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Das lebensrettende Häkchen auf dem Papier

Medizin und Luftfahrt haben viele Gemeinsamkeiten. In beiden Bereichen stehen lang ausgebildete und gut bezahlte Menschen einem hohen Maß an Komplexität gegenüber, und menschliche Fehler können weit reichende Folgen haben. Aber es gibt einen auffälligen Unterschied: Fliegen ist wesentlich sicherer als ein Aufenthalt im Krankenhaus. Insbesondere sind Fluggäste sehr viel seltener Opfer eines Fehlers als Patienten. Die bekannteste Dokumentation ärztlicher Behandlungsfehler und Fahrlässigkeiten, ihrer hohen Häufigkeit und ihrer schweren Folgen ist die "Harvard Medical Practice Study". Die erschreckenden Ergebnisse stehen in starkem Kontrast zur beeindruckenden Sicherheit der modernen Luftfahrt.

Wie lässt sich dieser Unterschied erklären, und was können Krankenhäuser von Fluggesellschaften lernen? Atul Gawande, hauptberuflich Chirurg am Klinikum der Harvard University, sieht die wesentliche Ursache in einem unterschiedlichen Umgang mit Komplexität. Während sich die Mediziner darauf verlassen, dass einzelne Menschen den Überblick über die im Zweifelsfall lebenswichtigen Details der Behandlung behalten, haben die Flieger erkannt, dass dieser Anspruch nur mit einem strukturierten Herangehen und Hilfsmitteln erfüllbar ist. Herzstück des zweiten Ansatzes ist die Checkliste.

Den Einstieg ins Buch bilden ein Bericht aus der frühen Luftfahrt und einer aus der modernen Medizin. Anhand des Absturzes einer Militärmaschine aus dem Jahr 1935 zeigt Gawande sowohl die Unsicherheit und Anfälligkeit für menschliches Versagen der frühen Flugzeuge als auch die Konsequenzen, die seinerzeit aus dem Absturz gezogen wurden. Letztere, insbesondere die Einsicht, dass das Problem nicht im menschlichen Versagen, sondern in der technischen Komplexität moderner Flugzeuge liegt, führten auf lange Sicht zu der erfolgreichen checklistengestützten Sicherheitsstrategie der modernen Fluglinien.

Das Beispiel der Rettung eines Mädchens, das unter Eis geriet und erst nach mehreren Minuten an die Luft geholt werden konnte, zeigt die Möglichkeiten der Medizin in hochkomplexen Situationen, wenn klare und im Voraus geübte Algorithmen verwendet werden.

Die zwei wichtigsten Botschaften finden sich bereits am Anfang des Buchs. Erstens: Checklisten funktionieren. Zweitens: Komplexe Systeme können sich ändern.

Eine der Hauptfiguren des Werks ist Peter Pronovost, ein Intensivmediziner und Public-Health-Spezialist am Johns Hopkins Hospital in Baltimore, der sich zum Ziel gesetzt hat, mit Hilfe von Checklisten die Häufigkeit der durch Zentralvenenkatheter verursachten Infektionen zu vermindern. Diese sind auf Intensivstationen häufig und für die ohnehin kritisch kranken Patienten oft lebensbedrohlich. Pronovost konnte mit multizentrischen (in verschiedenen Zentren durchgeführten) Studien zeigen, dass sich diese Infektionen fast gänzlich verhindern lassen, wenn Ärzte und Schwestern den Arbeitsschritten einer einfachen Checkliste folgen. Ein klinisches Problem von hoher Relevanz stellte sich also als weit gehend vermeidbar heraus, ohne dass hierfür mehr nötig war als fünf abzuhakende Punkte auf einem Papier. Allerdings muss die Leitung des Krankenhauses ideell wie materiell hinter dem Projekt stehen.

Anhand weiterer Beispiele aus dem Bauwesen, dem Investmentbanking und nicht zuletzt wieder aus der Zivilluftfahrt variiert Gawande sein Thema, immer mit demselben Ergebnis. Trotz aller Widerstände bei der Einführung – vor allem von Seiten des Establishments – ist der strukturierte Ansatz mit Minimierung der möglichen Fehler durch menschliches Versagen der herkömmlichen Einzelkämpferstrategie weit überlegen.

Allerdings müssen Checklisten gut konstruiert sein, um einen positiven Effekt zu haben. Ihre Entwicklung und vor allem Erprobung sind schwierig, ressourcenintensiv und langwierig. Schlecht auf die Realität abgestimmt, helfen sie nicht, sondern vergrößern nur den bürokratischen Aufwand.

Dieser Umstand spielt eine große Rolle im zweiten Abschnitt des Buchs, in dem der Autor seinen eigenen Versuch beschreibt, mit Hilfe der WHO eine Checkliste in verschiedenen Krankenhäusern weltweit einzuführen. Die wichtigsten Resultate: Checklisten reduzieren Komplikationen in Neuseeland ebenso wie in Tansania oder Indien, und zwar nicht nur in komplexen Situationen, sondern auch bei scheinbar gut beherrschbaren Routineabläufen. Sie werden – nach teilweise erheblicher anfänglicher Skepsis – von Schwestern und Ärzten gut akzeptiert und lassen sich einfach in den Arbeitsablauf integrieren. Diese eindrucksvollen Ergebnisse stehen jedoch am Ende eines detailliert beschriebenen, mühsamen Prozesses von Versuch, Irrtum und Verfeinerung.

Die Themen Standardisierung, Ergebnisqualität und "Performance" spielen in den Publikationen Gawandes eine zentrale Rolle. Sehr lesenswert hierzu sind unter anderem seine Artikel im "New Yorker" zur Entwicklung des Apgar- Index – einer Maßzahl zur Beurteilung des Allgemeinzustands von Neugeborenen –, zu den Mukoviszidose-Programmen in den USA und zum Vergleich zwischen Mensch und Computer bei der Herzinfarktdiagnostik. (Diese Artikel sind auch in seinen Büchern "Complications" und "Better" zu finden.) Seine stets differenzierte und lebensnahe Haltung steht eindeutig für mehr Messung und Transparenz, auch wenn sich möglicherweise hierdurch die Praxis der Medizin ändern sollte.

In diesem Sinn sollte auch "Checklist- Strategie" gelesen werden: nicht als unvoreingenommene Beschreibung einer interessanten Technik, sondern als klare, durchaus parteiliche Befürwortung einer Vorgehensweise (der Originaltitel lautet "The Checklist Manifesto"), die der Autor für eine entscheidende Verbesserung der modernen Medizin hält.

Trotz einiger Längen und einer großen Zahl an Fachausdrücken halte ich das Buch für gelungen. (Gawande hat Besseres geschrieben; vor allem seine Artikel im "New Yorker" sind deutlich knackiger.) Was lässt sich nach der Lektüre festhalten? Die Checkliste ist ein Instrument, das nachweislich viele Leben retten kann, eine verhältnismäßig einfache Intervention mit bedeutendem, klar messbarem Nutzen. Dieser wird noch zunehmen, wenn das Alltagsgeschäft der Medizin sich weiter spezialisiert und auf viele verschiedene und häufig wechselnde Behandler verteilt.

Aus meiner eigenen Situation (Arzt am Anfang seiner Laufbahn) kann ich Gawandes Begeisterung uneingeschränkt nachvollziehen. Alles Strukturierte wie Algorithmen oder Checklisten ist eine unentbehrliche Hilfe. Wenn man ohne arbeitet, vergisst man immer etwas – vor allem wenn man, wie meistens, nicht alles von Anfang bis Ende selbst macht. Gerade wenn ein problematischer Patient, eine schwierige Krankheit und ein ungünstiger Verlauf zusammenkommen, ist eine Checkliste sehr hilfreich, um sicherzugehen, dass man alles Naheliegende auch wirklich gemacht oder erwogen hat, bevor man an etwas Seltenes denkt, etwas Riskantes unternimmt oder sagt, dass man nichts tun kann.

Angesichts der bewiesenen Vorteile erscheinen die möglichen Gefahren und Nachteile sehr viel spekulativer und schwerer messbar, aber gleichwohl von großer Bedeutung. Die Bedenken ähneln frappant denjenigen, die gegen die "evidenzbasierte Medizin" vorgebracht werden. Werden sich Ärzte in Zukunft mehr um ihre Checklisten als um das Patienteninteresse kümmern? Werden die Teile der Behandlung und des Arzt-Patient-Verhältnisses, die schwer operationalisierbar sind, ins Hintertreffen geraten? Werden sich von einer checklistenbestimmten Medizin Menschen angezogen fühlen, die mit Clipboards besser umgehen können als mit echten Patienten? Dem lässt sich entgegnen, dass eine Checkliste die Erledigung der medizinisch-technischen Details so weit vereinfachen kann, dass Ärzte und Schwestern mehr Zeit für die Beschäftigung mit dem kranken Menschen haben.

Welcher dieser Aspekte letztlich überwiegen wird, ist unmöglich zu sagen, solange die Checkliste nicht wesentlich mehr ist als eine viel versprechende Idee. Gawandes Buch zeigt, wie diese Idee Realität werden könnte. Einen ernsten Versuch hat sie sicher verdient.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 05/2013

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