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Blumenesche und Barockmätresse

Dieses Buch ist nicht neu. Der Brite Hugh Johnson, der im deutschen Sprachraum eigentlich nur als Verfasser eines Standardwerks über Wein bekannt ist, hat das Original "Trees" in der ersten Version bereits 1973 geschrieben. Es ist bei Weitem nicht das erste Buch zum Thema. Anders als der Untertitel behauptet, behandelt es nicht alle Wald- und Gartenbäume der Welt, sondern nur die wichtigsten, mit Schwerpunkt auf den gärtnerisch interessanten. Es ist – entgegen dem Klappentext – kein Standardwerk für Gärtner, Forstwirte und Landschaftsarchitekten, sondern wendet sich an den interessierten Laien. Und dem ersten Eindruck – groß, schwer und voller opulenter Bilder – zum Trotz ist es kein "Coffee Table Book", das man bewundernd durchblättert und dann ungelesen beiseitelegt. Gleichwohl ist es ein Prachtwerk, was auch der britische Historiker und Baumautor Thomas Pakenham im Vorwort bestätigt.

Man kann das Buch beim Blättern, Lesen und Anschauen genießen. Man kann es als Nachschlagewerk benutzen, beispielsweise um den Unterschied zwischen Sequoia und Thuja kennen zu lernen; systematische Vollständigkeit und absolute Korrektheit darf man nicht erwarten. Aber das Wertvollste, was den "Baum-Johnson" vor den meisten Baumbüchern auszeichnet: Er vermittelt nicht nur Wissen, sondern vor allem auch Freude; und er regt zur Pflanzung und Pflege von Bäumen im eigenen Garten an.

Das im ersten, etwa 70-seitigen Teil ausgebreitete Allgemeinwissen geht sehr in die Breite, aber mangels Raum kaum in die Tiefe. Aufbau und Funktion von Stamm, Ast, Blüte und Frucht sind übersichtlich dargestellt. Es folgen kurze Artikel über Wurzel und Boden, Waldbewirtschaftung, den Einfluss des Wetters, die Eiszeiten und – – einzigartig – acht Seiten über Persönlichkeiten, Forscher und Sammler, die sich in irgendeiner Weise um die Sache der Bäume verdient gemacht haben. Eine Johnson- Seite entspricht dabei immerhin zwei Seiten normaler Buchgröße.

Der zweite Teil, etwa 280 Seiten, beschreibt die wichtigsten Baumarten oder Artengruppen und entspricht damit für sich genommen schon einem üblichen Baumbuch. Großformatig werden einzelne Baumarten oder typische Wälder gezeigt, kleinere Bilder verdeutlichen Einzelheiten von Blatt und Frucht, Reihen von Zeichnungen erlauben Vergleiche von Arten oder Formen, Baumsilhouetten illustrieren die Größenverhältnisse und das Wuchsverhalten. Alle Bilder sind farbig und von vorzüglicher Qualität.

Der dritte Teil mit etwa 50 Seiten ist ein Tabellenwerk mit nützlichen Hinweisen zu Baumeigenschaften, Standortansprüchen und Verwendung. Wer das Buch als Anleitung für die Arbeit im eigenen Garten nutzen möchte, stößt vielleicht beim Blättern auf ein Bild der Blumenesche und liest: "Sie präsentiert im Frühjahr ihre herrlichen cremeweißen Blüten wie die Barockmätresse Nell Gwynn und ihre Zeitgenossinnen ihre von Samt gerahmten Dekolletés auf den Wänden ehrwürdiger Gemäldegalerien. Der eher kleine, reich belaubte Baum ist eine ausgezeichnete Art für den Landschaftsgärtner." Die sachlichen Einzelheiten wie der lateinische Name (Fraxinus ornus), die Wuchshöhe (bis zu 15 Meter, 4,5 Meter nach 20 Jahren), die Standortansprüche (sonnig), die Eigenschaften von Krone, Blättern, Blüten und Früchten sowie Hinweise zur Pflanzung und Pflege finden sich im Tabellenteil, mit dessen Hilfe man sich auch systematisch den zu den eigenen Vorstellungen passenden Baum heraussuchen kann.

Das Buch ist ein Schatzkästchen bereichernder Nebenbemerkungen. Die Blüten-Kirsche "ist mehr ein Ereignis als ein Baum und bildet den Höhepunkt im Jahreskreis; sie wirkt verführerisch und unschuldig zugleich". Die Platane "verbindet Eleganz mit Weltgewandtheit". "Die Kiefern folgen ihrer Evolutionstaktik und beschäftigen so die Botaniker." "Nach Thukydides sind die Völker des Mittelmeerraums dank dem Wein und der Olive der Barbarei entkommen." "Die Pappel hieß bei den Römern populus, Volk, weil sie nach Horaz zur Beschattung öffentlicher Versammlungsplätze angepflanzt wurde."

Johnson behandelt seine Bäume gern als Wesen mit einem individuellen Charakter. Da finden sich eigenwillige Attribute wie "Schönheitskönigin", "wandlungsfähige Exzentriker", "gigantisches Gemüse", "mit ehrenwerter Erscheinung" oder "mit Schrullen und Marotten".

Gelegentlich schiebt der Autor kleine, isolierte praktische oder wissenschaftliche Einzelheiten ein. Wie nahe am Stamm soll ein Ast abgeschnitten werden? Die Birnensorte Conférence ist noch immer die erfolgreichste im Handel; die Zeit ihres perfekten Reifegrads dauert nur 24 Stunden. Die Schwarze Walnuss (Juglans nigra) vergiftet benachbarte Bäume, besonders Obstbäume, durch einen Stoff aus ihren Wurzeln. Die Mehlbeere ist auf Grund moderner DNA-Analysen nicht mehr derselben Gattung Sorbus zuzuordnen wie die Vogelbeere, sondern einer neu eingerichteten Gattung namens Aria.

Aus Spektrum der Wissenschaft 04/2012
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Positiv für praktisch orientierte Benutzer ist das dauernde Eingehen auf die Größe und das Wuchsverhalten der Bäume. Wer bei der Pflanzung schon beachtet, wie groß ein Baum in 10, 20 oder 100 Jahren sein wird, kann viel Schaden und Ärger vermeiden. Vielen Architekten täte dieses Wissen gut!

Das Buch enthält weder Herkunftsangaben für Darstellungen und Tabellen noch ein Literaturverzeichnis. Der Kleindruck von Bildtexten und Tabellen und der leidige Graudruck machen das Lesen unnötig schwer. Die Übersetzung ist stilsicher und scheint fehlerlos zu sein. Das krasse Gegenstück zum gleichen Thema ist "The Secret Life of Trees" von Colin Tudge (2006). Bei ähnlicher inhaltlicher Breite geht es grundsätzlich, aber in knappstem Stil, in die Tiefe, verzichtet fast völlig auf Illustrationen und ganz auf persönliche und unterhaltende Zusätze. Kompakte 350 Gramm gegenüber ausschweifenden zwei Kilogramm!

Wer mit dem vorliegenden Buch den Geist Johnsons aufnimmt, wird mit der Zeit nicht nur vielseitig, sondern auch wagemutig werden und Freude an Bäumen und der Arbeit mit ihnen gewinnen. "Bäume sind ein wunderbares Gemeingut. Überall kann man sich über sie freuen, ohne einen Cent zu bezahlen.«

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 4/2012

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