über ein Bild herauszufinden: Metadaten. Denn Kameras und Mobiltelefone speichern in der Regel zahlreiche Informationen, die sich aus der Bilddatei auslesen lassen. Dafür kann man Programme wie Photoshop oder kostenlose Anbieter im Internet nutzen. Analysiert man das Foto der Schwanheimer Dünen, erfährt man, mit welchem Smartphone-Modell ich es gemacht habe, welche Kamera sich darin befand, wie groß das Bild ist und so weiter. Aber auch das Datum und Uhrzeit hat mein Handy gespeichert: Das Foto entstand am 16. Mai 2021 um 16.51 Uhr.

Ein weiterer, nicht zu unterschätzender Faktor bei der Analyse sind Metadaten, die in Bildern und Videos stecken. Sie enthalten oft Informationen über den Zeitpunkt und den Aufnahmeort einer Datei und lassen sich über Programme wie Photoshop oder durch kostenlose Webanbieter auslesen. Zwar ist es möglich, diese Daten zu entfernen oder zu fälschen, aber viele Nutzerinnen und Nutzer machen sich nicht die Mühe.

Mit solchen Methoden haben Online-Ermittler bereits zahlreiche Falschmeldungen entlarvt. Die OSINT-Werkzeuge können jedoch nicht nur dabei helfen, die Authentizität von Inhalten zu prüfen. Sie dienen auch dazu, Personen zu identifizieren. Nach dem Sturm auf das Kapitol der Vereinigten Staaten im Jahr 2021 bat das FBI beispielsweise die Öffentlichkeit um Hilfe, um die zahlreichen Videoaufnahmen des Ereignisses zu durchforsten. Viele Freiwillige, darunter Forrest Rogers, der inzwischen bei der »Neuen Zürcher Zeitung« arbeitet, nahmen sich der Aufgabe bereitwillig an. Dass die Aufnahmen echt sind, steht dabei außer Frage, ebenso sind der Entstehungsort und die Tatzeit bekannt.

Das Problem ist hierbei eine anderes: Hat man eine Person ausgemacht, die man identifizieren möchte, gilt es, zunächst möglichst viele Videos nach ihr zu durchforsten. Wegen der Fülle an Material kann man dadurch die Handlungen einiger Beteiligter genau nachvollziehen. Je mehr Aufnahmen es von einer Person gibt, desto mehr Details kann man erkennen: etwa körperliche Besonderheiten, Kleidung, Tattoos, Piercings oder Accessoires wie Handyhüllen. Wenn die Bilder keine softwaregestützte Gesichtserkennung zulassen, beispielsweise weil die Qualität zu schlecht ist, können solche Merkmale eine wichtige Rolle spielen. Auf diese Weise gelang es Rogers zusammen mit anderen Freiwilligen, eine Frau aufzuspüren, die sich unter den Demonstranten befand. Ihre Kleidung hatte zwar keine besonderen Eigenschaften, doch ihre mit weißen Blüten bestückte Handyhülle war auffällig.

Da die Aufnahmen des Kapitols nicht mehr preisgaben, suchten die Online-Ermittler nach weiteren Quellen. Die Vermutung lag nahe, dass die Frau bereits an anderen Ereignissen dieser Art teilgenommen hatte, etwa an Veranstaltungen von extremistischen Gruppierungen und radikalen Impfskeptikern. Die OSINT-Detektive wurden fündig. Sie fanden Videos einer Frau, die jener im Kapitol sehr ähnlich sah: Unter anderem hatte sie die gleiche Nasenform und besaß dieselbe Handyhülle. Anhand dieser neu entdeckten Aufnahme stießen sie auf ihren Namen, ihre Adresse und ihren Beruf. Rogers bündelte die gesammelten Beweise und übergab sie am 21. Januar 2021 dem FBI – nur 15 Tage nach dem Ereignis. Es dauerte allerdings zwei Wochen, bis die Behörde dazu kam, die übermittelten Schriften zu prüfen. Doch dann konnten sie die Verdächtige verhaften, die inzwischen für ihre Straftaten verurteilt wurde.

Sturm auf das Kapitol | Am 6. Januar 2021 griffen Anhängerinnen und Anhänger des abgewählten Präsidenten Donald Trump den Kongress der Vereinigten Staaten in Washington, D. C., an.

In diesem Fall nahm die Open-Source-Detektivarbeit ein erfreuliches Ende. Leider ist das nicht immer so, gerade wenn Verbrechen während eines Kriegs erfolgen, wie im Beispiel von Syrien und der Ukraine. In solchen Situationen müssen internationale Institutionen tätig werden, etwa der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen oder der Internationale Strafgerichtshof (IStGH), die beide in Den Haag angesiedelt sind. Während Ersterer dafür zuständig ist, einen Staat zu verurteilen, der gegen die Charta der Vereinten Nationen verstößt, ist der IStGH für Einzelpersonen verantwortlich. Bisher wurden jedoch nur wenige Länder und Individuen durch diese überstaatlichen Organe zur Rechenschaft gezogen. Eine Schwierigkeit ist, dass viele Staaten – vor allem jene, in denen die Menschenrechtslage prekär ist – die grundlegenden Abkommen für die Gerichtshöfe nicht ratifiziert haben, darunter Syrien, Russland und die Ukraine. Zwar können die juristischen Instanzen trotzdem eingreifen, wenn der UN-Sicherheitsrat zustimmt. Im Fall der Kriegsverbrechen in Syrien haben sich allerdings die Vetomächte Russland und China einem Verfahren widersetzt. Ebenso wenig wird der Kreml es zulassen, bezüglich seines Angriffskriegs auf die Ukraine belangt zu werden.

Die Geschichte schreibt in Zukunft nicht mehr nur der Gewinner

Es gibt aber auch noch einen anderen Weg, um Aggressoren zur Verantwortung zu ziehen: das so genannte Weltrechtsprinzip. Demnach können Personen unabhängig von ihrer Nationalität und dem Ort des begangenen Verbrechens belangt werden, wenn sie sich völkerrechtlich strafbar machen. Bisher haben 15 Staaten von diesem Prinzip Gebrauch gemacht, darunter Belgien, Frankreich, die USA und Deutschland. Die Bundesrepublik ist dabei Vorreiter und berief sich am häufigsten darauf. Zum Beispiel hat das Oberlandesgericht in Koblenz im Jahr 2021 zwei ehemalige Geheimdienstmitarbeiter des Assad-Regimes der systematischen Folter schuldig gesprochen. Im März 2022 forderte die ehemalige Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger den Generalbundesanwalt auf, Ermittlungen gegen den russischen Präsidenten Putin wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine einzuleiten. Selbst wenn man ihn wohl nicht verhaften könne, sei es wichtig, jetzt schon Beweise zu sichern, sagte die Politikerin im »Morgenmagazin« des ZDF.

Auch OSINT-Ermittler haben inzwischen Datenbanken aufgesetzt, um Beweismittel zu verwahren und in Umlauf gebrachte Inhalte als authentisch oder gefälscht zu kennzeichnen. Ähnliche Bestrebungen gab es bereits für den Syrienkrieg: 2016 hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen den »internationalen, unparteiischen und unabhängigen Mechanismus« (kurz: IIIM) für Syrien ins Leben gerufen, dessen Ziel es ist, Beweise von Kriegsverbrechen zu sammeln und aufzubereiten. Einige der darin enthaltenen Dokumente spielten eine wichtige Rolle bei Verurteilungen gemäß des Weltrechtsprinzips. »Es gibt den Ausspruch, dass die Geschichte von Gewinnern geschrieben wird«, sagte Higgins zur panarabischen Nachrichtenseite »The New Arab«. »Ich glaube nicht, dass das in Syrien der Fall sein wird, angesichts der vielen Beweise, die aller Welt zugänglich sind.«

Das Problem ist allerdings, dass es keine einheitlichen Richtlinien gibt, wie man die digitalen Beweise sammeln, archivieren und einreichen kann, damit sie für die Strafverfolgung zugelassen werden. Darüber hinaus sind viele Behörden überfordert von der Flut an Informationen, die sie erhalten. Um die Prozesse zu beschleunigen, braucht es einen Leitfaden für eine sachgemäße OSINT-Recherche.

Geordnete Strukturen erleichtern nicht nur die Arbeit der Strafverfolgungsbehörden, sondern stellen auch sicher, dass die Online-Ermittler keine Persönlichkeitsrechte oder andere Gesetze verletzen. Aus diesem Grund hat die University of California in Berkeley zusammen mit den Vereinten Nationen 2020 das so genannte Berkeley-Protokoll herausgegeben, eine Art Leitfaden für OSINT-Recherchen. Einer der Punkte rät beispielsweise dazu, die Übermittlung von Informationen möglichst effektiv und transparent zu gestalten: Neben einer lückenlosen Dokumentation (wie kam man an die Daten, wie wurden sie untersucht und so weiter) und Offenheit gegenüber Wissenslücken sollte man nur jene Inhalte mit einbeziehen, die wirklich relevant sind – und auf alles Weitere verzichten. Ein anderer wichtiger Punkt besteht in der ordnungsgemäßen Sicherung von Daten, die DSGVO-konform sein sollte und nur Berechtigten den Zugang gewährt. Das Berkeley-Protokoll stellt bisher allerdings nur eine Empfehlung dar. Es ist nicht garantiert, dass Strafverfolgungsbehörden bei Befolgung aller Regeln die eingereichten Beweise als solche akzeptieren.

Die OSINT-Arbeit etabliert sich jedoch immer mehr. Bereits 2017 und 2018 erließ der Internationale Strafgerichtshof zwei Haftbefehle gegen Mahmoud al-Werfalli, ehemaliger Kommandant der libyschen al-Saiqa-Brigade, und zwar hauptsächlich auf Grundlage von Beweisen, die aus den sozialen Medien stammen. Das sorgte für viel Aufmerksamkeit, weil es das erste Mal war, dass ein internationales Gericht seine Entscheidung fast ausschließlich auf öffentlich zugängliche Informationen stützte – und nicht auf Augenzeugenberichte oder Ähnliches.

»Man stumpft leider relativ schnell ab«Sophie Timmermann, Autorin bei »Correctiv«

Umso wichtiger ist es, Open-Source-Ermittlungen gewissenhaft durchzuführen, wie es das Berkeley-Protokoll vorgibt. Zudem dient dieses unerfahrenen Personen, die sich im OSINT-Bereich noch nicht allzu gut auskennen, als Leitfaden. Denn mit der Tätigkeit kann man auch erheblichen Schaden anrichten. Das zeigt das Beispiel eines 20-jährigen Collegestudenten aus Alabama, der Anfang März 2022 ein Bild von jemandem aus der ukrainischen Seehafenstadt Cherson erhielt. Die Aufnahme wurde von einem Balkon aus gemacht und zeigte russische Truppen, die sich in der Stadt bewegen. Um die Authentizität des Fotos zu prüfen, versuchte der US-amerikanische Student es zu orten – und veröffentlichte seine Analyse inklusive der ermittelten GPS-Koordinaten auf Twitter. Nach einigen Minuten dämmerte ihm, dass er damit seine Quelle zur Zielscheibe gemacht hatte. Er löschte zwar seinen Tweet, doch bis dahin war er bereits über 100-Mal geteilt worden. »Bevor man etwas veröffentlicht, sollte man sich bewusst sein, dass man die Leute, die vor Ort sind, in Gefahr bringen kann«, sagt die Faktencheckerin Timmermann.

Ebenso wichtig ist es, die Identitäten von Personen geheim zu halten – und sie wenn nötig zunächst nur Strafverfolgungsbehörden zu verraten. Da allerdings viele ungeschulte Freiwillige in dem immer beliebter werdenden Gebiet mitmischen, wächst die Gefahr fahrlässiger Verhaltensweisen. Zudem sollten Online-Detektive versuchen, möglichst anonym im Internet aufzutreten und wenige Hinweise auf die eigene Identität zu hinterlassen. Denn durch OSINT-Ermittlungen machen sich viele Personen Feinde, nicht selten erhalten sie Drohungen.

Ein weiterer Punkt, den das Berkeley-Protokoll anspricht, ist die geistige Gesundheit. Selbst wenn man bei der Online-Recherche nicht im Außeneinsatz tätig ist, wird man dennoch mit traumatisierenden Inhalten konfrontiert. So auch Sophie Timmermann: »Von einem Tag auf den anderen erreichte uns diese Flut an Bildern und Videos«, erzählt sie. Correctiv betreibt einen WhatsApp-Chatbot, dem man Online-Inhalte senden kann. Die Mitarbeiter prüfen dann, ob es sich um Falschmeldungen handelt. »Man stumpft leider relativ schnell ab«, fährt die gelernte Journalistin fort. Wichtig sei es, einen Rückhalt im Team zu haben und sich immer wieder anderen Aufgaben zuzuwenden. Wie Higgins in seinem Buch berichtet, haben manche OSINT-Ermittler auf Grund ihrer Arbeit eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickelt.

Trotz dieser Herausforderungen halten viele an ihrer oft freiwilligen Tätigkeit fest – und sorgen Tag für Tag dafür, dass die Missstände in der Welt nicht unter Verschluss bleiben. Das ist ganz im Sinn von Marie Colvin: »Ich werde weiterhin versuchen, die Informationen nach draußen zu kriegen«, lautete eine ihrer letzten Nachrichten vor ihrem Tod an ihren Redakteur. Zwar wird die Open-Source-Arbeit niemals die Erfahrungen von Korrespondenten vor Ort ersetzen, die sich mit Zeugen unterhalten und die Geschehnisse einordnen können. »OSINT-Journalismus bietet aber eine gute Ergänzung – es ist ein weiteres Werkzeug, das man nutzen kann«, sagt Timmermann.

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