Direkt zum Inhalt

Angriff auf Israel: »Menschlichkeit muss gewinnen. Demokratie muss gewinnen«

Die Teilchenphysikerin und Aktivistin Shikma Bressler ist das Gesicht der israelischen Demokratiebewegung. Im Interview spricht sie über die Auswirkungen des Kriegs auf ihre Forschung und darüber, dass Israel nicht nur von außen bedroht wird.
Die israelische Teilchenphysikerin Shikma Bressler auf einer Demonstration
Shikma Schwartzman-Bressler wurde im Sommer 2023 zur Ikone der israelischen Demokratiebewegung.

Wer Shikma Bressler googelt, findet Bilder, auf denen eine zierliche, blonde Frau vor verschwommenem Hintergrund selbstbewusst in die Kamera lächelt. Ein größerer Teil der Suchergebnisse hingegen zeigt eine sichtlich aufgebrachte Frau in schwarzem T-Shirt mit einer aufgedruckten geballten Faust. In einer Hand hält sie ein Mikrofon, mit der anderen streckt sie eine israelische Flagge empor. Die 43-Jährige ist eine wichtige Stimme der israelischen Demokratiebewegung – und promovierte Teilchenphysikerin. Bis zum Angriff der palästinensischen Terrormiliz Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 ging sie regelmäßig zusammen mit hunderttausenden anderen Israelis gegen die Justizreform der rechtsreligiösen Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu auf die Straße. Im Interview spricht sie darüber, wie die Reformpläne dem Krieg den Weg bereitet haben, welche Rolle Netanjahu dabei spielt und was all das für ihre Forschung bedeutet.

»Spektrum.de«: Zunächst einmal: Wie geht es Ihnen?

Shikma Bressler: Sehen Sie, es ist gerade erst gut vier Wochen her, dass die Hamas dieses Massaker an der israelischen Bevölkerung verübt hat. Es ist schockierend und ein Angriff auf unser israelisches Selbstverständnis. Ich bin mir sicher, dass wir uns eines Tages wieder davon erholen werden. Aber der Schmerz ist groß. Wir werden Israel neu formen müssen. Doch noch weiß keiner, wie es jetzt weitergeht.

Shikma Bressler | Die Teilchenphysikerin forscht am Weizmann-Institut für Wissenschaften in Rehovot und am europäischen Kernforschungszentrum CERN.

Sie sind Teilchenphysikerin am Weizmann-Institut für Wissenschaften in Rehovot und forschen am Teilchenbeschleuniger des Europäischen Kernforschungszentrums CERN in der Schweiz. Können Sie gerade an Ihre Arbeit denken?

Es ist natürlich derzeit alles andere als einfach, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Doch selbstverständlich laufen die Projekte weiter. Ich leite am CERN die israelische Beteiligung am Detektor-Upgrade des ATLAS-Experiments. ATLAS ist einer von vier Teilchendetektoren, die über die gesamte Länge des Large Hadron Collider, des LHC, verteilt sind.

Das heißt, woran forscht Ihre Arbeitsgruppe genau?

Die Forschung meiner Gruppe hat zwei Hauptrichtungen. Zum einen nutzen wir die vom ATLAS-Experiment bislang bereits gesammelten Daten, um nach physikalischen Phänomenen jenseits des Standardmodells der Teilchenphysik zu suchen. Dabei handelt es sich um neue Teilchen, die uns mehr Einblick in das Universum verschaffen und beispielsweise erklären könnten, warum wir weniger als fünf Prozent seiner Masse verstehen. Die anderen 95 Prozent, die auch als Dunkle Materie bezeichnet werden, sind weiterhin rätselhaft.

Zum anderen sind wir gerade dabei, den Entwurf für ein Upgrade des ATLAS-Detektors abzuschließen. Ich hoffe, dass wir den »production readiness review« wie geplant in etwa einem Monat bestehen werden, also die Produktionsreife erreichen. Wir müssen zeigen, dass unser Entwurf funktioniert und der Detektor, den wir bauen wollen, von hoher Qualität ist. Allerdings hat wegen des Kriegs bereits eine Reihe ausländischer Wissenschaftler das Land verlassen, und allen anderen fällt es schwer, fokussiert zu bleiben. Doch wir nehmen die Herausforderung an und machen weiter.

»Der Krieg ist überall. In den Gesprächen auf den Fluren, im Radio, beim Blick aus dem Fenster. Ganz zu schweigen von den Sirenen, die wir im Institut täglich hören«

Hilft Ihnen die Arbeit dabei, sich mal für ein paar Stunden am Tag abzulenken und auf andere Gedanken zu kommen?

Das ist kaum möglich. Der Krieg ist überall. In den Gesprächen auf den Fluren, im Radio, beim Blick aus dem Fenster. Ganz zu schweigen von den Sirenen, die wir im Institut täglich hören. Es wurden hunderte Menschen in den Gazastreifen verschleppt und werden dort als Geiseln gehalten. Darunter sind 30 Kinder, einige jünger als meine jüngste Tochter. Man mag sich nicht ausmalen, was sie dort erleben. Außerdem ist Israel nicht besonders groß. Hier kennt jeder jemanden, der getötet oder gekidnappt wurde oder an der Militäroffensive beteiligt ist. Wir müssen sehen, was nun passiert.

Das letzte Mal, als wir Kontakt hatten, schrieben Sie, das es gerade ungünstig sei zu telefonieren, weil es Raketenalarm gab. Wie ist die aktuelle Situation dort, wo Sie wohnen?

Ich arbeite in Rehovot, aber ich lebe in der Jesreelebene. Das ist eine Gegend in Nordisrael in der Nähe von Haifa. Wir hatten bislang zum Glück nur sehr selten Raketenalarm. Aber mein Bruder wurde jetzt in die Armee eingezogen. Der Krieg und seine Auswirkungen sind überall um uns herum. Die Kinder sind zum Glück relativ sicher. Aber meine Jüngste checkt immer wieder, dass die Tür auch wirklich abgeschlossen ist und die Fenster zu. Es hat sich vieles verändert.

Sie haben fünf Töchter – die älteste ist 17 Jahre alt, die jüngste gerade 5. Wie erleben die Mädchen die Situation?

Man wächst hier mit dem Wissen auf, dass das Land Feinde hat, dass die Hamas eine Bedrohung darstellt. Die Kinder sind sich dessen bewusst, verstehen aber nicht unbedingt, was das bedeuten könnte. In der aktuellen Situation können wir nur hoffen, dass die im Libanon aktive Hisbollah sich nicht einmischt. Da ich aus dem Norden komme, habe ich noch eindrückliche Erinnerungen an den Libanonkrieg 2006, als wir direkt in der Schusslinie standen. Nach dem aktuellen Angriff hatten die Mädchen zunächst weder Schule noch Kindergarten – und auch jetzt, wo sie wieder hingehen, ist nichts mehr so, wie es war.

Vor einigen Monaten haben Sie noch versucht, die Justizreform der israelischen Regierung zu stoppen. Sie haben sich öffentlich für Demokratie und gegen Korruption und Machtmissbrauch eingesetzt. Nun ist Krieg und es sind andere Dinge an der Tagesordnung. Wie viel denken Sie noch über die Reform nach?

Ich denke nicht, dass sich durch den Krieg mein Blick auf die Reform und die israelische Regierung verändert hat. Die 225 Gesetzesentwürfe, die die Regierung auf den Tisch des Parlaments gelegt hat, sind immer noch da. Das Geld fließt immer noch an die falschen Stellen. Die Maschinerie von Premierminister Benjamin Netanjahu zur Ausweitung seiner Macht läuft auf Hochtouren, ebenso seine Stimmungsmache in den sozialen Medien. Er versucht, die Verantwortung für die Attacke der Hamas auf das Militär und auf die Gesellschaft abzuwälzen. Unter dem Vorwand der Sicherheit versuchen Netanjahu und seine fundamentalistischen Minister alle möglichen verrückten Gesetze zu verabschieden, wie etwa, dass die Polizei auf Protestierende schießen darf, wenn diese Straßen blockieren. Und auch wenn die aktuelle Situation manches erfordert, lassen sich solche Gesetze dann anschließend auch anders nutzen und missbrauchen.

Worum es bei der israelischen Justizreform geht

Die Reformpläne der Regierung von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zielen darauf ab, die Befugnisse der Justiz und des Obersten Gerichts einzuschränken und die Stellung des Parlaments und des Ministerpräsidenten zu stärken. So soll sich das Parlament künftig etwa über Entscheidungen des Gerichts hinwegsetzen können, und zwar auch dann, wenn grundlegende Rechte berührt sind. Damit würde die Befugnis des Obersten Gerichts zur rechtlichen Überprüfung von Gesetzen fast vollständig abgeschafft werden. Außerdem soll die Regierung künftig eine Mehrheit in der Kommission haben, die die Richter auswählt.

Am 24. Juli 2023 hat die Regierung den ersten zentralen Teil der Justizreform verabschiedet und die so genannte Angemessenheitsklausel abgeschafft. Diese konnte das Oberste Gericht bisher nutzen, um politische Entscheidungen zu prüfen und bei Bedarf als »unangemessen« außer Kraft zu setzen.

Kritiker der Reform fürchten ein Mehr an Korruption, sie fürchten um den Schutz von Minderheiten und letztlich um den Rechtsstaat in Israel. Denn der Oberste Gerichtshof gilt im Land als die einzige Instanz, die der Regierung Grenzen aufzeigen kann. Der Staat Israel hat keine Verfassung, sondern beruht auf einer Sammlung von Grundgesetzen. Befürworter argumentieren hingegen mit einer Wiederherstellung des Gleichgewichts in der Gewaltenteilung. Sie werfen der Justiz vor, sich zu sehr in politische Entscheidungen einzumischen.

Wie sind Sie das Gesicht der Protestbewegung gegen die Justizreform geworden? Es ist ja nicht unbedingt naheliegend, dass eine Teilchenphysikerin zur Aktivistin wird …

Damals, im Jahr 2020, während des ersten Covid-Lockdowns, hatte Israel gerade seine dritte Wahl in Folge hinter sich. Das heißt, wir hatten eine nicht gewählte Regierung, ein schlecht funktionierendes Parlament und dann, ein paar Tage bevor Netanjahu sich in einem Prozess hätte verantworten müssen, wurden die Gerichte geschlossen. Das demokratische System in Israel beruht auf der gegenseitigen Kontrolle dieser drei Instanzen, und plötzlich hatten wir nicht nur eine nicht offiziell legitimierte Regierung, sondern auch kein anderes staatliches Organ mehr, das deren Entscheidungen hätte anzweifeln können. Also gingen wir auf die Straße, um die Demokratie des Staats zu sichern. Für mich war es von Anfang an ein Kampf für eine bessere, demokratischere Zukunft. Ein Video von mir, in dem ich die Menschen dazu aufrufe, sich uns auf dem Weg zum Parlament anzuschließen, ging in den sozialen Medien viral.

Nahostkonflikt | Auf die Attacke militanter Hamas-Kämpfer am 7. Oktober 2023 vom Gazastreifen aus antwortete Israel mit massiven Luftangriffen und einer Bodenoffensive. Mehr als 10 000 Palästinenserinnen und Palästinenser sowie mindestens 1200 Israelis wurden dabei bislang getötet.

Und als nun im Sommer für die nächste große Protestwelle Menschen gesucht wurden, die sich öffentlich auf einer Bühne äußern, wurde ich gefragt. Und, na ja, es hat sich dann verselbstständigt. Es war nie meine Intention, das Gesicht dieser Demokratiebewegung zu werden, es ist einfach so passiert.

Gibt es aus Ihrer Sicht eine Verbindung zwischen der Justizreform und dem Krieg?

Die Hamas hat diesen Krieg begonnen. Ihre Absicht ist es, Israel zu schwächen. Das ist zunächst einmal unabhängig davon, was im Land vor sich geht. Die Tatsache, dass unsere Geheimdienste nicht im Voraus über das geplante Datum des brutalen Angriffs Bescheid wussten, ist allerdings ein großer Fehler, der untersucht werden muss. Dass auch die Reform eine Bedrohung für die Sicherheit Israels darstellt, haben im vergangenen Jahr jedoch etliche hochrangige Militär- und Sicherheitspolitiker, sowohl die derzeit amtierenden als auch frühere, immer wieder erklärt. Unser Verteidigungsminister wurde im März gefeuert, weil er genau dies öffentlich ausgesprochen hatte.

In gewisser Weise ist das also miteinander verwoben. Wir haben im Sommer 2023 protestiert, um das Land zu schützen. Jetzt, nur wenige Monate später, kämpfen wir, um das Land zu schützen. Wir wollen ein anständiges Land, dessen Regierung sich für seine Bürger einsetzt, anstatt sie zu verraten. Zwar befinden wir uns nun in einem Krieg gegen eine Bedrohung von außen, aber die Gefahr von innen ist nicht gebannt. Die Regierung ist wirklich eine Schande.

Was ist die Rolle von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in diesem Krieg?

Da müssen Sie gar nicht mich zitieren, sondern können wiederholen, was Netanjahu selbst im Jahr 2006 gesagt hat, damals noch als Oppositionsführer: Die Verantwortung liegt beim Ministerpräsidenten – jeden einzelnen Tag. Der Verteidigungsminister, die Leitungsebene des Militärs und auch der Geheimdienst sind alle zweitrangig. Es ist seine Schuld allein, dass das Land derart kollabiert ist. Netanjahu hat Menschen für die höchsten Ämter allein auf der Grundlage ihrer Loyalität zu ihm ausgewählt. Er hat Menschen nominiert, die ihm dienen, nicht dem Volk. Menschen, die keine Expertise haben, keine Fähigkeiten, keine Kompetenzen darin, das Land voranzubringen. Alles, was in Israel nicht funktioniert, geht auf seine Kappe.

Selbst wenn der Krieg morgen vorbei wäre – was wir uns selbstverständlich alle wünschen –, ist Israel verwundet. Was heißt das für die Zukunft? Wie geht es nun weiter?

Wir brauchen neue Wahlen und eine neue Regierung. Aber es wird nicht leicht, das zu erreichen. Netanjahu wird sich sehr an seiner Macht festklammern. Ich bin mir noch nicht sicher, was aus all der Angst und dem Schmerz der Gesellschaft werden wird. Das Einzige, was sicher ist, ist, dass wir unser Land nicht kampflos aufgeben. Wir müssen es schaffen, dass sich all das Leid in etwas Gutes verwandelt. Wir müssen diesen Ort zu einem Ort machen, der allen gleichermaßen zugutekommt.

Mir ist außerdem wichtig zu betonen, dass hier nicht nur unsere Werte unter Beschuss stehen, sondern die der ganzen westlichen, demokratischen Welt. Alle, die so wie ich davon träumen, in einem Land zu leben, in dem Kinder in Frieden aufwachsen können und alle Möglichkeiten bekommen, die sie brauchen, sollten sich dafür einsetzen, diesen Krieg möglichst schnell zu beenden. Menschlichkeit muss gewinnen. Demokratie muss gewinnen.

Schreiben Sie uns!

Wenn Sie inhaltliche Anmerkungen zu diesem Artikel haben, können Sie die Redaktion per E-Mail informieren. Wir lesen Ihre Zuschrift, bitten jedoch um Verständnis, dass wir nicht jede beantworten können.

Partnerinhalte

Bitte erlauben Sie Javascript, um die volle Funktionalität von Spektrum.de zu erhalten.