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»Wildnis«: Wegweiser zu einer neuen Wildnis

Warum in Europa nicht der Wald, sondern vor allem offene Landschaften so wichtig sind, stellt Jan Haft anschaulich dar.
Schmetterling an einer Wildblume

Was ist Wildnis? Genügt es, dass die Natur frei ihre Kräfte entfalten kann, ungestört von menschlichen Einflüssen? Wie können wir eine große Artenvielfalt sichern oder wiederherstellen? Diesen Fragen geht der Biologe und Naturfilmer Jan Haft in seinem Buch nach. Viele von uns, so schreibt er, nehmen insbesondere den Wald als ursprüngliche Natur wahr. Und tatsächlich wachsen auf Flächen, auf denen wir Menschen der Natur ihren Lauf lassen, über kurz oder lang dichte Wälder. Lange ging die Forschung zudem davon aus, dass Europa ursprünglich, bevor es von Menschen geprägt wurde, überwiegend bewaldet war.

Doch warum ist dann die Artenvielfalt im Schatten der hohen Bäume vergleichsweise gering? Warum tummeln sich Insekten, Reptilien und zahlreiche andere Tiere oft eher in menschlich geprägten Landschaften wie Kiesgruben, Viehweiden oder Truppenübungsplätzen, ebenso wie es dort eine größere Vielfalt seltener Pflanzen gibt? Auf der Suche nach Antworten hat der Autor zahlreiche Fachleute befragt. Diese bestätigten seinen Eindruck: Von den in Europa heimischen Tier- und Pflanzenarten sind die meisten nicht an Wälder, sondern an offene Landschaften angepasst. Selbst große Waldbäume wie die Eiche würden in einem dichten Wald ohne Förster nicht überleben. Denn die jungen Sprösslinge brauchen Sonnenlicht, das ihnen in einem wild wachsenden Wald von den älteren Bäumen genommen wird. Nur wenn einer der Riesen stürzt und eine Lücke ins Blätterdach reißt, haben sie kurz eine Chance – werden jedoch selbst dann rasch von Buchen überwuchert, deren Nachwuchs auch im Schatten gedeiht und bereits in den Startlöchern steht.

Das fehlende Sonnenlicht im Wald ist auch ein Problem für den weitaus überwiegenden Teil der Insekten, Amphibien und Reptilien. Selbst von den heimischen Vögeln brauchen Expertenaussagen zufolge neun von zehn das Offenland, um zu überleben und sich zu vermehren. Ebenso sind die meisten Säugetiere an offene Landschaften angepasst – auch wenn sie sich in der heutigen Zeit oft in die Wälder als letzten Rückzugsort vor dem Menschen flüchten. Egal welche Gruppe von Lebewesen man betrachtet – seien es Tiere, Pflanzen oder Pilze: Für alle gilt, dass nur ein winziger Bruchteil der Arten auf den Wald als Lebensraum angewiesen ist oder auch nur dort überleben kann. In einem hypothetischen Szenario, in dem wir ganz Europa von Wäldern überwachsen lassen, würden Tausende von Arten aussterben.

Was fehlt also, damit sich in Europa eine funktionierende Wildnis entwickeln kann, in der eine große Artenvielfalt Platz findet? Neue Forschungen über die Vergangenheit Europas liefern entscheidende Hinweise. Demnach war Europa früher keineswegs von Wäldern überwuchert, sondern bot abwechslungsreiche offene Landschaften. Erhalten blieben diese dadurch, dass große Pflanzenfresser wie Mammuts und Auerochsen die Flächen beweideten und so dafür sorgten, dass sie nicht zuwuchsen. Nachdem die Menschen diese Großtiere ausgerottet hatten, übernahmen Nutztiere wie Rinder und Pferde ihre Aufgabe. Doch seit wir diese in die Ställe oder eng umgrenzte Weiden verbannt haben, fehlt ein elementarer Baustein des ehemals funktionierenden Ökosystems.

Auf einer Reise durch Europa hat der Autor Orte besucht, wo noch wilde Weidelandschaften existieren, wie in ländlichen Regionen Rumäniens, oder wo sie im Rahmen von Forschungsprojekten wiederhergestellt werden, etwa in Dänemark. Anschaulich beschreibt er, wie dort eine außergewöhnliche Artenvielfalt gedeiht und welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit sie erhalten bleibt. Anhand von Forschungsergebnissen verdeutlicht er zudem, dass Weideland nicht nur für die Artenvielfalt, sondern auch für den Klimaschutz wertvoller sein kann als Waldflächen.

Mit seinem Buch plädiert Haft für ein neues Verständnis von Wildnis – eine Wildnis, die nicht nur aus Wald besteht, sondern von großen Weidetieren offengehalten wird, und in die der Mensch durchaus steuernd eingreift, um einen reichhaltigen Lebensraum für eine Vielzahl von Arten zu sichern.  

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