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Grundlagen für eine unmögliche Diskussion

Diskussionen scheitern häufig da­ran, dass es den Diskutanten zwar nicht an Engagement, aber dafür an grundlegendem Wissen mangelt. Gerade bei prominenten Themen hat auf Grund der Berichterstattung aller Medien jeder eine Meinung, bei komplexen Sachverhalten aber oft nur minimale Informationen.

Kernenergie ist im Kontext von Politik, Kriegen, Energiegewinnung, Klimawandel und Langzeitfolgen extrem komplex. Gerade deshalb ziehen sich Befürworter wie Gegner gerne auf einfache Standpunkte zurück – mit der unangenehmen Folge, dass von dort aus keine sachliche Auseinandersetzung mehr stattfinden kann.

In "Das nukleare Zeitalter" setzt sich Dirk Eidemüller zum Ziel, "zu einer nüchternen Abwägung der gesellschaftlich relevanten Aspekte der Kernenergie beizutragen", mit Betonung auf "nüchtern". Der studierte Kern- und Teilchenphysiker hat das Buch mit einer thematisch geordneten Literaturliste, einem Glossar und einem Sachwortverzeichnis ausgestattet, es ist somit durchaus auch als Nachschlagewerk geeignet.

Ein Jahr nach Fukushima strahlt die Atomdebatte wieder kräftig in die Gesellschaft. Beide Seiten haben gültige Totschlagargumente: Die Gegner weisen mit Recht darauf hin, dass radio­aktiver Müll der Menschheit noch für Jahrtausende eine Bürde auferlegt, die nur schwer zu rechtfertigen ist. Die Befürworter haben auf ihrer Seite, dass drei Kilogramm Uran so viel Energie liefern wie 8000 Tonnen Braunkohle und dabei kaum klimaaktives CO2 ausstoßen. Da Kohle im Übrigen ebenfalls geringe Mengen radioaktiven Materials enthält, stößt ein Kohlekraftwerk im Normalbetrieb in etwa gleich viel Strahlung aus wie ein Kernkraftwerk.

Ist es bei dieser Ausgangslage tatsächlich hilfreich, beim Aufbau des Atoms zu beginnen, Energiegewinnungsformeln wiederzugeben und den Aufbau der Reaktortypen im Detail vorzustellen? Der Autor sieht es jedenfalls so, und bei der Lektüre aufblitzende Zusammenhänge bestätigen ihn: Spätestens wenn es darum geht, ob abgebrannte Brennstäbe wiederaufbereitet oder endgelagert werden sollen, merkt der Leser, dass der gedankliche Weg von grundlegenden Kenntnissen zu weit reichenden Entscheidungen erstaunlich kurz ist. Solche Zusammenhänge sind eben nur zu erkennen, wenn die Grundlagen vorgestellt werden.

"Das nukleare Zeitalter" hält neben den Basics durchaus auch überraschende Munition für die Gegner bereit, beispielsweise das Versicherungsproblem von Kernkraftwerken: Keines ist gegen einen großen Störfall versichert, da einerseits das Risiko nicht kalkuliert werden kann und andererseits keine Versicherungsgesellschaft für die enormen Schäden im Fall eines GAUs aufkommen könnte. "Für Katastrophen haftet die Gesellschaft." Die negativen Folgen des Uranabbaus haben in erster Linie indigene Völker zu tragen, 70 Prozent des Abbaus finden auf ihrem Boden statt. Es bleiben ihnen jedoch meist nur die Schäden; den Gewinn machen die Konzerne, die sich den Grund und Boden der meist armen Bevölkerung billig angeeignet haben.

Der Autor schlägt einen sachlichen Ton an; umso irritierender wirken daher die gelegentlich eingestreuten Zeilen, die Meinungsinhalte transportieren – beispielsweise wenn Eidemüller kurz über den Natur- oder Zivilisationsbegriff bei indigenen Völkern spekuliert. Oder wenn er im Abschnitt über Atomwaffen die Spieltheorie auf knappen drei Zeilen abtut und erschreckend oberflächlich über das Gleichgewicht des Schreckens schreibt. Der weitere historische Abriss über die Entwicklung der Atommächte zeigt dann wieder in aller Nüchternheit, dass das nukleare Zeitalter auch lange nach dem Kalten Krieg noch das Potenzial hat, einen explosiven Abgang hinzulegen.

Der Anspruch des Werks ist in jeder Hinsicht lobenswert. Ich bezweifle allerdings, ob ein trockenes Faktenwerk mit der Anmutung eines pädagogisch nicht aufbereiteten Schulbuchs genügend Leser findet, um die Debatte auf ein höheres Niveau zu heben. Und noch ein Fazit: Mehr über das nukleare Zeitalter zu wissen, ist leider keinesfalls beruhigend.

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  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 7/2012

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