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Mikroben im Dienst unserer Gesundheit

Warum ein guter Keim nicht immer ein toter Keim sein muss: Kahlschlag unter unseren mikrobiellen Mitbewohnern kann gefährlichen Erregern den Weg bereiten.

Vor ein paar Jahren erfuhren Millionen Leser aus dem gleichnamigen Buch einer jungen Medizinstudentin, dass der »Darm mit Charme« daherkommen kann. Ob das Image des Verdauungstrakts dadurch tatsächlich dauerhaft aufpoliert wurde, sei dahingestellt. Die entscheidende Lektion für die Buchverlage wirkt aber bis heute nach: Es dürfen nun auch vermeintliche Ekelthemen angepackt werden, wenn sie nur flapsig genug präsentiert, packend erzählt und niedlich genug bebildert sind.

Und auf dem Cover geht ohne Reim natürlich gar nichts. Auch wenn es knirscht wie bei »Ein Keim kommt selten allein«, dem Titel dieses Werks. Der Autor Markus Egert arbeitet nach einigen Jahren in der Hygiene- und Kosmetikindustrie nun als Professor für Mikrobiologie und Hygiene in Furtwangen. Bekannt wurde er in den Medien – bis hin zur »New York Times« – für seine Arbeiten zur mikrobiellen Besiedlung von Küchenschwämmen. Zur stilistischen Verstärkung hat Egert den »Spiegel«-Redakteur Frank Thadeusz an Bord geholt.

Schurken aus dem Reich der Mikroben

Es fehlt also weder an fachlicher noch an schreiberischer Expertise, wenn die Autoren die Evolution der Mikroben, deren extreme Fähigkeiten, unser Zusammenleben mit ihnen und nicht zuletzt unsere fruchtlosen Versuche beleuchten, ihnen den Garaus zu machen. »Wie Mikroben unser Leben bestimmen und wie wir uns vor ihnen schützen«, lautet der Untertitel des Buchs, und die Autoren liefern hier einen guten Überblick, auch wenn zuweilen mehr Tiefgang hilfreich wäre. Arg beliebig gerät das »Most Wanted«-Kapitel zu den »Meistgesuchten Schurken aus dem Reich der Mikroben (die Ihnen auch zu Hause begegnen können)«.

Zu den »Top Ten der widerlichsten Keime« gehört hier das Bakterium Staphylococcus aureus, das auch bei vielen gesunden Menschen Haut und Schleimhaut besiedelt und damit zwangsläufig in den eigenen vier Wänden vorkommt. Aber macht es das zu einem Haushaltskeim? Nach jener Logik fiele jeder menschliche Erreger in diese Kategorie. Noch rätselhafter ist die Nominierung von Madenwürmern und der exotischen Krätzmilbe, beides keine Mikroorganismen. Wie zum Ausgleich haben dafür in den Illustrationen die echten Keime Kulleraugen, oft auch Beinchen – oder tragen Partyhüte.

Solche Gimmicks wären gar nicht nötig, denn die Autoren haben eine brandaktuelle Botschaft. Egerts Disziplin durchläuft gerade einen Paradigmenwechsel. Nach der klassischen Hygiene war nur ein toter Keim ein guter Keim. Mittlerweile wissen wir aber, dass die meisten Mikroben nicht nur harmlos, sondern sogar nützlich für unsere Gesundheit sind. Manche leben als Dauermieter in unserem Organismus. Andere bekämpfen Erreger oder besetzen einfach wie beim Kinderspiel »Reise nach Jerusalem« alle Nischen im Ökosystem Mensch, so dass sich gefährliche Keime nur schwer ansiedeln können.

In beiden Fällen empfiehlt sich der mikrobielle Kahlschlag also nicht. Antibiotika sind millionenfache Lebensretter, sollten jedoch mit Bedacht eingesetzt werden, weil sie ebenso unserem eigenen Mikrobiom (der Gesamtheit der uns besiedelnden Mikroben) zusetzen. Auch im Haushalt gilt von der Küchentheke bis zur Klobrille – und hier hält Egert viele launige Anekdoten und praktische Tipps parat –: Ein übertriebener Putzfimmel kann gefährlichen Erregern das Feld frei machen und sie sogar aufrüsten lassen. Keimfreie Verhältnisse kann es unter normalen Umständen ohnehin nicht geben, sie sind aber auch gar nicht ratsam.

Vielleicht werden künftig aggressive Reinigungsmittel durch maßgeschneiderte Mikroben-Mixe ersetzt werden, die sich zu Hause und beispielsweise im Krankenhaus verteilen lassen, um beim Menschen ein möglichst förderliches Mikrobiom zu kultivieren. Die einschlägige Forschung arbeitet an diesen und anderen spannenden Ansätzen, wird hier aber eher beiläufig erwähnt. Vielleicht tun sich die Autoren künftig noch einmal zusammen und erzählen dann mit etwas längerem Atem, wie eine zeitgemäße Hygiene aussehen könnte.

Im allerletzten Absatz wünscht sich Egert eine neue Definition seines Fachs: »Und zwar als Wissenschaft und Lehre vom aktiven Mikroben-Management – und nicht nur als das Abtöten von Keimen zur Vermeidung von Krankheiten.« Unser Mikrobiom spielt eine ungeahnt zentrale Rolle im Organismus, Antibiotika versagen, und unbekannte Erreger tauchen auf, während altbekannte Pathogene jederzeit zurückkehren können. Wie also lässt sich ein maßvoller Umgang mit unseren mikrobiellen Mitbewohnern gestalten? Auf diese Frage sollten wir uns alle möglichst bald einen Reim machen. Das Buch liefert Anregungen hierfür.

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