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Modellansatz: Tonsysteme

Klavierspiel

Stephan Ajuvo (@ajuvo) vom damals(tm) Podcast, Damon Lee von der Hochschule für Musik Karlsruhe und Sebastian Ritterbusch trafen sich zur Gulaschprogrammiernacht 2019 des CCC-Erfa-Kreises Entropia e.V., die wieder im ZKM und der HfG Karlsruhe stattfand. Es geht um Musik, Mathematik und wie es so dazu kam, wie es ist.

Damon Lee unterrichtet seit einem Jahr an der Hochschule für Musik und befasst sich mit Musik für Film, Theater, Medien und Videospielen. Im aktuellen Semester verwendet er Unity 3D, um mit räumlicher Musik und Klängen virtuelle Räume im Gaming-Umfeld umzusetzen. Auch im Forschungsprojekt Terrain wird untersucht, inwieweit räumliche Klänge eine bessere Orientierungsfähigkeit im urbanen Umfeld unterstützen können.

Die Idee zu dieser Folge entstand im Nachgang zur gemeinsamen Aufnahme von Stephan und Sebastian zum Thema Rechenschieber, da die Musik, wie wir sie kennen, auch ein Rechenproblem besitzt und man dieses an jedem Klavier wiederfinden kann. Dazu spielte Musik ebenso eine wichtige Rolle in der Technikgeschichte, wie beispielsweise das Theremin und das Trautonium.

Die Klaviatur eines herkömmlichen Klaviers scheint mit den weißen und schwarzen Tasten alle Töne zu repräsentieren, die unser gewöhnliches Tonsystem mit Noten darstellen kann. Der Ursprung dieses Tonsystems entstammt recht einfachen physikalischen und mathematischen Eigenschaften: Wird eine Saite halbiert und im Vergleich zu zuvor in Schwingung gebracht, so verdoppelt sich die Frequenz und wir hören den einen gleichartigen höheren Ton, der im Tonsystem auch gleich benannt wird; er ist nur um eine Oktave höher. Aus einem Kammerton a' mit 440 Hz ändert sich in der Tonhöhe zu a'' mit 880 Hz.

Neben einer Verdopplung ergibt auch eine Verdreifachung der Frequenz einen für uns Menschen angenehmen Klang. Da aber der Ton über eine Oktave höher liegt, wird dazu der wieder um eine Oktave tiefere Ton, also der Ton mit 1,5-facher Frequenz, betrachtet. Dieses Tonintervall wie beispielsweise von a' mit 440 Hz zu e'' mit 660 Hz ist eine (reine) Quinte. Entsprechend des Quintenzirkels werden so alle zwölf unterschiedlichen Halbtöne des Notensystems innerhalb einer Oktave erreicht.

Nur gibt es hier ein grundsätzliches mathematisches Problem: Gemäß des Fundamentalsatzes der Arithmetik hat jede Zahl eine eindeutige Primfaktorzerlegung. Es ist also nicht möglich, mit mehreren Multiplikationen mit 2 zur gleichen Zahl zu gelangen, die durch Multiplikationen mit 3 erreicht wird. Somit kann der Quintenzirkel nicht geschlossen sein, sondern ist eigentlich eine niemals endende Quintenspirale, und wir müssten unendlich viele unterschiedliche Töne statt nur zwölf in einer Oktave haben.

In Zahlen ist \left(\frac32\right)^{12}=129,746\ldots \not= 128=2^7. Nach zwölf reinen Quinten erreichen wir also nicht genau den ursprünglichen Ton um sieben Oktaven höher, doch der Abstand ist nicht sehr groß. Es ist grundsätzlich unmöglich, ein endliches Tonsystem auf der Basis von reinen Oktaven und reinen Quinten zu erzeugen, und es wurden unterschiedliche Strategien entwickelt, mit diesem Problem zurechtzukommen.

Wird das Problem ignoriert und nur die letzte Quinte verkleinert, damit sie auf den ursprünglichen Ton um sieben Oktaven höher trifft, so ergibt sich eine schlimm klingende Wolfsquinte. Auch im Cellobau können durch Wahl der Verhältnisse der Saiten und der Schwingungsfrequenzen des Korpus fast unspielbare Töne entstehen, ein solcher Ton wird Wolfston genannt.

In der Musik wird die erforderliche Korrektur von Intervallen auch Kommaanpassung genannt, die beispielsweise bei Streichinstrumenten automatisch, da hier die Töne nicht auf festen Frequenzen festgelegt sind, sondern durch die Fingerposition auf dem Griffbrett individuell gespielt wird.

Bei Tasteninstrumenten müssen die Töne aber im Vorfeld vollständig in ihrer Frequenz festgelegt werden, und hier haben sich historisch verschiedene Stimmungen ergeben: Nach vielen Variationen, die immer durch die Wolfsquinte unspielbare Tonarten beinhalteten, wurde ab 1681 in der Barockzeit von Andreas Werkmeister die Wohltemperierte Stimmung eingeführt, in der zwar jede Tonart spielbar, aber jeweils individuelle Stimmungen und Charaktere vermittelten. Diese Unterschiede sollen Johann Sebastian Bach bis 1742 zum Werk »Das wohltemperierte Klavier« inspiriert haben, wo er die jeweiligen Eigenheiten aller Tonarten musikalisch umsetzte.

Die heute am häufigsten verwendete Gleichtstufige oder Gleichmäßige Stimmung verkleinert alle Quinten statt 1,5 auf den gleichen Faktor 2^{7/12}\approx1,498, so dass alle Töne auf die Frequenzen f(n)=440\cdot 2^{n/12} festgelegt sind. Damit sind alle Tonarten absolut gleichberechtigt gut spielbar, sie klingen jedoch alle gleich und haben alle den gleichen kleinen Fehler. Da aber gerade bei Streichinstrumenten natürlich passendere Frequenzen gewählt werden, klingen synthetisch erzeugte Streicher unrealistisch, wenn sie der exakten gleichstufigen Stimmung folgen.

Während bei der Klavierstimmung die Töne durch die Spannung der Saiten eingestellt werden können, so werden metallische Orgelpfeifen mechanisch mit einem Stimmeisen in ihrer Frequenz angepasst. Die Porzellanorgel ist eine ungewöhnliche unter anderem in Meißen hergestellte Form, deren Pfeifen natürlich auch mit Luft und nicht durch Vibration wie beim Schlaginstrument des Vibrafons klingen.

György Ligeti, populär bekannt durch seine Filmmusik für »2001: Odyssee im Weltraum« und »Eyes Wide Shut«, hat sich in seinem späteren Schaffenswerk auch mit exotischeren Tonsystemen auf Basis reiner Intervalle mit Streichern befasst. Beispielsweise sollte Continuum für Cembalo mit mitteltöniger Stimmung gespielt werden.

Um in der herkömmlichen Notation auf der Basis von zwölf Halbtönen auch feinere Tonschritte bezeichnen zu können, wurden die Zeichen Halb-Kreuz und Halb-b eingeführt, die auf die Vierteltonmusik führten. Hier stellt sich die interessante Frage, ob sich durch eine Erhöhung auf 24 Tönen pro Oktave bei reinen Intervallen der Fehler reduziert. Diese Frage beantwortet die Berechnung des entsprechenden Faktors aus Quinten (3/2)^n mit dem nächsten Faktor aus Oktaven 2^m und die Berechnung des relativen Fehlers, der korrigiert werden muss. Bis 53 Quinten haben folgende Kombinationen einen Fehler von weniger als 7 Prozent:

Quinten n 5 7 12 17 24 29 36 41 46 48 53
Oktaven m 3 4 7 10 14 17 21 24 27 28 31
Fehler5,1%6,8%1,4%3,8%2,8%2,5%4,2%1,1%6,6%5,6%0,2%

Ein sehr primitives Tonsystem kann also mit 5 Tönen aufgestellt werden, aber offensichtlich treffen 12 Töne deutlich besser. 24 Töne ermöglichen zwar mehr Tonvielfalt, verbessern aber den Fehler nicht. Erst ein Tonsystem mit 29 Tönen würde bei gleichstufiger Stimmung einen exakteren Klang als bei 12 Tönen ermöglichen. Noch besser wäre dann nur noch ein Tonsystem mit 41 Tönen pro Oktave, eine extreme Verbesserung ergibt sich bei 51 Tönen pro Oktave bei entsprechenden Problemen beim Bau einer solchen Klaviatur. Dazu haben Tonsystemerweiterungen in Vielfachen von 12 eine höhere Kompatibilität zum herkömmlichen System, und die Nähe der besseren Tonsysteme mit 29 zu 24 und 53 zu 48 zeigt, dass die Vielfachen in der Aufführung als Näherungen zu den besseren Darstellungen betrachtet werden können.

Gérard Grisey (z. B. Les Espaces Acoustiques) und Tristan Murail sind Vertreter der Spektralisten, die in ihren Partituren erweiterte Tonsysteme verwenden. Hier sind die Tonangaben jedoch harmonisch statt melodisch gedacht, sind also in der Aufführung entsprechend zu interpretieren.

Youtube: Gérard Grisey – Vortex Temporum – ensemble recherche

Natürlich dürfen die Töne von Instrumenten nicht nur mit ihrer Grundfrequenz betrachtet werden, sondern erst das Zusammenspiel aller Harmonischen und Obertöne in Vielfachen der Grundfrequenz machen den charakteristischen Klang eines Instruments aus. Durch eine Fourier-Analyse kann mathematisch ein solches Frequenzspektrum eines Geräuschs oder eines Tons berechnet werden. Oft ist hier eine überraschende Anzahl von Obertönen zu sehen, die von Menschen nicht unabhängig vom Grundton gehört werden.

In der Ottoman music finden sich oft für westeuropäische Ohren ungewohnte Harmonien, die aus ihrer langen orientalischen Geschichte andere Formen der Komposition und Tonsysteme entwickelt haben.

In der Audioelektronik wurden ab etwa 1912 Röhren für Verstärker und insbesondere in der Musik verwendet, und die exakte Bauform der Bleche und Elektroden hatte deutliche Auswirkungen auf die Übertragung und Erzeugung von Spektren und Audiowellen durch Verzerrungen.

Die Hammondorgel war eine sehr beliebte elektromechanische Orgel, wo an Stelle von Pfeifen rotierende Zahnräder vor elektrischen Abnehmern die Töne erzeugten. Mit Hilfe von Röhren wurde in der DDR versucht, Silbermann-Orgeln als elektronische Orgeln auf Basis des Prinzips der Hammondorgel nachzubilden. Die Klangfarben der Silbermann-Orgeln wurden hier durch elektronische Rekonstruktion der Obertöne nachempfunden.

Was als angenehmer Klang empfunden wird, ist eine persönliche Sache. Jedoch ist auffällig, dass der harmonische Grundklang eines Dur-Akkords einen sehr mathematischen Hintergrund hat: Die Quinte integriert den Faktor 3 beziehungsweise 3/2, also 1.5, die große Terz den Faktor 5 beziehungsweise 5/4, also 1.25, und die Quarte zur nächsten Oktave mit Faktor 2 ist der Faktor 4/3. Ein Zusammenspiel von so kleinen Faktoren wird bei kleinsten gemeinsamen Vielfachen wieder periodisch und ergibt einen gleichmäßigen Klang. Das persönliche Empfinden kann physiologisch mit dem Aufbau der Hörschnecke zusammenhängen, wird aber auch stark durch Erfahrungen geprägt.

Musik besteht allerdings nicht aus einem Klang, sondern einer zeitlichen Abfolge von Konsonanz und Dissonanz, und das gilt nicht nur für neue Veröffentlichungen alter Meister von Wolfgang Rehm. So spielt Ornette Coleman mit den Erwartungen der Hörenden bis ins Chaos.

Youtube: Ornette Coleman Solo – Rare!

Im Google Doodle zu Ehren von Johann Sebastian Bach wird versucht, aus einer Vorgabe mit einem neuronalen Netz gerade die erwartete Vervollständigung im Stil von Bach zu komponieren.

Eine Regelmäßigkeit oder Überraschung in der Musik kann auch im Sinn eines Informationsgehalts interpretiert werden: Sehr regelmäßige Formen sind vorhersagbar und enthalten wenig Information, die unerwartete Wendung hingegen trägt viel Information. Die als algorithmische Komposition bezeichneten Werkzeuge werden in vielen Programmen und Geräten angeboten, beispielsweise als automatische Begleitung. Die Ergebnisse erscheinen aber nicht sehr kreativ.

Bei der Verwendung von künstlichen neuronalen Netzen für die Komposition ist es leider nicht möglich, im Nachhinein zu analysieren, warum und wie bestimmte Passagen erzeugt wurden: Auch wenn sie mit existierenden Beispielen mit Backpropagation trainiert wurden, arbeiten sie dann als Black Box, aus der nicht direkt abstrakte Entscheidungsgrundlagen reproduziert werden können.

Alles Lernen setzt voraus, dass es ein Maß für die Güte gibt, was ist demnach die Qualität einer Komposition, was unterscheidet Kreativität vom Zufall, und wo stimmt dies zwischen unterschiedlichen Menschen überein? Wie man an prähistorischen Instrumenten erkennen kann, sind Klangerzeugung und Musik mit der Stimmbildung eng mit der Evolution des Menschen verknüpft. Recht spät entstanden Techniken zur Kodifizierung von Tonfolgen, wie beispielsweise in der Gregorianik. Es ist anzunehmen, dass der gesellschaftliche Einfluss auf die Kompositionen ihrer Zeit sehr groß war und es jeweils auch besondere Auswirkungen wie die Blue Notes gegeben hat.

Heute wird Komposition in vielen Schritten gelehrt: Angefangen von der Musiktheorie, dem Erlernen von Instrumenten und der Musikgeschichte wird dann in Kompositionstechniken unterschiedlicher Musikepochen eingeführt. Ausgehend von den Techniken von Josquin Desprez im 15. Jahrhundert zur Verwendung des Kontrapunktes im 16. Jahrhundert oder wie Johann Sebastian Bach den Kontrapunkt im 18. Jahrhundert nutzte. In den Notenblättern von Ludwig van Beethoven ist zu erkennen, wie er von Joseph Haydn das Komponieren auf Basis von Kontrapunkten erlernte und auch heute mit seinem inzwischen vom Beethoven-Haus umfangreich digitalisiertem Werk die Musikforschung begeistert.

Ein Lehrkanon kann sich wie Kompositionstechniken über die Zeit ändern, so wie in der Mathematik früher das Riemann-Integral Standard war, so sehen wir inzwischen den Übergang zum mächtigeren und der Wirklichkeit näheren Integralbegriff nach Lebesgue. Auch wenn heute häufiger der neuere Begriff zum Einsatz kommt, ist es sinnvoll und gut, frühere Techniken wie auch frühere Kompositionstechniken, zu kennen und daraus lernen zu können.

Im Berufsbild einer Komponistin oder eines Komponisten ist es heute meistens nicht so, dass der Kreativität freien Lauf gelassen wird, sondern die Arbeit erfolgt in interdisziplinärer Zusammenarbeit in einem Team. Besonders für Videospielmusik oder Filmmusik wird die Komposition auf besondere Situationen hin entwickelt und erarbeitet.

Wie Kreativität, Teamwork, künstliche Intelligenz und Programmieren zu neuen Lösungen zusammenwirken können, war auf der Gulaschprogrammiernacht auch in der Projektion der Schlangenprogrammiernacht zu sehen, wo verschiedene Programme als Schlangen in einer virtuellen Welt miteinander lebten. Der spielerische Umgang mit Algorithmen wie bei Schere, Stein, Papier führt schnell zur Spieltheorie und zu Herausforderungen im Hochfrequenzhandel.



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