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Mathematik und Moral - Was Menschen zu Menschen macht

Am Anfang steht ein Rätsel: Wenn der Mensch ungefähr 99 Prozent seiner Gene mit dem Schimpansen gemeinsam hat – das ist etwa so viel wie Maus und Ratte oder wie Pferd und Zebra teilen –, woher kommt dann der riesige Unterschied bei den kognitiven Fähigkeiten?

Michael Tomasello, Psychologe, Primatenforscher und Kodirektor am Max-Planck-Institut für Evolutionäre Anthropologie in Leipzig, macht dafür eine kleine, aber besonders wirksame artspezifische Anpassung des Menschen dafür verantwortlich: die Fähigkeit, sich mit Artgenossen zu identifizieren und sie als Akteure mit eigenen Wünschen und Überzeugungen, Ängsten und Absichten zu verstehen.

Nichtmenschliche Primaten, so Tomasello, leben in einer Welt von Folgebeziehungen: Passiert das eine, geschieht auch bald das andere. Doch sie sehen dahinter keine verborgenen Kräfte am Werk: keine Kausalität bei Gegenständen, keinen Geist bei ihren Artgenossen. Und weil sie diese Kräfte nicht kennen, können sie auch nichts unternehmen, um sie zu beeinflussen. So versuchen Affen nicht – wie es schon menschliche Säuglinge fertig bringen –, die Aufmerksamkeit von Artgenossen auf etwas zu lenken. Sie zeigen nicht auf interessante Gegenstände, führen ihresgleichen nicht an diese heran. Und entgegen einer weit verbreiteten Meinung unterrichten sie auch ihren Nachwuchs nicht. Wenn Makakenkinder dabei sitzen, wenn ihre Mütter Kartoffeln waschen, lernen sie etwas darüber, wie man mit diesem speziellen Gemüse umgehen kann. Die Beweggründe der Mutter erfassen sie dabei aber keineswegs.

Die Fähigkeit, das Verhalten der Artgenossen durch deren Wünsche und Überzeugungen zu erklären, übertrugen die Menschen auf unbelebte Gegenstände und erwarben so einen Begriff von Kausalität. Dafür sprechen nach Tomasello animistische Naturerklärungen ebenso wie Studien über die Körperbezogenheit unserer Sprache und unserer Metaphern. Die Kenntnis von Kausalität und Intentionalität ermöglichten, was Tomasello den Wagenhebereffekt nennt: Menschen können Handlungen nicht nur imitieren; sie können sie modifizieren und verbessert an die nächste Generation weitergeben. Dies ist die Grundlage von Kultur und damit derjenigen Errungenschaft, die es den Menschen erlaubte sich in nur 250000 Jahren kognitiv meilenweit von den anderen Primaten zu entfernen.

Die Fähigkeit, natürliche Psychologie zu betreiben, erwirbt kein Kind für sich allein. Erst in der Kommunikation mit anderen lernt es, Annahmen über deren innere Antriebe zu machen. Missverständnisse beim Sprechen lernen sind dabei ebenso hilfreich wie Streitigkeiten unter Geschwistern. Was könnte einem deutlicher vor Augen führen, dass andere sich vor allem dadurch auszeichnen, dass sie andere Wünsche und Absichten haben als man selbst? Mit der Sprache lernen die Kinder Ereignisse zu beschreiben und aus einer anderen Perspektive als der eigenen zu betrachten. Sie schafft die nötige Distanz, um Mathematik und Moral zu entwickeln.

Genetische Ausstattung, Individualentwicklung und Kultur müssen demnach zusammenwirken, damit die spezifisch menschliche Form der Kognition entstehen kann. Versuche mit Affen, die in menschlicher Gesellschaft aufgewachsen sind, bestätigen diese These: Die Tiere zeigten bei den Tests der Verhaltensforscher deutlich bessere Leistungen als ihre Artgenossen; doch in Menschen verwandelten sie sich nicht!

Die Frage, wie Menschen es schaffen, andere als Wesen mit Wünschen, Überzeugungen, Ängsten und so weiter zu betrachten, ist noch lange nicht abschließend beantwortet. Doch Tomasello hat seine gut lesbare Geschichte der menschlichen Kognition vielseitig belegt. Mit Ergebnissen, die – nebenbei bemerkt – auf ausgesprochen tierfreundlicher Forschung beruhen, für die kein einziger Affe sein Hirn opfern musste.

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  • Quellen
Gehirn und Geist 1/2003

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