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Geophysik: Quantenmechanik erklärt Riesenwellen am Äquator

Gigantische Wellen bewegen sich fortlaufend entlang des Äquators. Das Phänomen lässt sich auf überraschende Weise erklären: wenn man die Abläufe auf unserem Planeten mit den mikroskopischen Vorgängen in einer neuen Klasse von Materialien vergleicht.
Riesenwelle
Riesige Wellen fließen entlang des Äquators in östliche Richtung. Dieses Phänomen lässt sich erklären, indem man die Erde als topologisches Material betrachtet.

Blickt man bei der Erde auf die Strömungen der Luft in der Atmosphäre und des Wassers in den Meeren, ergibt sich ein konfuses Bild: Überall wechseln sich Turbulenzen, Wellen oder laminare Flüsse ab. Am Äquator ist das allerdings anders. Dort bilden sich inmitten des Chaos beständige, Tausende von Kilometern lange Wellen. Sie verursachen wiederkehrende Wettermuster wie El Niño. Diese gigantischen »Kelvinwellen« bewegen sich sowohl durch den Ozean als auch in der Atmosphäre immer in Richtung Osten.

Seit den 1960er Jahren gibt es zwar eine mathematische Erklärung der äquatorialen Kelvinwellen – doch nicht allen Fachleuten genügt das. Denn es fehlte eine intuitive, physikalische Begründung für die Existenz der Wellen. Geophysiker wollten das Phänomen anhand grundlegender Prinzipien verstehen, um herauszufinden, warum Kelvinwellen am Äquator entstehen. »Oder warum sie sich immer ostwärts bewegen«, fügt der Mathematiker Joseph Biello von der University of California, Davis, hinzu.

2017 beleuchteten drei Physiker das Problem aus einem völlig neuen Blickwinkel. Sie verglichen unseren Planeten mit einem Quantensystem. Dadurch stellten sie eine unerwartete Verbindung zwischen Meteorologie und Quantenphysik her. Denn die Erdrotation beeinflusst Fluide auf eine ähnliche Weise, wie Magnetfelder die Bahnen von Elektronen in Quantenmaterialien ablenken, so genannten topologischen Isolatoren. Wenn man den Planeten als einen riesigen topologischen Isolator begreift, so die Forscher, lässt sich der Ursprung der äquatorialen Kelvinwellen erklären.

»Wir leben in einem topologischen Isolator.«Brad Marston, Physiker

Die Analogie sah zwar schlüssig aus, existierte jedoch nur auf dem Papier. Niemand hatte die Hypothese durch direkte Beobachtungen überprüft. Dann beschrieb ein Team von Wissenschaftlern im Juni 2023 in einer noch nicht begutachteten Veröffentlichung die direkte Messung von sich drehenden atmosphärischen Wellen – und lieferte damit genau jene Hinweise, die zur Untermauerung der topologischen Theorie nötig waren. Die Arbeit hat bereits dazu beigetragen, die Sprache der Topologie auf andere Systeme zu übertragen, und sie könnte zu neuen Erkenntnissen über Wellen- und Wettermuster auf der Erde führen. »Das ist eine direkte Bestätigung der topologischen Ideen, und sie basiert auf tatsächlichen Beobachtungen«, sagt der Physiker Brad Marston von der Brown University, Koautor der neuen Arbeit. »Wir leben in einem topologischen Isolator.«

Die Corioliskraft beeinflusst die Meeresströmungen

Es gibt zwei Möglichkeiten dafür, die Geschichte von Anfang an zu erzählen. Die erste beginnt mit William Thomson, auch bekannt als Lord Kelvin. 1879 stellte der Brite fest, dass die Gezeiten im Ärmelkanal an der französischen Küste stärker ausgeprägt sind als auf der englischen Seite. Wie Thomson damals erkannte, lässt sich das durch die Erdrotation erklären. Die Drehung des Planeten verursacht eine Kraft (die Corioliskraft), die Flüssigkeiten auf jeder Hemisphäre in unterschiedliche Richtungen wirbelt: Auf der Nordhalbkugel drehen sich Strudel im Uhrzeigersinn, auf der Südhalbkugel entgegen dem Uhrzeigersinn. Deshalb wird das Wasser des Ärmelkanals gegen die französische Küste gedrückt, an der sich die Wellen folglich entlang bewegen müssen. Diese so genannten Küsten-Kelvinwellen wurden seitdem überall auf der Welt beobachtet. Auf der Nordhalbkugel laufen sie im Uhrzeigersinn um Landmassen herum (mit der Küstenlinie auf der rechten Seite der Welle), auf der Südhalbkugel entgegen dem Uhrzeigersinn.

Es sollte fast ein Jahrhundert dauern, bis Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die viel größeren äquatorialen Wellen entdeckten und sie mit den Küsten-Kelvinwellen in Verbindung brachten. Diesen Zusammenhang entdeckte der Meteorologe Taroh Matsuno 1966, als er das Verhalten von Fluiden (sowohl Luft als auch Wasser) in der Nähe des Äquators mathematisch modellierte. Mit seinen Berechnungen zeigte Matsuno, dass Kelvinwellen auch am Äquator existieren sollten. Im Meer würden sie jedoch nicht gegen eine Küstenlinie stoßen, sondern mit Wasser von der gegenüberliegenden Hemisphäre kollidieren, das in die entgegengesetzte Richtung rotiert. Matsunos Berechnungen zufolge sollten die daraus resultierenden äquatorialen Wellen ostwärts fließen – und sie müssten riesig sein, Tausende von Kilometern lang.

Zwei Jahre später bestätigten Forscherinnen und Forscher Matsunos Vorhersagen, als sie die ausgedehnten äquatorialen Kelvinwellen erstmals beobachteten. »Es war eines der wenigen Male, dass in diesem Forschungsbereich die Theorie der Entdeckung vorausging«, sagt der Meteorologe George Kiladis von der National Oceanic and Atmospheric Administration in Washington, D.C. Kiladis und ein Kollege bestätigten später eine weitere Vorhersage von Matsuno, als sie die Länge einer Kelvinwelle mit der Frequenz ihrer Schwingungen in Beziehung setzten. So eine Verknüpfung ist als Dispersionsrelation bekannt. Ihr Ergebnis stimmte mit Matsunos Gleichungen überein.

Die Rechnung ging also auf. Die Äquatorialwellen existieren, genau wie vorhergesagt. Aber die Formeln von Matsuno konnten nicht alles erklären. Nur weil man eine Gleichung lösen kann, heißt das nicht, dass man sie auch versteht.

»Hätte ich auf die äquatorialen Regionen der Erde geachtet, wäre mir das schon viel früher aufgefallen«Brad Marston, Physiker

Wie sich nun herausstellte, versteckt sich die Erklärung offenbar im Reich der Quanten – ein Ort, den Geowissenschaftler nur selten betreten. Umgekehrt befassen sich die meisten Quantenphysiker nicht mit den Geheimnissen geophysikalischer Strömungen. Marston ist eine Ausnahme. Er begann seine Karriere in der Festkörperphysik, interessierte sich aber auch für Klima und das Verhalten von Fluiden in den Ozeanen und der Erdatmosphäre. Marston vermutete einen Zusammenhang zwischen geophysikalischen Wellen und Elektronen, die sich durch ein Magnetfeld bewegen. Aber er wusste nicht, wo er diese Verbindung finden konnte – bis sein Kollege Antoine Venaille ihm riet, sich den Äquator genauer anzusehen.

Marston erkannte, dass die Dispersionsrelation der äquatorialen Kelvinwellen (die Kiladis gemessen hatte) der Dispersionsrelation von Elektronen in einem topologischen Isolator bemerkenswert ähnelte. »Jeder Festkörperphysiker hätte das sofort erkannt«, resümiert Marston. »Hätte ich auf die äquatorialen Regionen der Erde geachtet, wäre mir das schon viel früher aufgefallen.«

Was passiert, wenn quantenmechanische Kräfte am Werk sind?

Und hier beginnt die Geschichte zum zweiten Mal mit der Entdeckung von topologischen Materialien. 1980 wollte der Physiker Klaus von Klitzing untersuchen, wie sich Elektronen in einem Magnetfeld verhalten, wenn sie so stark abgekühlt sind, dass ihre Quantennatur bemerkbar wird. Ihm war bereits klar, dass ein Magnetfeld die Teilchen von ihrer eigentlichen Bewegungsrichtung ablenkt, wodurch sie entlang eines Kreises rotieren. Aber von Klitzing wusste nicht, was passieren würde, wenn quantenmechanische Effekte am Werk sind.

Von Klitzing kühlte die Elektronen innerhalb eines Materials fast auf den absoluten Temperaturnullpunkt ab. Wie er vermutete, vollenden die Elektronen an der Kante eines Materials nur die Hälfte eines Kreises, bevor sie auf den Rand treffen. Sie wandern dann entlang dieser Kante, bewegen sich in eine einzige Richtung und erzeugen dabei einen Strom. Von Klitzing fand heraus, dass dieser bei sehr niedrigen Temperaturen – wenn die Quantennatur der Elektronen zum Vorschein tritt – erstaunlich robust ist. Er ist immun gegen Schwankungen des angelegten Magnetfelds, Verunreinigungen im Material und alle anderen Störungen im Experiment. Damit hatte der Physiker den so genannten Quanten-Hall-Effekt entdeckt.

Topologischer Isolator

In den folgenden Jahren erkannten Physiker, dass der beständige Kantenstrom auf ein inzwischen weithin anerkanntes Konzept hindeutet: ein topologisches Material. Die Topologie ist ein Teilbereich der Mathematik und beschreibt geometrische Formen anhand ihrer unveränderlichen Eigenschaften. Wenn ein Objekt auseinandergezogen oder zusammengequetscht (oder anderweitig verformt) wird, ohne dass es zerreißt, nennt man jene Eigenschaften, die dadurch gleich bleiben, »topologisch geschützt«. Wenn man zum Beispiel ein Möbiusband bastelt, indem man einen Papierstreifen einmal verdreht und die beiden Enden zusammenklebt, ändert sich die Anzahl der Verdrehungen nicht, egal wie man das Band verformt. Die einzige Möglichkeit, die Verdrehung zu variieren, besteht darin, das Möbiusband zu zerschneiden. Die Windungszahl des Streifens ist also eine topologisch geschützte Eigenschaft.

Diese topologischen Überlegungen lassen sich auch außerhalb der Geometrie anwenden. Als die Elektronen im Inneren von von Klitzings gekühltem Material im Magnetfeld herumwirbelten, bildeten ihre Wellenfunktionen eine Art Möbiusband. Die topologischen Verdrehungen im Inneren des Materials führen zu einem robusten Strom entlang der Kanten. Mit anderen Worten ist die Stabilität des Kantenstroms eine topologisch geschützte Eigenschaft, die durch die verdrehten Wellenfunktionen der Elektronen im Inneren erzeugt wird. Materialien wie von Klitzings gekühlte Proben werden inzwischen als topologische Isolatoren bezeichnet: Obwohl ihr Inneres isolierend ist, ermöglicht die Topologie einen Stromfluss am Rand des Materials.

»Das war die erste nicht triviale Antwort auf die Frage, warum die Kelvinwellen überhaupt existieren«Joseph Biello, Mathematiker

Die Regelmäßigkeit in den äquatorialen Kelvinwellen brachten Marston und seine Kollegen auf den Gedanken, sie mit dem robusten Stromfluss entlang des Rands eines topologischen Isolators zu vergleichen. In einer 2017 bei »Science« erschienenen Arbeit erklären Marston und die Physiker Pierre Delplace und Venaille von der École Normale Supérieure in Lyon, dass die Corioliskraft Flüssigkeiten auf der Erde so beeinflusst wie das Magnetfeld von Klitzings Elektronen. In der planetengroßen Version eines topologischen Isolators entsprechen die äquatorialen Kelvinwellen dem Strom, der am Rand eines Quantenmaterials fließt. Die gewaltigen Wellen breiten sich am Äquator aus, weil er die Grenze zwischen zwei verschiedenen Isolatoren (den Hemisphären) bildet. Und sie fließen ostwärts, weil die Erdrotation auf der Nordhalbkugel Flüssigkeiten im Uhrzeigersinn verwirbelt, während sie sich auf der Südhalbkugel andersherum drehen.

»Das war die erste nicht triviale Antwort auf die Frage, warum die Kelvinwellen überhaupt existieren«, sagt Biello. Das Trio habe das Phänomen anhand allgemeiner, grundlegender Prinzipien erklärt, anstatt einfach nur Begriffe in mathematische Gleichungen einzufügen. Venaille ist davon überzeugt, dass die topologische Beschreibung erklären könnte, warum die äquatorialen Kelvinwellen selbst angesichts von Turbulenzen und Chaos, wie dem unbeständigen Wetter, bestehen bleiben. Sie widerstehen Störungen, erklärt er, so wie der Randstrom eines topologischen Isolators.

Suche nach den Entsprechungen der Elektronen

Bis dahin war die Verbindung zwischen topologischen Systemen und den äquatorialen Wellen aber nur ein theoretisches Konstrukt. Zwar konnten die Forscher die ostwärts fließenden Kelvinwellen beobachten, aber sie hatten noch keine Analogie zu den Elektronen auf den Kreisbahnen im Inneren des topologischen Isolators, die in einem Quantensystem die Randströme verursachen. Um ihre Theorie zu untermauern, musste das Forscherteam Wellen mit topologisch geschützten Eigenschaften außerhalb des Äquators finden.

2021 machte sich Marston zusammen mit Weixuan Xu, damals an der Brown University, und weiteren Kollegen auf die Suche nach solchen Wellen. Sie konzentrierten sich dabei auf die Erdatmosphäre, wo die Corioliskraft auf die gleiche Art Druckwellen anregt wie im Ozean. Das Team untersuchte eine bestimmte Art von Wellen, so genannte Poincaré-Wellen, die in der Stratosphäre in etwa zehn Kilometer Höhe entstehen. Die im Vergleich zum Ozean und zur Troposphäre ruhige Stratosphäre eignete sich gut dafür, da hier weniger störende Einflüsse die gesuchten Wellen überlagern.

Zunächst durchkämmten sie einen Datensatz des Europäischen Zentrums für mittelfristige Wettervorhersage, das atmosphärische Daten von Satelliten, bodengestützten Sensoren und Wetterballons erfasst und mit meteorologischen Modellen kombiniert. Dort fand das Team Hinweise auf die Poincaré-Wellen. Anschließend verglichen sie die Höhe der Wellen mit der Geschwindigkeit ihrer horizontalen Bewegung. Bei der Berechnung des Versatzes zwischen diesen Wellen – der »Phase« zwischen den Schwingungen – fanden die Forscher einen schwankenden Wert: Die Phase hing von der genauen Länge der Welle ab. Bei der Auswertung kam heraus, dass sich die Phase spiralförmig dreht und einen Wirbel bildet. Damit ähnelt ihr Verhalten den Wellenfunktionen eines topologischen Isolators. Das war der Hinweis, nach dem die Forscher gesucht hatten.

Ein topologischer Planet

Diese Arbeiten öffnen Fachleuten die Tür, um die Topologie von Fluiden in vielen anderen Zusammenhängen zu untersuchen. Zuvor bestand das Problem darin, dass sich die Systeme in einem Punkt erheblich von Quantenmaterialien unterscheiden: Ihnen fehlt eine periodische Anordnung wie etwa die der Atome in einem Kristall. »Ich war überrascht zu sehen, dass sich die Topologie in fluiden Systemen ohne periodische Ordnung überhaupt definieren lässt«, sagt der theoretische Physiker Anton Souslov von der University of Bath in Großbritannien. Von den Fortschritten inspiriert, half Souslov dabei, neue Methoden zu entwickeln, um die Topologie von Flüssigkeiten zu untersuchen.

Jetzt suchen Fachleute nach Verbindungen zwischen den Bewegungen von Quantenteilchen und Strömungen auf planetaren oder noch größeren Skalen. Zum Beispiel fragen sich Delplace und Venaille, ob die Dynamik von Sternenplasma ebenfalls einem topologischen Isolator ähneln könnte. Auch wenn solche Fragen noch offen sind, hat die Arbeit der Forscherinnen und Forscher bereits zu einem besseren Verständnis der Rolle der Topologie in vielen Systemen beigetragen.

Im September 2022 untersuchte der theoretische Physiker David Tong von der Cambridge University dieselben Fluidgleichungen, die Thomson zur Beschreibung von Kelvinwellen verwendet hatte. Doch dieses Mal betrachtete er sie aus einer topologischen Perspektive. So konnte Tong die Flüssigkeiten auf der Erde erneut mit dem Quanten-Hall-Effekt in Verbindung bringen, allerdings mit einem anderen Ansatz, der die Sprache der Quantenfeldtheorie verwendet.

Die Arbeiten verdeutlichen, wie allgegenwärtig topologische Konzepte in unserer physikalischen Welt sind, von der Festkörperphysik bis hin zur Strömung von Flüssigkeiten. Es ist noch unklar, ob die Behandlung der Erde als topologischer Isolator die Geheimnisse der großräumigen Wettermuster entschlüsseln oder gar zu neuen geophysikalischen Entdeckungen führen wird. Im Moment handelt es sich noch um eine reine Neuinterpretation der irdischen Phänomene. Vor ein paar Jahrzehnten war die Anwendung der Topologie auf Festkörper gleichermaßen bloß eine Neuinterpretation; von Klitzing entdeckte zwar den robusten Kantenstrom, ahnte jedoch nicht, dass das Phänomen mit Topologie verknüpft ist. Erst später erkannten Fachleute den Zusammenhang zur mathematischen Disziplin, die inzwischen eine Vielzahl neuer Quantenphänomene und neuer Materialklassen enthüllt hat.

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  • Quellen
Banerjee, D. et al.: Odd viscosity in chiral active fluids. Nature communications 8, 2017 Delplace, P. et al.: Topological origin of equatorial waves. Science 358, 2017 Tong, D.: A gauge theory for shallow water. ArXiv: 2209.10574, 2022 Xu, W. et al.: Topological Signature of Stratospheric Poincare – Gravity Waves. ArXiv: 2306.12191, 2023

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