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Abenteuer im ewigen Eis

Es ist ein wahrhaft abenteuerliches Thema, dem sich Erhard Oeser – von 1972 bis 2006 Professor für Philosophie und Wissenschaftstheorie an der Universität Wien – auf mehr als 200 Seiten in seinem Buch "Die Jagd zum Nordpol" widmet. Von Erik dem Roten über Willem Barents und John Franklin bis hin zu Roald Amundsen und Umberto Nobile reicht die Liste der Männer (es sind ausschließlich Männer), deren Schicksal Oeser, gestützt auf Reiseberichte, Briefe und Tagebücher, vor uns ausbreitet.

Obwohl von der wissenschaftlichen Buchgesellschaft herausgegeben, ist das Buch keine wissenschaftliche Untersuchung. Zwar formuliert Oeser im Vorwort eine These, die er mit seiner Arbeit belegen möchte ("...diese Erzählungen der Polarfahrer [sind] weniger als Tatsachenberichte, sondern als subjektive Erlebnisberichte zu betrachten"), doch schon die Aufmachung zeigt, dass wir es hier nicht mit einer wissenschaftlichen Arbeit im engeren Sinne zu tun haben: keine Anmerkungen, Zitate meist nicht aus den Originalwerken und eine Bebilderung, die eher an ein Jugendbuch aus der Karl-May-Schule erinnert.

Nein, hier regiert nicht die Wissenschaft, sondern die Lust am Abenteuer – eine Lust, die Oesers Werk nicht zum Nachteil gereicht. Denn es ist spannend, was der Erzähler (der Begriff scheint hier berechtigt) vorzutragen weiß: Vom Schicksal des Admirals Franklin, der mit seinen beiden Schiffen "Erebus" und "Terror" in der Eiswüste des Polarmeeres verschwand und noch Jahrzehnte nach seinem Verschwinden die Öffentlichkeit auf beiden Seiten des Atlantiks so beschäftigte, dass Schiff um Schiff zur Suche nach ihm und seinen unglücklichen Gefährten ausgeschickt wurde. Von dem US-Kavallerieleutnant Adolphus W. Greely, der die Toten seiner in einem Hungerwinter endenden Polarexpedition in versiegelten Särgen in die Heimat transportieren ließ – und doch nicht verhindern konnte, dass die eindeutigen Spuren von Kannibalismus an den Toten der Öffentlichkeit bekannt wurden. Oder von dem schwedischen Ingenieur Salomon August Andrée, der sich im Juli 1897 mit zwei Gefährten an Bord eines Ballons zum Nordpol aufmachte – und dessen Leiche erst mehr als drei Jahrzehnte später in seinem letzten Biwak an der Seite seiner Kameraden gefunden wurde.

All das ist spannend genug erzählt und vermittelt dem Leser ein eindrucksvolles Bild von den Strapazen und Leiden der Polarforscher. Und doch wäre es mitunter wünschenswert, wenn der Autor den Blick etwas stärker über die Selbstzeugnisse der Polfahrer hinaus erheben würde. Etwa im Fall von Robert Peary, dessen Behauptung, 1909 als erster Mensch den Nordpol erreicht zu haben, heute praktisch als widerlegt gelten kann. Gerade Pearys Aufzeichnungen sind mit großer Vorsicht zu genießen: So legen etwa die behaupteten grotesk großen Tagesleistungen vor allem beim Rückmarsch nahe, dass er den Nordpol niemals erreicht hat.

Dass Peary auf der letzten Etappe zum Pol ausgerechnet den Kapitän seines Forschungsschiff, Robert Bartlett, zurückließ, hatte auch sicher nicht den von Oeser vermuteten Grund, dass Peary den Ruhm der Polentdeckung für sich allein haben wollte – immerhin blieben fünf Begleiter an der Seite des Polarforschers. Der wahre Grund dürfte darin liegen, dass Bartlett als einziger neben Peary einen Sextanten bedienen konnte – und damit ein Betrug Pearys unweigerlich aufgeflogen wäre.

Doch solche Schwächen verzeiht man dem Werk ebenso wie die mitunter etwas langatmigen Zitate aus den Originalwerken. Leser, die in der Polarwelt weniger heimisch sind, werden allerdings das Fehlen von Karten bedauern. Hier sollte der Verlag bei einer Neuauflage Abhilfe schaffen. Dafür besticht das sorgfältig geführte Register ebenso wie das Literaturverzeichnis, das genügend Stoff für eine Vertiefung der Materie bietet.

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