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Ornithologie: Vorlaute Städter, leise Landeier

Angeblich beschleunigt Stadtluft den Lebensrhythmus, macht der urbane Alltag hektischer und bisweilen weniger gesprächig. Auch europäische Kohlmeisen können sich im Vergleich zu ihren ländlichen Vettern diesem Trend anscheinend nicht entziehen.
Kohlmeise
Welch Idylle – irgendwo auf dem Lande, fernab der nächsten Bundesstraße oder des nächsten Provinzflughafens, kein Landwirt ackert, kein Waldarbeiter lässt die Motorsäge aufheulen, und kein notorisch lauter Wandervereinsausflug trübt die Stille. In der Ferne ertönt das Hämmern eines Spechts, Bienen summen, dann und wann macht ein Kuckuck seinem Namen vernehmlich Ehre, Amsel, Drossel, Fink und Meise zwitschern in den Baumwipfeln oder vom Waldboden. Eher gemächlich schreitet hier das Leben voran.

Ganz anders die Stadt: Autos rauschen vorbei, Pressluftgehämmer reißt den Asphalt wie das Trommelfell auf, gelegentlich zieht eine Techno-Parade vorüber, nächtlich-alkoholisierte Kneipenbesucher teilen geplagten Anwohnern per Verbalinjurien oder romantischen Säuseleien mit, dass sie den Wirt und seine Sperrstunde verachten beziehungsweise bestimmte Damen oder Fußballvereine verehren. Kurzum, das Leben in der Urbanität bietet neben mancher Annehmlichkeit mit Sicherheit einen erhöhten Geräuschpegel, der die Nerven strapaziert, überdosiert die Gesundheit schädigt und bisweilen die Kommunikation stört. Gegen den Lärm schreit es sich schließlich nur schwer an.

Das gilt auch für Vögel, die in hohem Maße auf verbalen Ausstausch angewiesen sind, um Weibchen anzulocken, das Revier abzustecken oder vor Nachbars Mieze zu warnen, die im Hinterhalt liegt. Wie verschaffen sich die Piepmätze diesbezüglich Abhilfe? Fliehen sie den Krach? Oder passen sie sich der Geräuschkulisse an? Fragen, welche die Niederländer Hans Slabbekoorn und Ardie den Boer-Visser von der Universität Leiden schon seit einiger Zeit an Kohlmeisen (Parus major) untersuchen.

Diese Singvögel zählen zu den durchsetzungsfähigsten Urbanisten, sie flattern durch jeden Stadtpark und scheuen auch nicht vor den belebtesten Fußgängerzonen zurück, solange es dort ein wenig kümmerliches Straßenbegleitgrün gibt. Eines ihrer Erfolgsgeheimnisse haben Slabbekoorn und den Boer-Vissen nun offenkundig in einem Vergleich von je zehn Metropolen- mit angrenzenden Waldpopulationen der Art aus ganz Europa entschlüsselt: Die Tiere pfeifen ihrer städtischen oder ländlichen Umwelt angemessen. Gleich ob in Berlin, Prag, London oder Amsterdam – Kohlmeisen, die mit viel dumpfem Hintergrundlärm konfrontiert sind, stimmten ihre Lieder überall in höheren Frequenzen an als ihre Verwandten in den deutlich leiseren Umlandregionen und vermieden tiefe Töne, die beispielsweise vom Vehrkehrsbrummen verschluckt werden könnten.

Mit den hohen Tonlagen heben sie sich deutlich vom niederfrequenten Grundrauschen der Stadt ab, doch war dies nicht die einzige Innovation, welche die Forscher feststellen konnten. So passen sich die Vögel auch an die urbane Hektik an, indem sie kürzer und schneller singen, während sich die ruralen Artgenossen mehr Zeit für die Modulation und Ausarbeitung ihrer Darbietungen nehmen. Die Städter verkürzen einfach die Abstände zwischen den einzelnen Wiederholungen. Andererseits bestätigte sich die oft getätigte Aussage, nach der Agglomerationen wie Brüssel oder Paris Quell der Inspiration und Epizentren für Neuigkeiten seien: Die Stadtmeisen stimmten seltener die für die Art zumindest früher allgemein typischen Gesänge mit zwei bis vier Noten an und setzten stattdessen häufiger auf ungewöhnliche Liedzeilen, die bisweilen aus nur einer, manchmal jedoch auch aus fünf Noten bestehen konnten. In Rotterdam entdeckten die beiden Biologen sogar ein Exemplar, das ein 16-notiges Stück zum Besten gab und dabei Versatzstücke der Blaumeise (Parus caeruleus) mit einbaute.

Mit ihren Künsten sind die urbanisierten Kohlmeisen allerdings nicht allein. Nachtigallen (Luscinia megarhynchos) etwa drehen ebenfalls auf, je stärker der Verkehrslärm ist. Schließlich, so geben Slabbekoorn und den Boer-Visser zu bedenken, ist es für die Vögel immer noch energiesparender, lauter zu singen, als sich in kräftezehrende Revierkämpfe zu verstricken, nur weil der Nebenbuhler den Abgrenzungssong mangels tonaler Durchsetzungsfähigkeit nicht vernommen hat. Ganz zu schweigen von ausbleibenden Nachwuchsfreuden, wenn das Weibchen nicht zu einem findet, nur weil dieser leise Klänge anstimmt. Und lernfähige Rabenvögel wie Dohlen und Elstern oder Stare imitieren vielfältig die Geräusche ihrer Umgebung wie Klingeltöne von Handys oder quietschende Schaukeln, wie Ornithologen immer wieder aus deutschen oder britischen Städten berichten. Nur zu kompliziert darf die Tonfolge nicht sein. Höhere Töne bei hohem Umgebungslärm setzen manche Arten jedoch ebenso bei natürlichen Geräuschkulissen ein: Buchfinken (Fringilla coelebs), die in der Nähe von tosenden Wasserfällen oder Stromschnellen hausen, bauen auf dieses Stilmittel, um auf sich aufmerksam zu machen.

Womöglich sei in dieser Anpassungsfähigkeit – beziehungsweise in einem etwaigen Mangel daran – außerdem ein Grund für die unterschiedlichen Erfolge einzelner Vogelarten in urbanisierten Regionen zu suchen, wie die beiden Niederländer anschließen. Denn Spezies, deren Gesang von Haus aus einen breiten Frequenzbereich abdeckt und die ihn flexibel an ihre Umwelt anpassen können, haben einen deutlichen Vorteil gegenüber Vertretern, die entsprechend frühzeitig auf Tonhöhe und -variabilität festgelegt sind. Bei Zebrafinken (Taeniopygia guttata), die in der Verhaltensforschung beliebt sind, setzen sich die Melodien bereits in den ersten Lebensmonaten und können später wahrscheinlich allenfalls schwerlich auf neue Lebenssituationen umgestellt werden. Der Gesang könnte also vielleicht auch einer der Gründe sein, warum die immer gleichen, eher lauten Spezies in europäischen Städten hausen, während leisere Vertreter verschwinden.

Ob aber die Stadt- und Landkohlmeisen bereits nicht mehr miteinander kommunizieren können und sich deshalb bereits auf dem Weg zu jeweils eigenständigen Arten befinden, ist sehr fraglich. Schließlich überlappen ihre Verbreitungsgebiete in den Vorstädten, wo sie sich weiterhin munter paaren. Dass Stadtleben selbst für laute Vögel jedoch nicht immer unbedingt fruchtbar ist, zeigte schon vor Jahren eine Untersuchung der britischen Naturschutzorganisation Royal Society for the Protections of Birds. Verkehrslärm an Straßen mit bis zu 60 000 Autos täglich störte das Verhalten der Vögel im Umkreis von etwa drei Kilometern, der von ruhigeren Verkehrsachsen mit 10 000 Autos immerhin noch in einem Radius von eineinhalb Kilometern. Die Folge: Sie bekamen weniger Nachwuchs.

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